Bis in die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden Linkshänder mit den verschiedensten Methoden dazu gebracht, sich an die vornehmlich rechtshändige Gesellschaft anzupassen. Den linkshändigen Kindern wurde gesagt: „Wenn du die rechte Hand nimmst, dann hast du es später leichter.“ Und die Kinder übten, mit rechts zu schreiben, schön zu schreiben, mit rechts Suppe zu löffeln, mit rechts das Brot zu schneiden, mit rechts zu nähen oder zu hämmern – und sagten dann oft stolz als Erwachsene: „Das macht mir nichts aus, ich kann das sehr gut auch mit rechts, ich bin nämlich beidhändig. “
Was sie und die sie liebevoll begleitende pädagogische Umwelt dabei nicht sahen: Dass die Schwierigkeiten, die viele beim Lernen in der Schule entwickelten, wie etwa eine schnellere Ermüdbarkeit, mit dieser Umgewöhnung auf rechts in Verbindung standen.
Heute schulen wir in der Pädagogik nicht mehr auf die rechte Hand um. Wir lassen linkshändige Kinder sich links entwickeln. Doch wir legen zum Beispiel noch immer das Besteck auf die rechte Seite, die bei Linkshändern die falsche Seite ist. Es ginge nicht an, so wird argumentiert, dass die rechtshändige Welt durcheinandergebracht wird wegen zehn oder 20 Prozent linkshändiger Menschen in der Bevölkerung. Das sind eben jene linkshändige Menschen, die sich nicht durch Nachahmung und genaue Beobachtung der Bezugspersonen an das rechtshändige Leitbild, das intuitiv wahrgenommen wird, angepasst haben.
Ergonomie und Inklusion: Produkte für linkshändige Kinder
Was ist in unserer Gesellschaft also notwendig zu ändern, damit linkshändige Menschen eine Welt vorfinden, die ihre Händigkeit von Anfang an erkennt, anerkennt, annimmt und die Konsequenzen daraus zieht? Dazu bräuchte es eine Gesellschaft, die die Gestaltung von Gegenständen, Apparaturen und Handlungsabläufen so einrichtet, dass das linkshändige Kind eine entsprechende Umwelt vorfindet und sich in seinen Bedürfnissen bezüglich seiner Händigkeit angemessen entwickeln kann.
Die Gastautorin
- Dr. Johanna Barbara Sattler ist approbierte Psychotherapeutin und Leiterin der „Ersten deutschen Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder“ in München. Sie ist selbst Linkshänderin.
- In ihrer Arbeit vermittelt sie linkshändigen Kindern und deren Eltern eine ergonomische Schreibhaltung und unterstützt auf ihre rechte Hand umgeschulte Menschen, sich auf ihre dominante linke Hand, insbesondere zum Schreiben, zurückzuschulen.
- Sattler ist Autorin von verschiedenen Fachbüchern und hält Vorträge zum Thema Linkshändigkeit. Darüber hinaus bietet sie die Zusatzausbildung zum S-MH Linkshänder-Berater (S-MH: Sattler Methodik zu Händigkeitsfragen) an.
Das geht schon beim Spielen los. Es bräuchte eine öffentliche Institution – wie „Spiel gut“ oder die „Stiftung Warentest“ – deren Aufgabe es ist, auf die Bedürfnisse linkshändiger Kinder zu achten und darauf, dass Produkte für Linkshänder ergonomisch passen und bei der Nutzung keine Haltungsschäden entstehen. Wir bräuchten ein „Spiel gut“ für linkshändige Kinder, ein offizielles Label, das für besonders gute Produkte vergeben wird, die auch die linkshändigen Kinder einschließt und auf ungünstige Produkte für sie hinweist.
Mit positivem Beispiel voran geht etwa der Spielzeughersteller Nic: Drehknöpfe für Hebefunktionen und Schaufeln an Baggern werden so angebracht, dass die Knöpfe an einer achsenartigen Verbindung zu drehen sind und das Spielzeug so mit beiden Händen mit gleichen Chancen zu bespielen ist.
Pädagogische Herausforderungen im Umgang mit Linkshändern
Wir haben Lehr- und Bildungspläne für Erzieherinnen und Erzieher, aber in den wenigsten Bundesländern steht etwas über den Umgang mit linkshändigen Kindern darin. In diesen Lehrplänen, die oft nach Kompetenzen und Lernfeldern aufgebaut sind, sollte mehr über Händigkeit stehen und es sollten Lernaufgaben für die Studierenden entwickelt werden, anhand derer sie durch praktische Versuche mehr über ihre eigene Händigkeit und die der Kinder erfahren könnten.
Chancengleichheit für Linkshänder gibt es noch lange nicht und der Gedanke ist leider noch immer nicht in den Köpfen vieler Pädagogen angekommen. Es ist zugegebenermaßen auch sehr schwer, sich als rechtshändige Eltern und Pädagogen in ein linkshändiges Kind einzufühlen. Da sind intuitive Prozesse in unserem Gehirn am Werk, die uns zutiefst zu eigen sind und die wir kaum ändern können.
