Debatte

Sind unsere Schulen bereit für Tausende Flüchtlingskinder, Frau Dietrich?

Zwischen 200 000 und 500 000 Kinder und Jugendliche flüchteten im vergangenen Jahr nach Deutschland. Werden wir es schaffen, sie erfolgreich in unser Schulsystem und später in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Vor uns liegt eine Herkulesaufgabe, schreibt

Von 
Ingrid Dietrich
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Schulanfang am Morgen in einer Vorbereitungsklasse: Zehn halbwüchsige Schüler betreten das Klassenzimmer. Dann erfolgt die gegenseitige Begrüßung auf Deutsch. Die Lehrerin drückt zwei Brüdern aus Afghanistan, die gerade neu in ihrer Klasse angekommen sind, eine Tabelle mit Druckbuchstaben in die Hand. Die 15 und 17 Jahre alten Jungen machen sich voller Motivation an die Arbeit. Man sieht, wie viele Schwierigkeiten es ihnen bereitet, neu schreiben zu lernen und die Schriftrichtung zu wechseln - denn in Persisch, der Sprache, in der sie alphabetisiert wurden, wird von rechts nach links geschrieben. Sie halten ihre Schreibhefte ziemlich verdreht vor sich, füllen aber die Reihen mit korrekten Buchstaben.

Eine Vorbereitungs- oder Willkommensklasse ist ein Sammelbecken für zehn bis 15 Schicksale von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Ländern, Kontinenten, mit unterschiedlichen Sprachen und Fluchtschicksalen. Alle diese andersartigen Lernvoraussetzungen und Lernstände im Mikrokosmos einer Klasse aufzufangen und zusammenzuhalten, ist eine Herkulesaufgabe für die Lehrkräfte.

Menschenrecht auf Bildung

Je nach Schätzung befinden sich unter den circa eine Million Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, zwischen 200 000 und 500 000 junge Menschen unter 25 Jahren. Sie haben nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen das Recht auf Bildung und Ausbildung - von der Kita bis zur Hochschule.

Schaffen wir das? Wie die verstärkte Einwanderung des vergangenen Jahres, so ist auch die Integration der Flüchtlinge ins deutsche Schulsystem mit Fragen und Zweifeln belastet. Es geht dabei nicht nur um die Bereitstellung von zusätzlichem Lehrpersonal und um die Schaffung von Auffang-Strukturen unter erheblichem Personal- und Finanzierungsbedarf, sondern um einen grundsätzlich neuen Bildungsbegriff, eine Öffnung für Internationalismus und Multikulturalität. Um das Recht auf Bildung zu verwirklichen, müssen die Betroffenen hier positiv aufgenommen werden.

Die augenblickliche Situation ist vielerorts ungenügend. Unicef sah schon 2014 in einer Studie das Menschenrecht auf Bildung und Ausbildung für Kinder von Asylbewerbern in Deutschland nicht gewährleistet: "Viele Flüchtlingskinder leben in Massenunterkünften - ohne Raum für Privatsphäre, ohne kindgerechte Ausstattung. Die Kinder erleben Rassismus oder auch Abweisung durch Anwohner."

Integration statt Selektion

Meist fangen dort die Probleme an, wo die Schulverwaltung und eine wenig informierte Öffentlichkeit sie schon gelöst glauben: nämlich mit der Einrichtung von Vorbereitungs- oder Willkommensklassen. Es ist illusorisch zu glauben, dass Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien in einem Schuljahr unter den momentan vorherrschenden Bedingungen Deutsch grundlegend lernen können. Dafür haben deutsche Kinder allein sechs Jahre vor dem Schuleintritt Zeit.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert einen Abbau der bürokratischen Hürden hinsichtlich einer zügigen Umsetzung der Schulpflicht (ab dem ersten Tag, spätestens drei Monate nach Ankunft). Integration läuft nur über Sprache - das wird überall wie ein Mantra wiederholt. Doch die Lehrpersonen, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten können und die für diese spezielle Aufgabe ausgebildet sind, stehen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Die Studiengänge dafür wurden in den vergangenen Jahren vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen eher ab- als ausgebaut.

