Ich weiß nicht, ob wir zu wenig über psychische Krankheiten reden. Mir als Betroffene, also einer Frau, die eine psychische Krankheit hat, kommt es jedenfalls so vor, dass sowohl auf meiner als auch auf der Seite meiner Gegenüber jede Menge Hemmnisse bestehen, ganz offen und frei damit umzugehen.
Was mich selbst betrifft, befinde ich mich in einem Prozess, der in den vergangenen Monaten zu einem Buch über dieses Thema geführt hat. Es heißt „Neben der Spur“ und beschreibt die Geschichte meiner letzten Psychose aus meinen Augen, aber auch aus den Augen von Menschen, die mich erlebt haben, von Freunden und Bekannten, sowie von professionell mit dem Thema befassten Menschen wie etwa Rechtsanwälten, Ärzten und Psychotherapeuten.
Zwar habe ich immer schon relativ offen über meine Erfahrungen mit meinen Psychosen gesprochen, aber nie so. Nie so konkret über die Diagnose „Schizophrenie“ und nicht in der Öffentlichkeit, mit meinem Namen verbunden. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich völlig unbefangen mit dem Thema umgehe, manche Reaktionen ablehnend und teilweise sogar ausgrenzend ausgefallen sind. Ich nenne jetzt Beispiele, lasse sie aber unkonkret, weil sie sonst anklagend wirken könnten, und das möchte ich nicht.
Meine letzte Psychose war heftig, und ich habe mich ordentlich daneben benommen. Es war meine fünfte Psychose und die schlimmste und längste. Die vorherigen Psychosen haben dazu geführt, dass sich Freunde von mir abgewandt hatten und dass ich meinen Job verloren hatte, nach relativ kurzer Zeit, obwohl klar war, dass ich krank war und ich mich nicht wehren konnte. Schon allein das Erwähnen des Begriffs „Psychose“ beziehungsweise schon allein die Möglichkeit, dass ich in einer solchen Psychose drin stecken könnte, hat mich in den Augen einiger Menschen zu einer Art „Aussätzigen“ gemacht, die man meiden muss, die gefährlich ist, mit der man nichts zu tun haben will. Es gab natürlich auch immer die anderen: Arbeitgeber, die sich letztlich tolerant verhalten haben, Freunde, die zu mir gehalten und unbekannte Menschen, die Verständnis aufgebracht haben.
Das sind im Prinzip diejenigen, die für die gesunden Anteile in mir Patenschaft übernommen und die mit ihrem Mitgefühl und ihrem Verständnis dafür gesorgt haben, dass es mir vergleichsweise gut geht. Trotzdem frage ich mich, ob es unbedingt hätte sein müssen, dass einige Menschen aus lauter Angst oder auch aus Unwissenheit jede Brücke abgebrochen haben.
Es ist nämlich so, dass es für das Aufrechterhalten eines guten Zustandes etwa eines Menschen mit Diagnose Schizophrenie unabdingbar ist, dass er gute Beziehungen zu möglichst vielen anderen Menschen hat. Ein Zustand des Ausgegrenztseins und des Verlassenseins ist absolut kontraproduktiv. Das ist nicht nur mein subjektiver Eindruck, das ist auch Stand der Wissenschaft, zumindest wird es von den meisten Fachleuten so gesehen.
Jetzt könnte man natürlich sagen: Ist mir doch egal, wie es denen geht. Ich möchte nicht mit solchen schwierigen Fragestellungen konfrontiert werden. Ich glaube, da macht es sich derjenige nicht nur zu leicht, er schadet sich im Prinzip, wenn man es genau betrachtet, sogar selbst. Denn er grenzt einen Menschen wegen eines Verhaltens aus, dass derjenige im Akutzustand einfach nicht steuern kann. Er kreidet etwas an, das erst später, wenn der Psychotiker wieder aus seinem Wahn herausgekommen ist, wirklich verantwortet werden kann. Er verhärtet unnötigerweise sein Herz und bringt sich um seine eigene Mitmenschlichkeit. Klug ist es übrigens auch nicht, dieses „Schotten-dicht-machen“.
Natürlich sind die Folgen einer Psychose häufig verheerend. Damit meine ich, ein Mensch in einer Psychose richtet auch Dinge an, schockiert, stößt ab, ist möglicherweise beleidigend oder noch Schlimmeres. Wenn aber vom Gegenüber das Schlimmste erwartet wird, ist das wie eine unheilvolle Einflussnahme auf den weiteren Verlauf der Dinge, sprich: Es wird schlimmer, wenn sich Menschen abwenden, wenn sie Kündigungen aussprechen, wenn sie sich distanzieren. Insofern hat auch die Gesellschaft als Ganzes eine Verantwortung dafür, ob es Menschen mit psychischen Krankheiten, in diesem Fall Schizophrenie, gut geht oder eben nicht.
