Zu meckern hat man ja immer was. Und, so viel ist sicher wie der Geist schwach ist: Das ist jetzt, kurz nach Neujahr, nicht gerade besser geworden. Ständig schluckt die Wirklichkeit die guten Vorsätze. Hatte man sich nicht an Silvester vorgenommen, die Weihnachtspfunde wieder loszuwerden, täglich joggen zu gehen und gleich zu Jahresbeginn Bewerbungen um eine neue Stelle abzuschicken? Stattdessen hat sich zu den Pfunden noch eins dazugesellt. Die Joggingschuhe stehen seit 2017 ungenutzt herum. Und für die Bewerbungen hat man noch nicht mal die Fotos gemacht. Jede Menge Gründe also, wieder mal ordentlich unzufrieden mit sich zu sein.
„Richtig so!“, rufen sie jetzt, die Vertreter der Leistungsgesellschaft. Klar, muss man unzufrieden mit sich sein, wenn sich die eigenen Vorsätze in eine umfassende Niederlage verwandelt haben. Wir kämen ja zu nix, wenn wir trotzdem zufrieden wären!
Zufriedenheit hat keinen guten Ruf. Sie gilt als die Stiefschwester des Glücks. Dabei ist das Zufriedensein doch, auf Dauer betrachtet, der beste Zustand, den man erreichen kann. Wie herrlich ist es – und wie gut für die Seele noch dazu –, wenn man am Ende des Tages feststellen kann, dass alles in allem gut gelaufen ist. Dass einem zwar jemand im Supermarkt die letzte Packung Milch vor der Nase weggeschnappt hat, dass man in der Verhandlung auf der Arbeit gerne schlagfertiger gewesen wäre und dass das Knie schon wieder schmerzt, aber dass man auch viele gute Erlebnisse, kleine Erfolge und fröhliche Situationen erlebt hat. Genug jedenfalls. Genug, um zufrieden zu sein.
Dies also ist ein Plädoyer für mehr Zufriedenheit. Aber, um gleich mal mit einem Vorurteil aufzuräumen: Natürlich kann es nicht das Ziel sein, ununterbrochen zufrieden zu sein mit sich und der Welt. In die weichen Sofakissen einzusinken und grunzend festzustellen, dass alles gut ist, wie es ist. Zweifellos kann man mit vielem auf diesem Planeten einfach nur unzufrieden sein, und es ist gut, daran etwas zu ändern. Aber: Unserer psychischen Gesundheit täte es wirklich gut, wenn wir häufiger mit uns und unserer Welt zufrieden wären, wenn wir uns nicht ständig mit nagender Selbstkritik überzögen und auch mal Fünfe gerade sein ließen.
Das Gute ist: Man kann an seiner Zufriedenheit arbeiten. Während das Glück immer auf den Zufall angewiesen ist, hat jeder Mensch selbst in der Hand, wie zufrieden er ist. Denn „Zufriedenheit ist das Ergebnis von Denkprozessen“, wie der Psychologe Philipp Mayring von der Universität in Klagenfurt sagt. Immer wenn wir zufrieden oder unzufrieden sind, ziehen wir Bilanz: Haben wir einen Hund, so wie wir uns das immer gewünscht haben? Ja? Gut. Pluspunkt. Aber der beißt? Minuspunkt. Wäre man gerne Führungskraft, hat aber niemanden, den man herumkommandieren kann? Noch ein Minuspunkt. Und wollte man im Tennis nicht längst schon besser sein, wurde aber gerade von dem Neuen im Team an die Wand gespielt? Nun ist die Bilanz voll im Negativen. Zufriedenheit resultiert aus dem Vergleich zwischen unserer tatsächlichen Situation und unserer Idealvorstellung von unserem Leben. Und je kleiner die Kluft ist, desto zufriedener sind wir.
Wenn die Bilanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit in unserem Leben also besser ausfallen soll, gibt es folglich zwei Stellschrauben dafür: Entweder dreht man am Wunsch oder an der Wirklichkeit. Der erste Weg ist der defensive Weg zur Zufriedenheit, bei dem man seine Ansprüche mäßigt, der zweite Weg ist der offensive, bei dem man versucht, die Welt seinen Vorstellungen anzupassen. In unserer Leistungsgesellschaft ist der offensive Weg meist der favorisierte. Und vor allem für junge Menschen ist er auch oft der richtige. Schließlich treibt er uns an, er sorgt dafür, dass wir am Ende Erfolge einfahren und uns darüber freuen. Der defensive Weg hingegen erscheint uns oft als Niederlage. Aber er kann sehr viel klüger sein. So sehr man auch für Einsatz und Engagement eintreten mag: Man kann wohl niemandem empfehlen, eine Aufgabe, an der er schon mehrmals gescheitert ist, immer und immer wieder zu versuchen. Jedenfalls nicht auf demselben Weg.
Akzeptieren oder kämpfen? Um herauszufinden, ob man einen Anspruch weiterverfolgen sollte, muss man vor allem ehrlich mit sich sein. Will man wirklich zum Fitnesstraining? Oder ist das nur eine fixe Idee? Wenn man immer nicht in die Puschen kommt: Womöglich liegt das einfach daran, dass einem die Puschen gar nicht gefallen. Dann sollte man sie wegwerfen.