Außerdem braucht es ein neues Berufsverständnis, ein Umschalten von Selektion auf Integration. Lehrer, die nichts anderes beherrschen als einen streng frontal gesteuerten Unterricht mit einheitlichen Leistungsüberprüfungen, sind für die neuen Herausforderungen durch die Flüchtlinge schlecht geeignet. Denn jeder Schüler braucht sein eigenes "Curriculum" in Klassen, in denen jugendliche Analphabeten neben Akademikerkindern aus Syrien oder Afghanistan sitzen. Wie mit den Extremen umgehen?

Hochmotivierte Aufsteiger neben traumatisierten Jugendlichen; Lehrer voller Engagement, die sich für "ihre" Flüchtlinge einsetzen und eine anspruchsvolle pädagogische Arbeit leisten (welche oft genug auch psychische "Erste Hilfe" oder Sozialarbeit einschließt); daneben pädagogische Flickschusterei, bei der die jungen Flüchtlinge am Rande des regulären Schulbetriebs vor sich hin dümpeln - diese Situation ist gefährlich, ruft Bildungsfrust, Schulverweigerung und Abgleiten in die Kriminalität hervor.

Versagen durch Überforderung

Außerdem droht eine Überforderung der Flüchtlingskinder, durch die erfolgreiche Schulkarrieren erschwert und auf breiter Front verhindert werden. Wenn sie nach nur einem Jahr in die Regelklassen überwiesen werden, können sie gerade mit Mühe und Not einfache Satzbaupläne beherrschen. Sie, die sich mit dem Erwerb eines überschaubaren Grundwortschatzes noch schwer tun, sollen dann mit den deutschen Schülern in den normalen Klassen gleichziehen. Das ist selbst für Hochbegabte und Hochmotivierte kaum zu schaffen.

Um ein massenhaftes Schulversagen der Flüchtlingsschüler zu vermeiden - wie es Jahrzehnte lang bei den Migrantenkindern in deutschen Schulen einfach hingenommen wurde - müssten verstärkte Anstrengungen unternommen werden. Es könnten ehrenamtliche Lernpaten in den Schulen selbst zum Einsatz kommen. Und es sollten objektivierte Sprachtests für die Grundschule und für die Sekundarstufe erarbeitet werden. Erst wenn die Kinder und Jugendlichen in der Lage sind, diese zu bestehen, sollte ein Übertritt in die Regelklasse erfolgen. Michael Stenger, der Gründer der SchlaU-Schule in München, der 2014 mit dem Integrations-Bambi für seine private Schule für allein eingereiste jugendliche Flüchtlinge ausgezeichnet wurde, betont: "Wir sind nicht ganz unbeteiligt an den Fluchtursachen, wenn ich an unsere Rüstungsindustrie und die Folgen der Rüstungspolitik denke." Solchen positiven Beispielen steht andernorts geballte Ablehnung gegenüber.

Deutsche Bildungsbürger etwa befürchten eine Absenkung des Sprach- und Wissensniveaus und schicken ihre Kinder in Privatschulen, wenn sich die Anzahl der Flüchtlingskinder an ihrer Schule häuft. Abgrenzung und Feindseligkeiten gegen Flüchtlinge durchziehen den Raum der Schule ebenso wie andere Bereiche des öffentlichen Lebens. Das deutsche Schulsystem, das laut den OECD-Untersuchungen seit PISA 2000 eines der selektivsten der Welt ist, was Schulerfolg und soziale Herkunft angeht, wird nicht auf einmal auf die freudige Integration von "Fremden" umschalten, die vermeintlich die deutsche Bildung ins Wanken bringen.

Trotz allem bin ich optimistisch. Warum? Wegen Hussein (Name geändert), dem brillanten jungen, allein geflüchteten Mann aus dem Irak, der seit zwei Wochen mit vollem Einsatz Deutsch lernt. Er sammelt mit Eifer und aus eigenem Antrieb deutsche Vokabeln auf Karteikarten, die er ständig zwecks Wiederholung bei sich trägt. Der Wille, es hier zu schaffen, steht ihm ins Gesicht geschrieben, und seine wache Intelligenz und sein unbedingter Lernwillen wird ihn dazu befähigen.

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