Obwohl meist immer noch allein Erwerbstätige als „Produzenten“ gelten, waren und sind auch „Konsumenten“ nicht allein passive Verbraucher, sondern aktiv und sogar produktiv. Faktisch haben sie in ihrer Rolle immer schon vielfältige Leistungen erbringen müssen. Sie informieren sich über das Angebot, suchen Verkaufsorte auf, vergleichen Produkte, transportieren Gekauftes, müssen es aufbewahren, weiterverarbeiten, saubermachen, Reste entsorgen und vieles andere mehr. Seit einiger Zeit allerdings verändert sich diese Rolle erheblich: Unternehmen verlagern zunehmend Funktionen, die bisher das Personal wahrnahm, gezielt auf ihre Kunden.
Ein früher Schritt in diese Richtung war im 19. Jahrhundert die Entstehung von Kaufhäusern in Amerika und gelegentlich auch in Europa, wo man sich teilweise schon „selbst bediente“. Einen kompletten Self-Service (Selbstbedienung) bot dann 1916 der Piggy Wiggly Store für Lebensmittel in Memphis. Zeitgleich entstanden auch schon erste Ausgabeautomaten für einzelne Waren.
In Europa verbreitete sich Selbstbedienung ab den 1950er Jahren. Elemente des Verkaufs (Angebot, Preisabfrage, Warenauswahl, Zahlvorgang, Einpacken) wurden nun auch dort nach und nach vom Kunden erledigt. Unternehmen erkannten schnell, dass man dadurch in großem Umfang Personalkosten reduziert. Ab den 1970er Jahren erfolgte schließlich zügig eine Ausbreitung von Selbstbedienung auf weitere Branchen: Tankstellen, Gastronomie, Baumärkte, Drogerien. Einen vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung bei Ikea, als dort sogar die Endfertigung den Kunden übertragen wurde. Schnell verbreitete sich auch, Kunden zu wandelnden Werbeträgern zu machen, vor allem durch Marken-Logos auf der Bekleidung.
Ab den 1980er Jahren verlagerten auch Banken und Verkehrsunternehmen mit Hilfe von Automaten Tätigkeiten auf Kunden (Geld-, Fahrkarten-, Belegausgabe), wodurch Schalter und Filialen zunehmend überflüssig wurden.
Technische Entwicklungen trieben weitere Entwicklungen an, für die man betriebswirtschaftlich den bezeichnenden Ausdruck „Outsourcing (Auslagerung) auf den Kunden“ fand. Man begriff, dass Konsumentenaktivitäten keine Marginalie sind, sondern Kunden „Wertschöpfungspartner“ werden können.
Insbesondere das Internet bot völlig neue Möglichkeiten für die Auslagerung von Arbeiten mit ungeahntem Rationalisierungspotential. Nach und nach wurde deutlich, dass damit nicht nur weitere Kostenreduktionen möglich wurden, sondern neuartige Wege zur Erzeugung direkter Werte durch wertvolle Leistungen der Kunden.
Ein aufschlussreiches Beispiel ist Amazon. Dort wurde von Beginn an sehr erfolgreich eine internetbasierte Selbst-Bedienung praktiziert, bei der viele Tätigkeiten (Produktinformation, Beratung, Auswahl, Bezahlungsabwicklung) den Kunden zur Selbsterledigung zugewiesen werden. Sie übernehmen außerdem vielfältige Aufgaben mit Bezug zu anderen Kunden: Produktbewertungen, Kaufvorschläge, Werbung, Beratung. Vor allem: Sie erzeugen kontinuierlich Informationen über ihre Aktivitäten, Präferenzen, Personenmerkmale, die direkt genutzt und oft auch mit hohen Profitmargen weitervermarktet werden.
Eine ganz neue Qualität entsteht schließlich in den sozialen Medien. User sind dort nicht Unterstützer beim Verkauf (meist sind noch nicht einmal mehr „Kunden“), sondern kostenlose Produzenten massenhafter Inhalte für den Betrieb der Plattformen, vor allem jedoch gigantischer Datenmengen, die mit immensen Renditen verwertet werden.
Dass Konsumenten auch „produktiv“ sein können, versuchte man schon früh mit dem Kunstwort „Prosumer“ (von „producer“ und „consumer“, Produzent und Konsument) wissenschaftlich zu beschreiben. Auch die Mitwirkung an Unternehmensprozessen fand schon in Teilaspekten Beachtung. Eine tiefergehende Analyse der zunehmenden betrieblichen Nutzung von Konsumentenleistungen bot dann das soziologische Konzept des „Arbeitenden Kunden“, mit der These, dass sich aktuell ein grundlegender Wandel des Unternehmen-Kunden-Verhältnisses, mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen vollzieht. Zweierlei ist dabei zu unterscheiden.