Es gibt viele Menschen mit schweren Schicksalen, die es hinnehmen müssen, dass sich andere von ihnen distanzieren, weil diese nicht die Kraft finden, sich mit schwierigen Fragen zu befassen. Trotzdem glaube ich, dass die psychischen Krankheiten und hier die Schizophrenie, noch einmal eine Sonderposition einnehmen. Während sich meiner Einschätzung nach und auch nach Umfragen, etwa von der Universität Greifswald, in Sachen Depression gerade nach dem Selbstmord von Fußball-Nationaltorwart Robert Enke einiges getan hat und sich viele wie etwa Publizistin Miriam Meckel als „Burnout“-Patienten geoutet haben, besteht bei bipolarer Störung („manisch-depressiv“) oder Schizophrenie – beide gehen mit Psychosen einher – noch erheblicher Redebedarf in der Öffentlichkeit.
Zwar hat der Schriftsteller Thomas Melle mit seinem Buch „Die Welt im Rücken“ hier ganz bestimmt schon ein wenig erreichen können. Aber bei so einem schweren Tabu-Thema bedarf es möglicherweise einer konzertierten Aktion von vielen Menschen, die ihre Stimme erheben. Das können Patienten sein, aber im Prinzip alle, die betroffen sind. Und das dürften in unserer Republik direkt oder indirekt eine ganze Menge Menschen sein. Viele schämen sich, und viele haben Angst vor gesellschaftlichen Todesurteilen.
Eigentlich müsste man doch sagen: Das gibt es nicht. Das darf doch nicht wahr sein. Eigentlich müsste man sagen: Ich mache da nicht mehr mit und ich möchte da etwas tun. Das war mein Impuls, dieses Buch zu schreiben und auch jetzt diesen Text. Natürlich dürfen wir bei der Diskussion nicht stehen bleiben. Aber erstens ergeben sich durch Diskussion viel mehr Antworten auf quälende Fragen, weil eben viele Menschen ihre Erfahrungen einbringen. Und zweitens wären, wenn eine öffentliche Diskussion an einigen Stigmata rütteln würde, ganz andere Voraussetzungen gegeben. Etwa dafür, dass mehr Geld sowohl in die Erforschung dieser Krankheiten als auch in den Therapiebereich gesteckt würde. Dafür, dass psychisch Kranke, die es möglicherweise am allernotwendigsten brauchen, auch Psychotherapieplätze bekommen. Dass Psychotherapeuten sich für Spezialausbildungen in dieser Richtung interessieren und gerne mit Menschen arbeiten, die Psychosen hatten. Dass diese Perspektiven haben, weil sie in der Mitte der Gesellschaft stehen statt außerhalb und nicht sofort von ihrem Arbeitsplatz vertrieben werden, sobald sich erste Anzeichen einer Psychose und nicht-konformes Verhalten zeigen. Dass im Einzelfall und nicht generell entschieden wird und Wege zurück nicht völlig ausgeschlossen werden.
Von daher weiß ich doch, dass wir bislang zu wenig über psychische Krankheiten geredet haben. In meinem Buch habe ich gegenüber dem Heidelberger Arzt für Psychotherapie, Dr. Gunther Schmidt, die Hoffnung geäußert, dass ich eines Tages mit dieser Diagnose umgehen kann wie andere mit der Diagnose „Diabetes“. Er sieht diesen Tag zwar noch nicht so schnell kommen, wäre aber sicher positiv überrascht, wenn sich doch etwas tut.
Und diese Hoffnung habe ich auf alle Fälle. Ich bin Journalistin, und den Journalisten sagt man ja eine gute Nase nach für den richtigen Zeitpunkt, wann ein Thema reif ist. Ich bin mir in meinem Fall, also beim Thema Schizophrenie, nicht ganz sicher, denn schließlich bin ich sehr befangen. Aber es könnte ja sein.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Bundesverfassungsgericht „Intersexualität“ als drittes Geschlecht anerkennt – diesen Bezug stelle ich wegen der Stigmatisierung von Intersexuellen gerne her. In dieser Zeit dürften doch auch die Irren, wie zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen, eine Chance bekommen, nicht einfach abgewertet und aussortiert zu werden. Sondern einen würdigen Platz zu finden. Wie schon gesagt: in der Mitte und nicht am Rande der Gesellschaft.
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Christiane Wirtz
Christiane Wirtz, 1966 in Leverkusen geboren, ist Journalistin und Historikerin.
Nach ihrem Studium in Mainz hat sie sowohl für Tageszeitungen als auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) in fester Anstellung und freiberuflich gearbeitet.
Sie wohnt in Köln und ist nach ihrer letzten Psychose ebenfalls als Coach tätig für Menschen, die schwere Schicksale haben.
Im März ist ihr Buch „Neben der Spur. Wenn die Psychose die soziale Existenz vernichtet. Eine Frau erzählt“ im Dietz Verlag erschienen.
Info: Mehr Informationen unter: veraenderung-kunst.de
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