"Ordnung muss sein", sagte mein Großvater. Er war Sozialdemokrat, lebte in Norddeutschland und beschnitt jeden Samstag seine Obstbäume vor der Sportschau. Er liebte, obwohl sein Herz für Werder Bremen schlug, Franz Beckenbauer, den Kaiser. Wenn wir samstagnachmittags zu Besuch kamen, stand das Tor zum Hof schon auf und alles war, wie es schon immer gewesen war. Der Obstgarten, die Baumschere, ein paar gute Worte über den Kaiser.
"Ordnung muss sein", ich konnte eine Zeit lang keinen dieser gut gemeinten "Theater muss sein"-Aufkleber sehen, ohne dabei an meinen Ordnungsgroßvater zu denken. Eine wirkliche Überraschung hat er wohl nicht erlebt. Weder hat ihn meine Großmutter, soweit ich weiß, betrogen - nein, nein, diese Unordnung hätte sie ihm nicht angetan! - noch seine Sparkasse, noch sein Autohändler. Die einzigen Skandale, von denen er sprach, war die "Guillaume-Affäre" um Willy Brandt und dass meine Mutter auf eine Schauspielschule wollte.
"Ordnung hilft haushalten", rief meine Großmutter wie andere den "Faust" zitierten, sie hätte ihren Haushalt auch blind verrichten können, denn auch hier stand immer alles da, wo es schon immer gestanden hatte.
"Ordnung erhält die Welt", googelte ich später den deutschen Volksmund, gesammelt von Karl Simrock. Und im deutschen Volksmund wimmelt es nur so von Ordnungsbegriffen. Es gibt wohl keine Sprache auf der Welt, die so besessen die Ordnung feiert wie die deutsche. Ordnungshüter, Ordnungsmacht, Ordnungswidrigkeit, Ordnungsamt, Ordnungsruf, geht in Ordnung, eine ordentliche Leistung, geordnete Landschaften, ordentliche Prügel und so weiter - bis hin zu "Ordnung hat Gott lieb." Und jetzt und heute?
Was hätten meine Großeltern - die sich noch aus einer halbwegs geordneten Welt verabschiedeten - wohl zum vergangenen Jahr gesagt? Wenn ich eine Rangliste der skandalösesten deutschen Skandale der letzten Jahre aufstellen müsste, dann wäre das Jahr 2015 bestimmt das skandalöseste Jahr der Deutschen überhaupt, denn irgendwie kommt es mir so skandalös vor, als seien jene Guillaume-Affäre, die Barschel-Affäre, der Flick-Skandal und der CDU-Parteispendenskandal quasi alle in ein Jahr gefallen.
An erster Stelle steht natürlich der VW-Skandal, gefolgt vom DFB-Skandal, dahinter rangiert der Deutsche Bank-Skandal (Ja, schon wieder!) und der Hypo-Vereinsbank-Skandal. Es gibt noch weitere Skandale, aber schön der Reihe nach.
Früher gab es in Deutschland nur zwei Arten von Skandalen: Ernährungsskandale und Naziskandale. Gammelfleisch, Schweinemast, BSE, Nematoden in Seefischen wechselten mit Naziskandalen jeder Art. Man konnte sich auf die regelmäßigen Naziskandale, Hitlervergleiche, Hitlerrautobahnlobpreisungen oder sonst was verlassen wie auf die Pestizide auf Paprika, Mineralöl in Hühnereiern oder Salmonellen in Schokolade. Währenddessen lief aber alles nach strenger Ordnung in Deutschland ab: Die Bahn fuhr pünktlich, die deutschen Flugzeuge flogen sicher, die deutschen Autos waren die ehrlichste Wertarbeit überhaupt, made in Germany, man fuhr sogar doppelt abgesichert mit den freundlichen Helfern vom ADAC, mein Opa auch, er kaufte nur Automobile, die ihm der gute alte ADAC "auf Herz und Nieren geprüft hatte", wie er sagte, eigentlich sein unordentlichster Satz, fällt mir gerade auf.
Der VW-Skandal muss auf jeden Fall ganz oben stehen. Erstens war VW schon in den ADAC-Skandal von 2014 verwickelt, weil sie von guten Platzierungen der getürkten ADAC-Auto-Hitparaden profitierten. Und zweitens kam ja beim DFB-Skandal hinten wenigstens noch ein Sommermärchen heraus und nicht nur stinkendes CO2. ("Getürkt" darf man eigentlich nicht mehr sagen, "gedeutscht" wäre schon fast angebrachter!)
Der DFB-Skandal hatte es allerdings auch in sich. Ausgerechnet unter der Leitung von Franz Beckenbauer werden von einem schwarzen Konto 6,7 Millionen Euro auf irgendein geheimes, noch schwärzeres, blatterhaftes FIFA-Konto überwiesen. Zurückfließen lichte, schöne 120 Millionen und der WM-Zuschlag, später werden die 6,7 Millionen vom DFB irgendwie wieder sehr dunkel dahin zurücktransferiert, wo sie herkamen.
Der Bankenskandal war noch komplizierter. Leider fallen Bankenskandale nicht mehr so auf, weil man sich an sie gewöhnt hat wie an Ernährungsskandale oder Naziskandale, aber der Skandal in den schon wieder die Deutsche Bank verwickelt war, ist extrem skandalös.