Zum einen breitet sich die betriebliche Mitwirkung von Konsumenten mit großer Dynamik quantitativ aus: Diese Entwicklung betrifft neben dem Handel nicht nur immer mehr Dienstleistungen, sondern auch produzierende Branchen und öffentliche Betriebe.
Selbstbedienung ist schon lange nicht mehr nur typisch für den Supermarkt (jetzt auch mit „Self-Scanning“ an der Kasse), sondern findet sich in der Systemgastronomie (mit Selbst-Aufräumen), im Bankgewerbe (neben Bankautomaten nun fast flächendeckend auch „Online-Banking“ und „Self-Brokerage“ bei Wertpapieren), der Softwareindustrie (mit aufwendigen Selbsterledigungen von Updates), der Bahn (neben Fahrkartenautomaten nun Fahrkartenerwerb und Verbindungsbuchung online), im Flugverkehr (E-Ticket, Check-In-Automaten, auch für Gepäck), Hotels (Internetbuchung, auch schon Check-In-Automaten) und teilweise bei Behörden („E-Government“ für Verwaltungsvorgänge, zum Beispiel „Elster“ für Finanzämter).
Eine Variante der Entwicklung ist „Mass-Customization“, wo Produkte individuell konfiguriert werden (von Sneakers über T-Shirts und Müslis bis zu Laptops und Autos), oft mit dem eigentlichen Ziel, den Kundengeschmack für Marketingzwecke zu verfolgen.
Als noch folgenreicher wird sich ein qualitativer Wandel der Kundeneinbindung erweisen, geht es doch nicht mehr lediglich um Kostenreduktionen durch Selbstbedienung beim einzelnen Kunden. Die zentrale Veränderung ist ja, dass Konsumenten immer intensiver im gesamten Alltag in betriebliche Vorgänge eingebunden werden und dadurch ökonomisch wertvolle Leistungen erbringen: Sie betreiben Werbung, beteiligen sich an Marketingkampagnen, liefern Qualitätsrückmeldungen und testen neue Angebote, entwickeln Produktideen (sog. „Open Innovation“), beraten und kontrollieren sich gegenseitig.
Vor allem jedoch liefern sie massenhaft Daten über sich und ihre Tätigkeiten sowie zunehmend über auch ihre Gedanken, Gefühle und ihr Befinden (seit Neustem über Spracherkennungssysteme und am Körper getragene Sensoren). Spätestens damit wird deutlich, dass eine neue Konsumwelt entsteht, die Menschen immer umfassender wirtschaftlich und tendenziell auch staatlich bei ihren Aktivitäten steuert, kontrolliert, vernutzt und verwertet. Dass viele Menschen das fast schon für selbstverständlich halten, ändert nichts daran, dass man in seinem Alltag oft ohne Alternative regelmäßig unbezahlt Organisationen zuarbeitet, dafür viel Zeit und Nerven aufwendet sowie komplexe Kenntnisse und teure Technik benötigt.
Die These des „Arbeitenden Kunden“ beschreibt einen neuen Typus des Konsumenten, der den bisherigen „Käufer-Kunden“ um eine neue gesellschaftliche Figur ergänzt und langfristig hinter sich lassen könnte. Von zentraler Bedeutung ist für ihn eine erweiterte und gezielt betrieblich gesteuerte, genutzte und verwertete Produktivität. Diesen bewusst eingesetzten (aber unbezahlten) Quasi-Mitarbeiter kennzeichnen drei Merkmale:
Der neue Konsument ist nicht mehr nur Käufer und Nutzer von Waren, sondern seine Arbeitskraft wird gezielt produktiv genutzt. Private Tätigkeiten geraten damit systematisch unter das Regime betrieblicher Verwendung für verschiedenste Zwecke.
Kunden werden jetzt explizit zur Wertquelle. Menschen sind nun nicht mehr nur als Erwerbstätige Basis für unternehmerischen Profit, sondern auch in ihrer Rolle als Kunden. Die immer schon vorhandene private Produktivität wird damit einer Ökonomisierung völlig neuer Qualität unterworfen, die bisher ungenutzte Räume für eine kapitalistische Verwertung von Arbeit öffnet.
Konsumenten werden faktisch (aber informell und wenig sichtbar), Mitglieder von Betrieben und sind damit – ob sie es wollen oder nicht – einer organisatorischen Anbindung unterworfen. Im Unterschied zu formellen Mitarbeitern gibt für sie aber, neben fehlender Vergütung, keine geeignete Rechtsform, keine passende rechtliche Absicherung, keinen Arbeitsschutz und keine Interessenvertretung.
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G. Günter Voss
G. Günter Voß, 1950 geboren, ist Soziologe. Von 1994 bis 2015 war er Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der Technischen Universität Chemnitz.
Bereits 2005 hat er gemeinsam mit Kerstin Rieder die These vom „arbeitenden Kunden“ entwickelt und im Campus Verlag das Buch „Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden“ veröffentlicht. Bild: Janine Guldener
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