Regiert in Frankreich die Angst, Herr Grosser?

Frankreich lebt seit den Anschlägen im Ausnahmezustand, nicht nur politisch, auch emotional. Die Seele der Grande Nation hat tiefe Risse. Der Terror darf die republikanische Staatsräson nicht besiegen, mahnt der Publizist und Politologe Alfred Grosser.

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Alfred Grosser
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Ein Jahr nach Charlie Hebdo: Frankreich trauert noch immer, wie diese junge Frau bei einer Schweigeminute für die Opfer im Januar 2015 in Paris. Doch in die Verunsicherung mischt sich Wut. Profiteur ist der rechtspopulistische Front National (FN).

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Am 7. Januar 2015 wurden elf Menschen in der Redaktion von Charlie Hebdo ermordet. Die Welle der Empörung war so stark, dass am 10. Januar vier Millionen Franzosen für die Pressefreiheit und die Werte von la République demonstrierten.

"Wir sind Charlie" hieß nicht notwendigerweise, dass man sich mit dem Inhalt der Zeitung, die wenige Leser hatte, identifizierte. In Paris waren es etwa eine Million Demonstranten. Unter ihnen nicht wenige Muslime. Aber dabei kaum Jugendliche aus den sogenannten "banlieues", den armen Vororten.

Hier muss eine französische Sonderheit dargestellt werden. Man ist voller Franzose, ohne jeglichen Hinweis auf den "Immigrationshintergrund" sobald man die französische Staatsangehörigkeit hat. Der Premierminister Manuel Valls war bis 1982 Spanier, die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, war es bis 1972. Die Erziehungs- und Hochschulministerin, Najat Vallaud-Belkacem, war bis 1995 Marokkanerin. Aber die jungen Leute der "banlieues" sind fast alle französische Staatsbürger (im Gegensatz zu vielen jungen Türken in Berlin) und werden trotzdem diskriminiert. Sie fühlen sich zu Recht im Wohnungswesen, im Schulsystem, in den Berufsaussichten, in der Behandlung durch die Polizei an den Rand der nationalen Gemeinschaft gestellt. Sie leben in Arbeitslosigkeit, in Aussichtslosigkeit, in Hoffnungslosigkeit. Da ihre französische Identität verneint wird, suchen sie eine andere Identifikation. Nicht der Islam war zuerst da, sondern die Diskriminierung.

Dies erklärt weitgehend, warum die meisten Attentäter vom 13. November Franzosen waren. Der erste identifizierte Attentäter hieß Ismael Omar Mustefai, was natürlich der Parteichefin des rechten Front National (FN), Marine Le Pen, erlaubte, jeden der Millionen französischen Moslems unter Verdacht zu stellen. Der 13. November wurde für Frankreich so etwas wie der 11. September für die USA. 130 Tote, 350 Verletzte, die meisten Jugendliche unter dreißig, nicht nur durch selbstmörderische Explosionen getötet, sondern kaltblütig erschossen, beim Rockkonzert oder in Cafés.

Charlie Hebdo ist dabei in Vergessenheit geraten. Die Welle der Empörung ging nicht nur durch Frankreich. In vielen Städten der Welt wurde blau-weiss-rot beflaggt oder beleuchtet. Am 16. Dezember konnte die Bundeskanzlerin in ihrer Bundestagsrede sagen: "Es ist selbstverständlich, dass wir nach den schrecklichen Attentaten von Paris fest an der Seite unserer französischen Nachbarn stehen (....). Die deutsch-französische Freundschaft ist Teil unserer historischen Verantwortung. Sie ist unverrückbarer Kern der deutschen Außenpolitik und sie ist elementar für den europäischen Einigungsprozess. Deshalb stehen wir (...) im Kampf gegen den Terrorismus Frankreich aktiv zur Seite(...). Mit Frankreich hat zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union die Beistandsklausel des EU-Vertrags in Anspruch genommen (...). Deutschland stellt sich dieser Verantwortung."

Dass es ein Krieg sei, hat Präsident François Hollande am 16. November feierlich verkündet. Er hielt eine große, lange Rede in Versailles vor dem versammelten Parlament. Die Abgeordneten der Assemblée nationale, der Nationalversammlung, und die Mitglieder des Senats saßen zusammen in alphabetischer Ordnung.

Der Feind, der zu bekämpfen war, hieß "Daesh", selbsternannter Islamischer Staat. Er sollte nun nicht mehr nur in den von ihm eroberten Gebieten, sondern auch auf französischem Boden bekämpft werden. Dazu, sagte Hollande, braucht man die rechtlich zu untermauernde Verkündung des Ausnahmezustands. Da er durch Gesetz nur auf kurze Zeit angewandt werden kann, soll eine Verfassungsänderung vorgesehen werden, denn der vom ehemaligen Staatspräsidenten Charles de Gaulle zu Beginn des Algerienkriegs gewollte Artikel 16 betrifft nur die Lage, in der die Institutionen versagen.

Was hat der Ausnahmezustand bis jetzt bedeutet? Zunächst erlaubt er den Behörden Hausdurchsuchungen ohne Verordnung oder Überwachung durch die Justiz durchzuführen, oft mit großer Brutalität bei Nacht umgesetzt. Der Polizeistaat ist gewiss nicht oder noch nicht da, der Überwachungsstaat droht jedoch.