Rechtshändige Menschen legen etwa ihr Schreibblatt oft automatisch schräg nach links gekippt, um mit ihrer rechten Hand locker zu schreiben. Bei Schreibberatungen für linkshändige Kinder nehme ich häufig wahr, wie schwer es für rechtshändige Eltern ist, die Arbeitsplatzgestaltung und Handlungsabläufe für ihr linkshändiges Kind „umzudenken“. Wie sie dann oft trotz der vorgegebenen linkshandgerechten Blattlage auf der Schreibunterlage für linkshändige Kinder das Blatt umgekehrt hinlegen. Das passiert auch den Eltern, die sehr bewusst mit der Linkshändigkeit ihres Kindes umgehen und das Kind richtig anleiten wollen.
Von der Schule bis zum Beruf: Linkshänder als „Anpassungsexperten“
Und wenn es Eltern schon so schwerfällt, die Schreibhaltung passend zu zeigen, wie geht es erst den Lehrkräften, die im Schulalltag wenig Zeit haben, das linkshändige Kind angemessen zu fördern? Und wie sollen sie das Kind richtig fördern, wenn in der Regel Linkshändigkeit kein Thema im Studium und in der Zeit des Referendariats ist?
Auch nehmen wir nicht die vielen, linkshändigen Kinder wahr, die aufhören, ein Instrument zu spielen, weil sie, neben anderen Unpässlichkeiten, nicht mit den für Rechtshänder vorgegebenen Instrumenten und Spielweisen zurechtkommen. Wie zukunftsweisend sind die linkshändigen Musikerinnen und Musiker, die auf der Internetseite www.linksgespielt.de wie selbstverständlich zu ihrer Linkshändigkeit stehen und jung und unerschrocken ihr Musikinstrument umgekehrt zur traditionellen rechtshändigen Haltung spielen und verteidigen.
Auch im Beruf wird Linkshändigkeit als meist nebensächlich oder als ein zu vernachlässigendes Phänomen eingestuft. Folglich kommt es oft dazu, dass Linkshänder und umgeschulte Linkshänder die Problematik selbst verharmlosend darstellen und eventuelle Schwierigkeiten herunterspielen. Um allen Ansprüchen in einer „Welt der Rechtshänder“ adäquat gerecht zu werden, werden oft Handlungen nicht mit der dominanten linken Hand ausgeführt, sondern als Anpassungshandlung mit der rechten. Dadurch kann es zu einer Überkompensation kommen, das heißt einer dauerhaften überhöhten Anstrengung, die zur Gewohnheit und von den Betroffenen selbst und der Umwelt als solche nicht mehr wahrgenommen wird.
Die Auswirkungen einer rechtshänderzentrierten Arbeitswelt
Die Folge davon wiederum ist, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung der Linkshändigkeit als Nebensächlichkeit weiter zementiert wird. Das macht das Ansprechen von notwendigen Veränderungen schwierig, die zu einer Gleichstellung der linkshändigen Menschen am Arbeitsplatz führen würden. Die Chancengleichheit ist dadurch nicht gewahrt.
Asymmetrische Geräte und Maschinen führen im Arbeits- und Berufsleben oft zu einer Benachteiligung von Linkshändern, weil Maschinen, Geräte und Werkzeuge für den Gebrauch mit der rechten Hand gefertigt wurden. Rechtshändigen Menschen ist es oft nicht bewusst, wie viele Geräte, die sie für neutral halten, eindeutig für Rechtshänder optimiert wurden.
Durch diese für linkshändige Menschen nicht adäquaten Geräte und Maschinen kann die Arbeitsleistung für sie gemindert werden, es kann zu Fehlhaltungen (beispielsweise bei der Akkordarbeit am Fließband) kommen und zu einer chronischen Überlastung, die der Linkshänder irgendwann gar nicht mehr wahrnimmt. Das kann zur Folge haben, dass die Chancengleichheit für linkshändige Menschen im Beruf herabgesetzt wird.
Wie wir linkshändige Kinder stärken können
Festzuhalten ist: Es ist wichtig, dass linkshändige Kinder ein gesundes Selbstbewusstsein bezüglich ihrer Händigkeit entwickeln können. Dass ihnen bewusst wird, dass Linkshändigkeit eine normale Eigenschaft ist, so wie Rechtshändigkeit auch, und dass jeder linkshändige Mensch das Recht hat, dass Rücksicht auf seine individuellen Bedürfnisse als Linkshänder genommen wird. Und dass jeder linkshändige Mensch das Recht hat, anderes, für sich passendes Werkzeug zur Verfügung gestellt zu bekommen und er sich seine Handlungsabläufe und seinen Arbeitsplatz entsprechend seiner angeborenen Linkshändigkeit einrichten kann. Das ist eine Bringschuld der Gesellschaft, die in der vorschulischen, schulischen und in der beruflichen Pädagogik und Ausbildung unbedingt und selbstverständlich verankert sein müsste.
Heute ist es aber so, dass Eltern linkshändiger Kinder eher Bittsteller für ihr linkshändiges Kind sind und dass viele linkshändige Auszubildende sich überhaupt nicht trauen, nach angemessenen Gerätschaften und händigkeitsentsprechenden Anleitungen zu fragen.
Wenn unsere Gesellschaft das nicht schafft, werden linkshändige Menschen immer „Exoten“ bleiben, die sich an die rechtshändige Welt manchmal freiwillig, meist aber zwangsläufig anpassen, anpassen müssen und somit in ihrem Lebensalltag mehr oder weniger benachteiligt sind. Sie werden keine gleichen Chancen in der Vorschule, der Schule und am Arbeitsplatz und später im Berufsleben haben. Und sie werden sich nicht trauen, nach angemessenen Hilfestellungen zu fragen und gleiche Chancen einzufordern.
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