"MM"-Debatte

Sollte Deutschland die Sterbehilfe legalisieren, Frau Rosenberg?

In der Bundesrepublik sollte jeder Mensch das Recht haben, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, betont Buchautorin Martina Rosenberg. Ein Gastbeitrag.

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Martina Rosenberg
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Nach Aussagen des Präsidenten der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, ist Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe.

© Thinkstock

Januar im Jahr 2012. Ein Sohn beschließt, seine Mutter zu töten, die seit sieben Jahren im Wachkoma liegt. Ein Reitunfall der damals 40-Jährigen führte zu schweren Schädigungen im Großhirn. Der Sohn fährt ins Pflegeheim und erstickt sie mit einem Handtuch. Drei Jahre Haft wegen Totschlags. Keine Sterbehilfe, sagt später das Gericht, da die Frau nicht im Sterben lag. Sie hätte noch viele Jahre leben können. Zynismus oder Leben um jeden Preis?

Sommer 2013. Tochter und Ehemann einer Komapatientin versuchen, über das Betreuungsgericht in Chemnitz einen Behandlungsabbruch zu erwirken und scheitern letztlich beim Landgericht. Die Frau liegt seit fünf Jahren im Wachkoma und ist nicht mehr ansprechbar. Wie bei allen Wachkomapatienten ist das Großhirn geschädigt. Nur das Stammhirn, das für die wesentlichen Lebensfunktionen zuständig ist und Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung steuert, ist funktionsfähig. Die beiden sind sich sicher, so wollte sie nie leben. Sie kämpfen darum, die künstliche Ernährung einzustellen. Der Fall ging bis zum Bundesgerichtshof, der im Oktober 2014 ein überraschendes Urteil fällte.

Es wies die Richter an, den mutmaßlichen Sterbewunsch der Frau neu zu prüfen. Zu streng wären die bisherigen Anforderungen für die Feststellung des vermeintlichen Patientenwillens gewesen. Bisher waren die Angehörigen nämlich damit vor den Gerichten gescheitert. Mit diesem Urteil beginnt der Spießrutenlauf für sie aber wieder von vorne. Was für einen leidvollen Weg müssen die Angehörigen beschreiten? Sie streiten sich vor Gericht mit Ärzten, Richtern und Anwälten, um den würdigen Tod für einen geliebten Menschen durchzusetzen. Was für ein Leid müssen sie ertragen?

Michael de Ridder, Notfallmediziner und Bestsellerautor, fragt in einem "Spiegel"-Interview zu Recht: "Was ist so schlimm am Sterben?" Er ist einer der Ärzte in Deutschland, die sich gegen die immer weiter um sich greifende Sterbeverhinderungskultur stellen. In einem Buch zitiert er einen unbekannten Dichter, der nachdenklich stimmt: "Wer weiß schon, ob das Sterben nicht eigentlich das Leben und das Leben nicht eigentlich das Sterben ist."

Diese Frage sollten wir uns als Gesellschaft viel intensiver stellen. Insbesondere, wenn es darum geht, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. Nämlich dann, wenn sein Leben kein Leben mehr ist, sondern das Sterben verlängert wird.

De Ridder stellt in diesem Interview eine gängige Praxis in der Notfallmedizin in Frage, die Menschen wiederbelebt, obwohl klar ist, dass der Mensch keine Chance mehr hat. Doch nach welchen Kriterien soll der Arzt entscheiden, welches Leben erhaltenswert ist? De Ridder: "Wenn eine Behandlung hundertmal nicht erfolgreich war, dann sollte sie beim 101. Mal nicht mehr eingesetzt werden. Beispiel Wiederbelebung: Kein Gehirn überlebt ohne Sauerstoff länger als acht bis zehn Minuten. Wenn ich weiß, dass diese Zeit überschritten ist - der Patient hat weite Pupillen, ist praktisch klinisch tot -, dann sind meine Bemühungen sinnlos; es sei denn, ich finde es gut, mit 99-prozentiger Sicherheit Wachkomapatienten zu produzieren. Aber die Kollegen wehren sich mit aller Macht gegen solche Konzepte. Sie sagen: Man kann ja nie wissen! Es könnte ja sein, dass man einem von Hundert aufgrund besonderer Umstände doch noch zu einem sinnvollen Weiterleben verhilft."

An seiner Seite kämpfen viele andere Mediziner, wie beispielsweise Matthias Thöns. Er kennt viele Geschichten aus seinem Berufsalltag und geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, viele Menschen müssen leben, weil es finanziell lukrativ ist. Dabei dachte ich noch vor einem Jahr, viel schlimmer könne es nicht werden. Ich habe mich getäuscht, es wurde schlimmer. Die Bundesregierung hat letzten Herbst ein Gesetz verabschiedet, dass mit dem § 217 StGB den geschäftlich begleitenden Suizid unter Strafe stellt: "(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht."

Dass dieses Gesetz nicht zu Ende gedacht wurde, zeigt die Aussage des praktizierenden Palliativmediziners Matthias Thöns. Auf meine Frage hin, wie sehr ihn der § 217 betrifft, antwortet er: "Zusammengefasst äußert jeder vierte Palliativpatient am Lebensende ,vorzeitige Todeswünsche'. 100 Prozent brauchen starkwirksame Medikation (allein für Schmerz- und Atemnotfälle, letztere betreffen schließlich 90 Prozent der Sterbenden - ohne die Medikation erstickt man jämmerlich). Die starkwirksame Medikation verordnen wir jedem Sterbenden, nur so kann man sich zuhause bei Krisen helfen. Das entspricht zeitgemäßer Palliativmedizin und nur das ermöglicht es dem gesetzlichen Auftrag nach § 37 b SGB V nachzukommen, ,den Versicherten die letzte Lebensphase daheim zu ermöglichen'".