Staatsanleihen in Absprache mit anderen Banken künstlich zu drücken, um die Anleihen dann am Sekundärmarkt zu teureren Preisen zu verkaufen, ist insofern skandalös, weil die Banken damit Milliarden verdienen und weil die Preise für Staatsanleihen den Zins bei Hypothekenkrediten oder Autokrediten vorgeben.
Das heißt, man kauft sich mit manipulierten Krediten der Deutschen Bank einen Volkswagen mit manipulierten Abgaswerten von VW. So ist das mittlerweile in Deutschland. Heute stecken in einem Skandal gleich mehrere, wir leben in einem Land der ineinander geschachtelten Skandale, denn der VW-Abgasskandal ist ja auch ein Steuerskandal.
Getürkte CO2-Angaben, ich meine gedeutschte CO2-Angaben sind ja auch an die KfZ-Steuer gekoppelt, das heißt, das Finanzamt will jetzt Nachzahlungen, das geht natürlich in die Milliarden!
Überhaupt sind die heutigen komplizierten und ineinander geschachtelten Skandale (im DFB-Skandal steckt auch der Fifa-Skandal und im Fifa-Skandal stecken unzählige noch unaufgedeckte Staatsskandale) in einem interessanten Verhältnis von neuen und alten Wertvorstellungen gemischt.
Je höher das Amt, je höher die Position, desto gängiger scheint es zu sein, dass Regeln etwas für Verlierer sind. Ja, Regeln sind neuerdings etwas für Verlierer! Und da alle Gewinner ohne Regeln handeln, scheint der Regelverstoß schon fast wieder normal. Und welcher Kleinsparer soll beispielsweise schon die Cum-und Ex-Börsengeschäfte durchblicken, bei der sich Banken die Kapitalertragssteuer mehrmals erstatten lassen (Hypo-Vereinsbank-Skandal 2015!)
"Darum bin ich ja bei der Sparkasse!", hätte mein Großvater wahrscheinlich gesagt, aber selbst die Sparkasse ist auch nicht mehr das, was sie einmal war, denn Politiker sitzen heute in sogenannten Sparkassen-Aufsichtsräten mit fünfstelligen Aufwandsentschädigungen im Jahr, da wäre mein Opa vermutlich mit seiner Obstbaumschere vor Wut in den örtlichen Aufsichtsrat gerannt.
Das Selbstbild der Deutschen ist längst aus allen Fugen. Wir lügen, tricksen und betrügen wie alle anderen auch. (Und die Bahn kommt auch nicht mehr pünktlich!) Nur sieht man die Skandale nicht mehr so deutlich, sie schlummern oft jahrelang im Detail wie in den Messungen von VW, den Kontobewegungen beim DFB und den Zinsmanipulationen der Banken.
Saftige Skandale wie der des Ergo-Versicherungskonzerns Hamburg Mannheimer (HMI), der für seine besten 100 Vertreter eine rauschende Sex-Party in der Budapester Gellert-Therme organisierte, sind heute eher den unsichtbaren kalten, zahlenmanipulierenden Skandalen gewichen.
Aber sobald ein Skandal aufgedeckt wird, wird er von unten schön deutsch auseinandergenommen, das ist das Ambivalente des neuen Deutschseins: oben lügen und tricksen und unten, da rächt sich dann der deutsche alte Ordnungsgeist, solange bis alle zurückgetreten und vernichtet sind, oftmals über alle Stränge schlagend, wie im Fall des Bundespräsidenten Wulff, der sich letztlich nur zum Oktoberfest hatte einladen lassen.
Welche Skandale schleppen wir mit ins neue Jahr? Alle! Inklusive die Evergreen-Skandale Flughafen BER in Berlin (ein Berliner Jahrhundert-Skandal), dazu NSU (auch ein Verfassungsschutzskandal) und NSA (Geheimdienstskandal) sowie den traurigen Berliner Lasego-Skandal (ein Unmenschlichkeitsskandal).
Habe ich schon erwähnt, dass es auch einen TÜV-Skandal gibt? Der TÜV soll unsere Hauptuntersuchungen manipuliert haben. Das ist der neueste Skandal. Die Messgeräte von TÜV, Dekra und GTÜ seien "alle falsch kalibriert", heißt es.
Das muss man sich mal vorstellen, zusammengefasst heißt das: Man kauft sich mit manipulierten Krediten der Deutschen Bank einen Volkswagen mit manipulierten Abgaswerten, um dann mit seiner Karte vom Skandalverband ADAC nichtsahnend über die Hitlerautobahn zu brettern - und das nun auch noch vom TÜV falsch kalibriert!
Gut, dass der Ordnungsgroßvater das alles nicht mehr erlebte. "Servus", würde die Lichtgestalt aus Bayern dazu sagen. Bearbeitet von Lara Sturm
Moritz Rinke
Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen.
Von 1994 bis 1996 arbeitete er beim Berliner Tagesspiegel. Für seine Reportagen erhielt er zweimal den Axel-Springer-Journalistenpreis.
1995 debütierte er als Dramatiker mit "Der graue Engel". Rinkes "Republik Vineta" wurde in der Kritikerumfrage der Zeitschrift "Theater heute" zum besten deutschsprachigen Stück der Spielzeit 2000/01 gewählt.
2010 stand Rinkes Roman "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" wochenlang auf der Bestsellerliste stand. 2014 erschein sein Buch "Erinnerungen an die Gegenwart" im Kiepenheuer & Witsch Verlag. (ls)
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