Am Ende kommt es bei der Betrachtung vermeintlicher Mängel auf den Blickwinkel an. Schon die Philosophen der antiken Schule der Stoa sagten: Nicht Ereignisse oder andere Menschen machen uns das Leben schwer, sondern unsere Bewertung. Im Zweifelsfall kann man sich sogar mit einem klaren Manko schmücken: „Ich war immer schlecht in Mathe“ – mit diesem Statement steht man auf Partys eher gut da. Erstaunlich eigentlich: Rechnen ist schließlich eine der grundlegenden Kulturtechniken. Und trotzdem kann man sich damit brüsten, sie nicht zu beherrschen. Vielleicht ist man sogar ein bisschen stolz darauf, weil man damit zeigt, dass man kein Technik-Nerd ist, sondern ein wahrer Intellektueller, womöglich mit humanistischem Bildungsideal und Bestnote in Altgriechisch.
Diesen Mathe-Trick sollten wir viel häufiger anwenden: Wir könnten unsere vermeintlichen Schwächen liebevoll und mit einem Augenzwinkern betrachten – und sagen: „Ich war in Diskussionen noch nie schlagfertig, aber wenn ich etwas sage, hat das Hand und Fuß.“ Oder: „Mein Orientierungssinn ist unterirdisch. Aber wozu gibt es Google Maps?“
So schmerzhaft es ist, sich von seinen Vorstellungen zu trennen: Man kann das üben – auch wenn es paradox klingt, ausgerechnet das Loslassen angestrengt verfolgen zu wollen. Dazu muss man wieder erneut Bilanz ziehen: Man wägt die Vor- und Nachteile ab, die damit verbunden sind, an etwas festzuhalten. Vielleicht hätte man gerne eine Altbauvilla. Allerdings würde es bedeuten, dass man Jahre auf der Baustelle lebt. Ist es das wert? Wenn der Aufwand sehr groß wird, kann der defensive Weg durchaus der erfüllendere sein.
Wer Loslassen üben will, sollte die Strategie der kleinen Schritte nutzen, jeden Tag ein bisschen Anti-Perfektions-Training. Schon der Stoiker Epiktet hat in seinem „Handbüchlein der Moral“ empfohlen, jede Gelegenheit für mehr Gelassenheit zu nutzen; man sollte immer dann üben, wenn etwas wehtut. Mal nicht alles aufräumen, wenn Besuch kommt. Mal nicht einkaufen gehen, sondern mit dem über die Runden kommen, was noch im Kühlschrank ist. Zu einem Termin gehen, ohne perfekt vorbereitet zu sein. Wer der Unvollkommenheit Raum gibt, macht die Erfahrung, dass 90 Prozent Einsatz auch reichen können, sagt Rainer Sachse vom Institut für Psychologische Psychotherapie in Bochum. Und wenn es bei den kleinen Dingen klappt, gelingt es eines Tages auch bei größeren Turbulenzen und schwerer wiegenden Verlusten.
Übers Loslassen hinaus gibt es eine Liste von Lebens-Zutaten, die die Zufriedenheit steigern. Dankbarkeit, Optimismus und Enthusiasmus gehören ebenso dazu wie Sinnfindung, Kritikfähigkeit und Wohlwollen. All das lässt sich trainieren. Man kann Zuversicht lernen, indem man die Aufmerksamkeit auf die schönen Erlebnisse lenkt. In Dankbarkeit übt man sich, indem man sie ausdrückt. Und Optimismus lässt sich trainieren, indem man im Alltag den Blick auf das Positive lenkt. Man hatte eine nette Begegnung? Erfolg im Beruf? Wahrnehmen! Freuen! Und am besten ein Steinchen von einer Hosentasche in die andere befördern. So schult man seine Aufmerksamkeit für die guten Dinge im Leben.
Kleine Dinge können viel bewirken. „Unzählige Studien haben gezeigt, dass solche Übungen das Wohlbefinden sehr positiv beeinflussen“, betont Sonja Lyubomirsky vom Positive Activities and Well-Being Laboratory an der University of California in Riverside.
Offen für Neues sein, sich weniger aufregen, weniger leiden, weniger hadern, Veränderungen hinnehmen und das Gute wertschätzen – das bedeutet echte Lebensqualität. Wem es dagegen nicht gelingt, seine unerfüllbaren Wünsche, seine zerstörerischen Gedanken und negativen Gefühle loszulassen, der kann schwer erkranken. Depressive Menschen sind häufig auf ihre Lebensentwürfe fixiert, sie verharren in negativen Gedankenschleifen; das ist Teil ihrer Krankheit. Und diese Krankheit greift in unserer Leistungsgesellschaft in erschreckendem Maße um sich. Auch um dem vorzubeugen, ist es wichtig, an seiner Zufriedenheit zu arbeiten. Schlimme Situationen sind schlimm genug. Noch schlimmer aber werden sie, wenn wir uns damit beschäftigen, sie schlimm zu finden. Wenn man die Umstände nicht ändern kann, kann man immer noch seine Einstellung ändern. Es steht in der Macht des Einzelnen, das Beste in seinem Leben zu sehen und das Beste daraus zu machen.
Christina Berndt
Dr. Christina Berndt ist Wissenschaftsredakteurin bei der „Süddeutschen Zeitung“ in München. Zuvor hat sie Biochemie studiert und für ihre Promotion am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg geforscht.
Sie ist Autorin des Bestsellers „Zufriedenheit – Wie man sie erreicht und warum sie lohnender ist als das flüchtige Glück“ (dtv München), der soeben als Taschenbuch erschienen ist. Bekannt wurde sie auch durch ihren Bestseller „Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“ (dtv München).
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