Sterbende als Geldquelle

Weiter schreibt er: "Und die Hysterie verhindert aktuell in einer Nachbarstadt angemessene Palliativversorgung: Dort rief mich ein Chefarzt der Schmerzmedizin an, die ambulanten Palliativmediziner würden wegen des § 217 keine Bedarfsmedikation mehr aufschreiben. Das wäre das Ende ambulanter Palliativmedizin, es geht zum Sterben wieder in die Klinik". Thöns macht keinen Hehl daraus, dass sich hier viel Geld verdienen lässt. Er selbst nennt es das "Sterbeverlängerungskartell".

Der gleiche Vorwurf kam von dem Sohn, der seine Mutter nach sieben Jahren Wachkoma tötete. "Wer verzichtet denn schon gerne auf 5000 Euro im Monat. Denen ging es doch nur um das Geld!", klagte er an. Doch niemand hinterfragte dies, denn der Gedanke allein erscheint ungeheuerlich. Kann es sein, dass es nur ums Geld geht?

Tatsächlich lässt sich mit einem Schwerstpflegebedürftigen viel Geld verdienen. Bis zu 22 000 Euro kann ein zuhause betreuter Intensivpatient pro Monat einbringen. Doch auch wenn es nicht um den Verdienst geht: Mit der Einführung des § 217 werden Ärzte, Pflegepersonal und Betreuer noch weniger Mut zum "Sterben lassen" haben. Besonders dann, wenn der Tod nicht kommen mag, die Palliativmedizin am Ende ist und der Mensch sich nichts Sehnlicheres wünscht, als den Tod. Weil er leiden muss. In diesem Moment wird niemand mehr den Mut haben zu helfen, weil er bereits den Atem des Staatsanwaltes im Nacken spürt.

Besonders erschreckend dazu ist auch die Aussage bei einer Pressekonferenz in Berlin am 12. Dezember 2014. Dort betonte Bundesärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery, dass die "Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung" aus dem Jahr 2011 noch Gültigkeit hätten. Er wolle bekräftigen, dass Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe sei. Wörtlich sagte er: "Wir brauchen den ärztlich assistierten Suizid nicht." Auf die Frage eines Journalisten, wer dann helfen könne, antwortete er: "Von mir aus soll es der Klempner oder wer auch immer machen, aber von den Ärzten gibt es keine klinisch saubere Suizidassistenz."

Dabei ignoriert er hartnäckig den Wunsch der Bevölkerung. Denn mehr als 70 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage zum Thema "(Ärztliche) Sterbebegleitung in Deutschland", befürworteten die Möglichkeit der ärztlichen Freitodhilfe. Wenn sich die Ärzte nicht verantwortlich fühlen und eine organisierte Form der Beihilfe zum Suizid durch den Paragrafen 217 verboten wurde, wer hilft dann den Leidenden? Müssen wir am Lebensende in die Schweiz oder nach Belgien reisen? Bleibt uns nur der Strick oder der Sprung aus dem Fenster?

Immer wieder sind Meldungen über entsprechende Gerichtsurteile zu lesen. Da gab es im November 2014 den Prozess in Augsburg, in dem der Vater sich und seinen Sohn mit Autoabgasen töten wollte. Sie wurden frühzeitig gefunden. Dennoch: Der Sohn starb, der Vater überlebte und stand im November vor Gericht. "Töten auf Verlangen" lautete die Anklage. Das Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, den Vater zwar schuldig zu sprechen, ihn aber nicht zu bestrafen.

Der Sohn, der seit der Geburt an einer spastischen Lähmung litt, die immer weiter über den Hals nach oben stieg, bat den Vater mehrmals, ihn zu töten. Weil er das Leiden seines Sohnes nicht mehr ertragen konnte, gab er dessen Wunsch nach. Das Gericht verurteilte ihn zu neun Monaten Haft auf Bewährung.

Keine Euthanasie

Wollen wir Menschen bestrafen, die ihren Liebsten das leidvolle Sterben erleichtern wollen? Kann die Politik wegdiskutieren, dass sich zwei Drittel der Menschen laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2014 für einen ärztlich begleiteten Freitod aussprechen? Es kann nicht länger ignoriert werden, dass die Menschen in Deutschland sich einen selbstbestimmten Tod wünschen. Das hat nichts mit staatlich organisierter Euthanasie zu tun, wie immer wieder behauptet wird.

Jeder sollte das Recht haben, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. Und wir als Gesellschaft haben die Pflicht, diesen Menschen dabei in Würde zu begleiten. Kein Mensch in Deutschland sollte gezwungen sein, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, oder gar seine Angehörigen bitten müssen, sich zu Straftätern zu machen. Auch für den eingangs erwähnten Sohn und seine Mutter wäre es richtig gewesen, ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Ein Sterben, bei dem alle Beteiligten ihren Frieden hätten finden können.

Martina Rosenberg

  • Martina Rosenberg, geboren 1963, ist freie Journalistin und Buchautorin.
  • 2005 ging sie als Presse-Referentin zum Bayerischen Roten Kreuz nach Bad Tölz. Nebenbei studierte sie Betriebswirtschaftslehre an der Akademie für Wirtschaft in Bad Harzburg.
  • 2012 erschien ihr Bestseller "Mutter, wann stirbst du endlich". Seit 2013 ist sie Pressesprecherin beim AWO Bezirksverband Oberbayern.

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