Deniz Yücel sitzt jetzt schon fast ein Jahr lang in einem türkischen Gefängnis – und mit ihm Dutzende Journalisten, die ihren Beruf professionell ausüben wollen, statt einer von Recep Tayyip Erdogans Hofschranzen zu werden. Tausende von Beamten, Richtern, Lehrern und Professoren haben ihre Jobs verloren, weil Erdogans Regime sie für unsichere Kantonisten hält und terroristischer Aktivitäten verdächtigt.
Derweil wollte die deutsche Regierung, die eigentlich im September abgewählt wurde und lediglich im Übergang die Geschäfte führt, also keine weitreichenden Entscheidungen treffen sollte, einmal mehr „großzügig“ Panzer und Waffenexporte an den Immer-noch-NATO-Partner Türkei genehmigen – jedenfalls bevor die Bilder der „Leoparden“ im deutschen Fernsehen auftauchten. Mit der Kampfkraft dieser in Deutschland hergestellten Panzer dehnt Erdogan soeben seinen Krieg gegen die Kurden ins verwüstete Nachbarland Syrien aus – übergangslos zu einem Zeitpunkt, als der andere Autokrat an Europas Ostgrenze, Wladimir Putin, sich gerade von dort zurückzieht.
Es ist indes nicht nur merkwürdig, wie in Deutschland und in der westlichen Welt, demokratische Regierungen vor Autokraten wie Erdogan oder Putin kuschen. Auch viele Medien verharmlosen sie – und vor allem die Wirksamkeit ihrer Propaganda. Experten, darunter nicht zuletzt Geheimdienstleute, registrieren diese Einflussnahme seit langem, verbleiben mit ihren Warnrufen allerdings weithin unterhalb der Schwelle öffentlicher Wahrnehmung. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass Journalisten wie übrigens nahezu jedermann und jedefrau oft der sogenannten „Kontrollillusion“ unterliegen: Sie glauben fest daran, sie würden Beeinflussungsversuche ihrer Arbeit zweifelsfrei erkennen.
Allerdings haben Journalisten ihre Schleusenwärter-Funktion bei der Herstellung von Öffentlichkeit verloren. Vor allem die sozialen Netzwerke, also zum Beispiel Facebook und Twitter, eignen sich bestens als Dreckschleudern, um Fake News und Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und Propaganda zu streuen – oftmals so schnell und breitenwirksam, dass seriöse Nachrichtenanbieter mit ihren grauschattierten Wirklichkeitsdarstellungen keine Chance haben.
Auch honorige Faktenchecker kommen mit ihren Berichtigungen nicht hinterher – oder erreichen dank der „Echokammern“, die sich im Netz bilden, nicht ihre Zielgruppen. Desinformation wirkt in unseren westlichen Gesellschaften obendrein oftmals als Spaltpilz – und das ist haargenau das, was vor allem mit Propagandaattacken intendiert ist.
Direkt und an den deutschen Medien vorbei erreichen die türkische und die russische Regierung obendrein ihre eigenen landsmannschaftlichen Minderheiten, die bei uns leben. Eine Vielzahl von Medienangeboten in der jeweils eigenen Sprache führt zu einer Dauer-Berieselung, die das Entstehen von nicht-demokratischen „Parallelgesellschaften“ in Deutschland begünstigen dürfte.
Hinzu kommt ein Geflecht englisch- und deutschsprachiger Angebote, wie sie etwa RT (vormals Russia Today) liefert. „Russlands RT Netzwerk – ist es eher wie die BBC oder wie der KGB?“ fragte Steven Erlanger in der New York Times. Seine Antwort ist differenziert, aber letztlich doch eindeutig: RT zu gucken, könne eine schwindelerregende Erfahrung sein. Hard news und erstklassige Infografiken mischten sich mit einem bunten Strauss von Interviews mit prominenten und unbekannten Leuten, mit Linken wie Rechten. „Zu den Favoriten gehören Leute wie Julian Assange von WikiLeaks und Noam Chomsky, der linke Kritiker westlicher Politik; skurrile Stimmen wie die der Schauspielerin Pamela Anderson sind darunter, aber auch Sonderlinge, die glauben, Washington sei die Wurzel allen Übels in der Welt.“ In einem Punkt sei man sich bei RT allerdings einig, und zwar „in der tiefen Skepsis gegenüber westlichen und amerikanischen Narrativen der Welterklärung, und in der fundamentalen Verteidigung Russlands und Putins“. Hinzu kommen Trolle und Social Bots, also „Roboter“, die Texte schreiben, teilen und liken können und mit ihren Botschaften die Kommentarspalten von Facebook und Twitter infiltrieren, und auf diesem Umweg oft auch die etablierten Medien.
Medien-Analytiker sind sich indes uneins über den Einfluss, den RT und vergleichbare Propagandasender ausüben. Wer nur auf die Einschaltquoten schielt, könnte Gefahr laufen, die Wirkung zu überschätzen. Doch so zu argumentieren, geht womöglich an der Sache vorbei, sagt Peter Pomerantsev.
