Am frühen Morgen ihres 40. Geburtstags steht eine Mutter verträumt vor dem Spiegel. Sie sieht sich als junge Frau am Tag ihrer Hochzeit. Und staunt, wie sehr die Zeit ihr Aussehen verändert hat. Männer blicken von der Seite her in den Spiegel und wundern sich ähnlich, wie die Zeit dem jugendlichen Sprinter eine gerundete Figur verpasst hat. Ist die Zeit ein scheues Reh, das uns davon läuft, während wir hinter ihr her stolpern? Ist sie ein Container, in dem wir uns bewegen, ein Gegenstand, den wir gewinnen oder verlieren wie eine Münze?
Wir müssen nicht in den Spiegel schauen, um das rasende Tempo um uns herum und in uns als nervig zu empfinden. "Ich kann nicht mehr", beklagt ein 13 Jahre altes Mädchen den vielen Schulstress, der krank macht. Facharbeiter sagen, dass sie dieselbe Arbeit in der Hälfte der Zeit zu erledigen haben. Die Krankenschwester pflegt eine ältere Dame im Minutentakt.
Das Sprechtempo der Fernsehansagerin nimmt zu, Symphonien werden schneller gespielt. "Mama Taxi" klingt wie das Seufzen einer alleinerziehenden Mutter, die zwei Welten zu verbinden versucht - das Dasein für ihre Kinder, deren Transport zu Kita, Schule, Musikstunde, Sportclub und ihre Teilzeitarbeit. Für sie selbst bleibt nur ein verkürzter Schlaf. Krankenkassen und Ärztekammern sind alarmiert, weil sich psychosomatische Krankheiten, darunter Burnout, in den letzten 20 Jahren verdoppelt haben.
Die atemlose Hektik lässt sich erklären: Seit der Jahrhundertwende haben die Finanzmärkte einen zusätzlichen Schub an Beschleunigung ausgelöst. Sie haben sich die digitale Technik angeeignet und massiv von der Realwirtschaft abgekoppelt. Immer mehr Geld wird immer schneller bewegt. Ein Devisenhändler schaffte vorher in einer Minute drei bis vier Handelsgeschäfte, heute wickeln computergestützte Handelssysteme in gleicher Zeit 100 Millionen davon ab, das sind 60 Milliarden an einem Börsentag. Dieses Tempo übersteigt jedes menschliche Fassungsvermögen.
Die rasende Beschleunigung wird kaskadenartig auf börsennotierte Unternehmen übertragen. Sie kürzen ihre hohen Gewinnerwartungen auf den Horizont dreier Monate. Mit weniger Mitarbeitern sollen dieselben oder höhere Leistungen erzielt werden. Die Entscheidungen der politischen Klasse folgen dem Zeitdiktat der Finanz- und Industriekonzerne. Die Regierung setzt das Parlament unter Druck, die Beschlüsse des Kabinetts flink abzusegnen, damit die Börsen bloß nicht nervös werden.
Da die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatsphäre fließend geworden sind, werden auch die Haushalte, insbesondere die Frauen, die unbezahlt die Hauptlast der Familienarbeit tragen, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raserei unterworfen. Wer kann sich schon dem Sog entziehen, beziehungsintensive Arbeit in Erwerbsarbeit und in zusätzlichen Konsum umzuwandeln? Wir sind extrem reich an Gütern, aber arm an Zeit. Ist unsere Zeitnot der Preis, den wir für den wirtschaftlichen Wohlstand zahlen?
"Was also ist die Zeit?", fragte der Theologe und Philosoph Augustinus. Seine Antwort lautete: Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht. Aber ihm war klar, dass es keine vergangene Zeit gibt, wenn nichts verginge, keine zukünftige, wenn nichts käme, und keine gegenwärtige, wenn nichts wäre. Gibt es etwa drei Zeiten - Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart? Wir selbst sind es, die sich an das Vergangene erinnern, das Zukünftige erwarten und das Gegenwärtige anschauen. Aber das alles gebe es nur in unserer Seele, meint Augustinus, anderswo nicht.
Der moderne Philosoph Wittgenstein sagt, wir würden in eine Sprachfalle hineintappen, wenn wir die Zeit als ein Hauptwort verwenden und darin eine Wesenseigenschaft entdecken. Wir fragen ja auch nicht nach dem Wesen eines Stuhls. Und wir sagen nicht: "Ich habe Flug", "ich habe Gesang", "ich habe Lauf", sondern: ich fliege, ich singe, ich laufe. Die Sprache scheint unsern Verstand zu verhexen. Warum sagen wir nicht: "Ich zeite", "wir zeiten"? Ohne das Wort "Zeit" zu verwenden, meinen wir damit eine gelungene Beziehung, in der die eigenen Handlungsfolgen und die Handlungsfolgen anderer aufeinander abgestimmt sind.
Wir synchronisieren unsere Handlungen mit den Bewegungen der Himmelskörper. Die meisten Menschen orientieren sich als tagaktive Menschen an der Umdrehung der Erde um sich selbst, am Wechsel von Tag und Nacht. Diejenigen, die entfernt vom Äquator wohnen, empfinden den Wandel der Jahreszeiten entsprechend der Umlaufbahn der Erde um die Sonne als angenehme Veränderung.