Es ist gut und ehrenwert, dass Feierlichkeiten und bebilderte Zeitungsbiographien die Erinnerung an die Opfer wachhalten, aber müssen die Sicherheitsmaßnahmen auf der Straße, vor den Schulen, vor den Kirchen zur Verhinderung neuer Attentate so dicht, so sichtbar gestaltet werden? Wird damit ein Gefühl der Sicherheit geschaffen? Wird nicht eher ein Angstgefühl verstärkt? Insbesondere bei den Touristen, die es kaum noch gibt. Die Hotels und Restaurants stehen ziemlich leer. Vor dem Eiffelturm stehen sehr wenige Busse und keine langen Schlangen. Die Lage hat Ähnlichkeit mit den Folgen der Attentate in Tunesien oder Ägypten.

Nicht nur hatten die Attentäter arabische Namen, man hat auch einen syrischen Pass gefunden, was laut Marine Le Pen beweist, dass Terroristen sich als Flüchtlinge ausgewiesen haben. Die Konsequenz ist dann ihre Forderung, alle Flüchtlinge auszuweisen. So weit ist in Deutschland noch nicht einmal Pegida gegangen. Allerdings gibt es zwar in Frankreich auch Angriffe auf Moscheen oder Asylunterkünfte, aber das Dresdner Gebrüll und die Brutalität kennt man in Frankreich viel weniger.

Warum nimmt nun Frankreich so wenige Flüchtlinge auf? Ein Grund ist die hohe Zahl der Arbeitslosen. "Sie nehmen uns die wenigen Arbeitsplätze noch weg", ist ein ständiges Argument. Aber es gibt noch andere Gründe. Es gilt, la République gegen die Überfremdung zu verteidigen. Präsident Jacques Chirac hatte 2002 zwar versäumt, seinen Sieg mit 80 Prozent der Stimmen gegen FN-Gründer Jean Marie Le Pen richtig zu deuten. Mit nur 19 Prozent im ersten Wahlgang hätte er eine breite republikanische Mehrheit gegen Le Pen zur Regierungsgrundlage machen sollen. Aber er hat nie die trennende Mauer zwischen dem Front National und dem demokratischen Spektrum durchbrochen.

Das hat dann Nicolas Sarkozy getan und die Partei der Tochter, in seinem Versuch die extremen Wähler zurückzuerobern, hoffähig gemacht. Marine Le Pen hat immer vorsichtiger als ihr Vater gesprochen. Sie will auch die Republik und die Nation verteidigen. Niemand hat, wie Angela Merkel, gesagt: "Wenn wir die Flüchtlinge nicht aufnehmen, ist es nicht mehr mein Land." Auch die katholische Kirche ist vorsichtiger. Nur ein Bischof hat wie Kardinal Marx Stellung bezogen und gesagt, man könne nicht zugleich katholisch und fremdenfeindlich sein. Allerdings beweist der Secours Catholique, die französische Caritas, viel Mut. Nicht nur hilft sie den Flüchtlingen. Sie zieht auch gegen den Staat vor Gericht, wenn er seine Pflichten verletzt und erzwang in Calais einen harten Richterspruch, der die weitere skandalöse Vernachlässigung des Flüchtlinglagers unter Strafe stellt.

Die Regionalwahlen vom 6. und 13. Dezember haben gezeigt, wie stark die Partei von Marine Le Pen geworden ist. Nach dem ersten Wahlgang sah es so aus, als würde der Front National drei, wenn nicht vier Regionen erobern. Zur Stichwahl versuchte Sarkozy, Präsident seiner umbenannten Partei (Les Républicains-LR), seine Losung "ni, ni" (weder Front National, noch die Linke) durchzusetzen. Er scheiterte, da Marine Le Pen noch mehr Stimmen erhielt (6,8 Millionen, etwa 27,9 Prozent der Wahlzettel) als am 6. Dezember. Im Norden (Nord/Pas de Calais/Picardie) schien sie mit 15 Prozent Vorsprung unschlagbar, so wie ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen mit 14 Prozent in Provence-Alpes-Côte d'Azur.

Und doch erhielt der Front National schließlich gar keine Region. Erstens gingen fast zehn Prozent mehr Wähler zu den Urnen, um solche Siege zu verhindern. Zweitens haben sich die Sozialisten aufgeopfert. Im Gegensatz zu Sarkozy praktizierten sie eine Art "discipline républicaine": Sie zogen ihre Listen zurück, auch im Elsass, um Siege des Front National zu verhindern. Die Taktik ging auf, doch die Partei zahlt einen hohen Preis. Denn ihre Abgeordneten im Conseils régionaux, der Regionalversammlung, geben die Hälfte ihrer Gehälter der Partei. Diese Einnahmen fallen nun weg. Immerhin haben die dank der Unterstützung zu Siegern Gewordenen, die Mitglieder der LR, der Parti socialiste gedankt und die gute Zusammenarbeit mit ihr wenigstens erwähnt.

Die Distanznahme zu Sarkozy war unübersehbar. Seine Aussichten, der Kandidat der Rechten bei der Präsidentschaftswahl 2017 zu werden, sind geschrumpft und die Chancen des nüchternen Alain Juppé gewachsen. Das gilt allerdings nur, wenn es bis dahin keine neuen Gründe gibt, das Thema Sicherheit und nicht die Gesundung von Wirtschaft und Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen. Bearbeitet von Caroline Blarr

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