Er hat vor zwei Jahren ein Buch über das russische TV- und Propagandaimperium geschrieben. Schon der Titel ist bemerkenswert und sagt alles: „Nothing Is True and Everything Is Possible: The Surreal Heart of the New Russia“ – „Nichts ist wahr und alles möglich. Das surreale Herz des neuen Russland“. „Es gehe bei RT nicht um Einschaltquoten, sondern um Kampagnen mit dem Ziel finanzieller, politischer und medialer Einflussnahme, so Pomerantsev . Man müsse RT im Zusammenspiel mit all den anderen Propagandaaktivitäten des Kreml sehen – und nicht den einzelnen Sender, sondern das Netzwerk würdigen, in das er als einer von vielen Knotenpunkten eingewoben ist.“
Der Krieg in der Ukraine war im Rückblick wohl das Exerzierfeld, um die Wirkungen der russischen Propaganda-Instrumente im Umgang mit den sozialen Medien zu testen. Zu diesem Schluss gelangt jedenfalls Natalia Antelava, die Chefredakteurin der Plattform Coda Story. Eine Gruppe engagierter Journalisten setzt sich dort jeweils vertieft mit einem Themenfeld auseinander. Zum Schwerpunkt „Informationskrieg“ hat Antelava eine Story beigesteuert, welche die russische Vorgehensweise bei der Krim-Annexion noch einmal im Detail nachzeichnet. Sie skizziert, wie der Kreml Schritt für Schritt seine „alternative Realität“ konstruiert und instrumentiert hat: von der Wiedervereinigung Russlands mit der Krim und den „selbst-organisierten Freiwilligen-Bataillonen“, die in Wirklichkeit – was Putin später zugab – russische Soldaten waren, bis hin zur Dämonisierung der ukrainischen Regierung als „faschistisch“ und zur Raketen-Attacke von Neo-Nazis in Donetsk, bei der ein zehn-jähriges Mädchen ums Leben gekommen sein soll. Dabei gab die russische TV-Truppe, die die Story erfunden hatte, hinterher gegenüber BBC-Reportern zu, dass dieses Mädchen „nie existierte“.
In Deutschland erhalten sich Autokraten wie Putin und Erdogan „in freundschaftlicher Verbundenheit“ Fürsprecher. Prominentestes Beispiel ist Altkanzler Gerhard Schröder, der Putin einmal einen „lupenreinen Demokraten“ nannte. Als Aufsichtsratschef des russischen Rosneft-Konzerns und als Berater der in Osteuropa sehr aktiven Schweizer Ringier-Mediengruppe übt Schröder obendrein ein Doppelmandat aus, das nicht frei von Interessenkonflikten sein dürfte. Verblüfft hat aber auch die Nähe zu Putin beim verstorbenen Ex-Bundeskanzler und Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt, sowie des vormaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, Matthias Platzeck. Weniger verwunderlich ist, dass sich linke wie rechte Populisten – genannt seien Sahra Wagenknecht und Marine LePen – seinen Sympathisanten zurechnen lassen.
Dass die Propaganda wirkt, war im Fall des Kreml nicht zuletzt bei der Brexit-Abstimmung und im US-Wahlkampf erkennbar. Ob es Putins Vasallen gelungen ist, nennenswert das deutsche Wahlergebnis zu beeinflussen, wissen wir nicht. Die hohen Zustimmungswerte der in Deutschland lebenden Türken zur Verfassungsreform, mit der Erdogan sein Sultanat festigte, sind indes gewiss seiner erfolgreichen Propagandawühlarbeit zuzuschreiben.
Sicher ist, dass Autokraten wie Putin und Erdogan überall dort, wo sie das Sagen haben, die Meinungs- und Pressefreiheit massiv einschränken. Unabhängiger Journalismus wird lebensgefährlich, weil es keine unabhängigen Gerichte mehr gibt, die die Medien vor Regierungs-Übergriffen schützen. Zu befürchten ist, dass auch die neue Groko zu wenig ihre Mittel nutzen wird, um die Putins und Erdogans dieser Welt in ihre Schranken zu verweisen – und auch, dass deutsche Medien weiterhin nur viel zu sporadisch deren Machtmissbrauch thematisieren.
Stephan Russ-Mohl
Stephan Russ-Mohl ist Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano in der Schweiz und leitet das European Journalism Observatory (www.ejo-online.eu).
Von 1985 bis 2001 war er Publizistik-Professor an der Freien Universität Berlin. Er studierte Sozial- und Verwaltungswissenschaften an den Universitäten München, Konstanz und Princeton.
Der Autor hat zeitweise in den USA und in Italien gelebt und mehrfach Forschungsaufenthalte an der Stanford University in Kalifornien verbracht.
Sein Buch „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet“ ist kürzlich im Herbert von Halem Verlag erschienen.
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