Sensiblen Menschen sind die Reaktionen der natürlichen Umwelt auf die Umlaufbahn des Mondes um die Erde und dessen Stand in den Tierkreiszeichen sehr vertraut. Wir stimmen unser Handeln auch auf die körperlichen und mentalen Rhythmen ab, die wir in unserem Innern spüren.
Der Vergleich des menschlichen Körpers mit einem riesigen Uhrenladen, in dem unzählige Impulsgeber und Rückkopplungen der Zellen und Organe, des Kreislaufs und des Atems aufeinander abgestimmt ticken, klingt nicht abwegig. Taktgeber unseres Handelns sind schließlich die gesellschaftlichen Regeln, die entweder der Funktionslogik des Marktes entspringen, die Asymmetrie politischer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse abbilden oder dem Leitbild einer Verständigung auf Augenhöhe entsprechen. Indem es uns gelingt, das eigene Handeln an solchen Signalen auszurichten, nähern wir uns weitgehend einem psychosomatischen Gleichgewicht.
Drei Wege stehen uns offen, den beschriebenen Gleichklang wechselseitiger Beziehungen zurückzugewinnen: Wir sollten bei uns selbst anfangen, dem Regime der Beschleunigung zu widerstehen. Wir können Oasen bilden, in denen unsere Beziehungen zu anderen und zu uns selbst gelingen. Wir sollten die Alltagsroutine unterbrechen, uns selbst und unser Handeln ordnen und entrümpeln, aus dem Abstand heraus unterscheiden, was uns wichtig ist, und gegenüber überzogenen Erwartungen "Nein" sagen. Anstatt uns im digitalen Tsunami zu verzappeln, sollten wir uns auf eine Sache konzentrieren, tun, was uns heiter stimmt, die Stille aushalten, im "Off" leben, "aus-zeiten" - der Kabarettist Gerhard Polt nennt dies "herumschildkröteln".
Als einzelne sind wir häufig ohnmächtig, nur zusammen sind wir weniger allein. Deshalb sollten wir uns an die bewährten Einrichtungen der Arbeiterbewegung erinnern und darin politisch engagieren, die Gewerkschaften stärken, flächendeckende Tarifverträge fordern, die Tarifbindung einklagen, den Sozialstaat festigen, an der solidarischen Sicherung gesellschaftlicher Risiken festhalten, sich für den Klimaschutz einsetzen und den arbeitsfreien Sonntag verteidigen.
Wie anders als durch eine demokratische Unternehmensverfassung könnte die kapitalistische Verteilungsregel gebrochen werden, gemäß der die Ressourcen des Arbeits-, des Gesellschafts- und des Naturvermögens als Kostenfaktoren gedeckelt werden, während das Reinvermögen auf den Konten der Kapitaleigner landet?
"Zeitrebellen" sind gefragt und aufgefordert, sich gegen die traditionelle Rollenzuweisung der Geschlechter zu wehren. Das volle Recht der Frauen auf gleichwertige Beteiligung an der Erwerbsarbeit und eine faire Entlohnung ist längst nicht verwirklicht. Und die Männer sind längst nicht bereit, ihre Erwerbsarbeitszeit erheblich zu reduzieren und die Hälfte der Beziehungsarbeit in der Privatsphäre zu übernehmen; sie bleiben weithin Erziehungs- und Pflegemuffel.
Wir sollten lernen, die natürliche Umwelt in ihrer Schönheit zu respektieren, ohne dass ihr ein Preis zugeschrieben wird. Ähnlich könnte das Spiel oder das Feiern mit Kindern, älteren Angehörigen oder Freunden als ein Eigenwert angesehen werden, der keinen Preis hat. In einer "Halbtagsgesellschaft" mit einer 30 Stunden-Woche könnte für jeden die Balance von Arbeit und Leben gelingen. Persönliche Umkehr bleibt dann nicht folgenlos, wenn sie in soziale Bewegungen einmündet.
Um der Herrschaft des Marktes, des Geldes und der Rüstung zu widerstehen, Ernährungsgewohnheiten unter den "langen Schatten der Zukunft" zu stellen, beim Einkaufen dem regionalen Angebot den Vorzug zu geben, den Fleischkonsum zu reduzieren, Mobilitätsgewohnheiten zu überprüfen und in der Boutique nachzufragen, unter welchen sozialen Bedingungen bestimmte Kleidungsstücke hergestellt worden, sind Formen der Zivilcourage und des zivilen Ungehorsams.
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Friedhelm Hengsbach
Der 79-Jährige ist Ökonom, Jesuit und Sozialethiker.
Neben Philosophie studierte er katholische Theologie und Wirtschaftswissenschaften. 1967 wurde Hengsbach zum Priester geweiht.
Von 1985 bis 2005 war er Professor für Christliche Sozialwissenschaft sowie Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Er leitete von 1992 bis 2006 das Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.
Hengsbach hält Vorträge und ist häufig Gast in Diskussionsrunden. In seinen Schriften kritisierte Hengsbach stets die auf politischer Ebene getroffenen Maßnahmen gegen die steigenden Arbeitslosenzahlen.
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