Debatte

Macht uns die KI bald alle arbeitslos, Herr Callies?

Die Künstliche Intelligenz verändert die Arbeitswelt von Grund auf. In einigen Bereichen arbeitet sie bereits besser als der Mensch, doch in vielen Dingen scheitert sie auch. Ein Gastbeitrag.

Von 
Sebastian Callies
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Wer in seinem Job weiterhin erfolgreich sein will, der kommt an Künstlicher Intelligenz nicht vorbei, sagt Sebastian Callies. © Getty Images

Mannheim. Plötzlich ist das Alter ein Wettbewerbsvorteil. Während Künstliche Intelligenz (KI) immer mehr Aufgaben übernimmt, steigt der Wert des menschlichen Urteils. Wer sein Fachgebiet durchdrungen hat, erkennt, was fehlt – und wo die Technologie an ihre Grenzen stößt. Klar ist: KI verändert unsere Arbeitswelt dramatisch. Und ausgerechnet erfahrene Fachkräfte könnten dabei zu den größten Gewinnern werden.

Die Idee der Künstlichen Intelligenz ist keineswegs neu. Seit den 1950er-Jahren versuchen Forscher, Maschinen das Denken beizubringen. Nun aber erleben wir einen Wendepunkt. Frühe KI-Systeme waren auf einzelne Aufgaben spezialisiert. Sie konnten sehr gut Schach spielen, Gesichter erkennen, Sprache übersetzen, aber mehr auch nicht. Die neuen Modelle dagegen können Zusammenhänge erkennen und verfügen über schier unendliches Wissen aus allen Bereichen. Sie erzeugen Bilder, Texte und Videos und sind für jedermann nutzbar.

Massenarbeitslosigkeit durch KI?

Diese Entwicklung wirkt sich dramatisch auf den Arbeitsmarkt aus. Laut McKinsey könnten in den nächsten Jahren ein Drittel aller Arbeitsstunden durch KI automatisiert werden. Nobelpreisträger Geoffrey Hinton, Urvater der KI, warnte jüngst vor einer Massenarbeitslosigkeit durch KI. In der alltäglichen geistigen Arbeit könne die KI bald einfach jeden ersetzen, sagte er in einem Interview. Das klingt dramatisch. Aber noch zeigt die Praxis ein differenzierteres Bild.

Beispielsweise in der Medizin. KI erkennt Hautkrebs schon jetzt präziser als Fachärzte. Doch die Diagnose vermitteln, den Patienten beruhigen und ihn während seiner Behandlung begleiten, das können nur erfahrene Mediziner. In der Architektur generiert KI in Minuten Dutzende Entwürfe, aber erst der Architekt mit jahrelanger Berufserfahrung erkennt, welche davon realisierbar sind und seinen Auftraggeber begeistern werden. Bei der Geldanlage analysiert KI etwa für BlackRock riesige Datenmengen in Sekunden, doch die Entscheidungen und die Kundenberatung bleiben menschliche Domänen.

Der Stunde der Branchenveteranen hat geschlagen

Dabei ist ein überraschendes Muster erkennbar. Während bislang die Digital Natives die Digitalisierung dominierten, schlägt nun die Stunde der Branchenveteranen. Ihr entscheidender Vorsprung liegt im Urteilsvermögen. Profis wissen, wo der Schuh drückt. Sie stellen die richtigen Fragen und können erkennen, wenn KI-Ergebnisse in die Irre laufen.

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Warum wird dieses Gespür wertvoll? Weil KI weiterhin fundamentale Schwächen hat. Die Sprachmodelle halluzinieren. Sie erfinden Studien oder fälschen Zitate. Ihre Inhalte können oberflächlich überzeugen, sind aber keinesfalls wasserdicht. Apple-Wissenschaftler haben die Branche jüngst mit einer Studie aufgerüttelt und das KI-Denken als „Illusion“ bezeichnet. Die Systeme sind wie begabte Schüler, die alle Prüfungsantworten auswendig gelernt haben, aber bei der ersten unerwarteten Frage ins Stocken geraten. Bereits geringfügige Änderungen in der Aufgabenstellung, und ihre Leistung bricht dramatisch ein.

Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) warnt derweil vor den Auswirkungen auf das Lernen und unser Gehirn. Studierende, die ChatGPT für Hausaufgaben nutzen, zeigen zwar kurzfristig bessere Noten, schneiden aber in späteren Tests ohne KI-Hilfe deutlich schlechter ab. Die Systeme seien wie Taschenrechner für das Denken, erklärt einer der Studienleiter. Kurz: Die Studenten verlernen das eigenständige Problemlösen. Wer sein Fachgebiet dagegen beherrscht, kann KI als das nutzen, was sie ist: ein mächtiges Werkzeug, das menschliche Führung braucht.

Während früher Programmiersprachen oder teure Software nötig waren, reichen heute Rechner, Browser und eine präzise Formulierung in natürlicher Sprache.
Sebastian Callies

Was diese Symbiose so kraftvoll macht, ist ein fundamentaler Wandel. Während früher Programmiersprachen oder teure Software nötig waren, reichen heute Rechner, Browser und eine präzise Formulierung in natürlicher Sprache. Wer weiß, was er will und wohin er steuert, kann diese neuen Möglichkeiten optimal nutzen. Wer orientierungslos experimentiert, verliert sich dagegen im Dickicht der Optionen.

Die Vorreiter verstehen dieses Prinzip bereits. Die 75-jährige Starfotografin Annie Leibovitz nutzt KI-gestützte Bildbearbeitung selbstverständlich als kreativen Partner. Ihre jahrzehntelange Erfahrung mit Licht und Komposition macht den Unterschied. Jordan Rudess, 68-jähriger Keyboarder der Progressive-Metal-Band Dream Theater, entwickelte mit einer amerikanischen Universität ein KI-Musiksystem für Improvisationen. Seine musikalische Virtuosität verleiht der Technologie erst Seele. Bodenständiger zeigt sich das Prinzip bei den Gebrüdern Digwa aus der Nähe von Hannover. Sie setzen in ihrer Brauerei auf eine intelligente „digitale Nase“, die den optimalen Gärungszeitpunkt erkennt. Ihr traditionelles Brauhandwerk verschmilzt mit modernster Sensortechnik.

Die Faszination für KI hält sich in Deutschland in Grenzen

Solche Vorreiter sind hierzulande leider noch die Ausnahme. Die Faszination rund um KI will sich in Deutschland partout nicht einstellen. Nur jedes fünfte Unternehmen setzt bereits KI-Technologien ein. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt zudem, dass zwei Drittel der Deutschen in KI mehr Risiken als Chancen sehen. Besonders ausgeprägt sind die Sorgen um Datenschutz, Arbeitsplatzverluste und die Gefahr von Manipulation. Entsprechend sind Jobs für Entwickler und Anwender von KI auf dem deutschen Arbeitsmarkt bislang kaum ausgeschrieben.

Diese deutsche Zurückhaltung wird international zum Nachteil. Singapur beispielsweise hat ein 700-Millionen-Dollar-Programm aufgelegt, um seine gesamte Bevölkerung KI-fit zu machen. Der Stadtstaat verfolgt eine klare Strategie: Von der Grundschule bis zum Seniorenheim sollen alle Bürger lernen, KI sinnvoll zu nutzen. Chinas Unternehmen wie Deepseek überraschen mit KI-Modellen, die um den Faktor 100 günstiger sind als die westliche Konkurrenz und dabei vergleichbare Leistungen bieten. Die USA investieren mit dem Stargate-Projekt derweil 500 Milliarden Dollar in eine KI-Infrastruktur. Europa perfektioniert dagegen mit neuen Gesetzen erst einmal die Sicherheitsvorschriften für den Startplatz, während andere bereits zu den Sternen fliegen.

Wenn der Maschinenbauer nicht selbst mit KI experimentiert, wird es kein Gesetz für ihn tun.
Sebastian Callies

Besonders paradox ist, dass sich viele Erfahrene in ihrer Komfortzone eingerichtet haben, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der KI ihnen neue Chancen eröffnet. „Das haben wir schon immer so gemacht“ wird zur gefährlichen Falle. Wie ein Schiffskapitän, der bei Sturm stur auf dem alten Kurs beharrt, während GPS und Radar längst neue Routen vorschlagen. Dabei hätten gerade diese Menschen die besten Voraussetzungen, von der KI-Revolution zu profitieren. Ihre Expertise ist der Schlüssel. Es braucht nur den Mut, sie mit neuen Werkzeugen zu kombinieren.

Die anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche meistern wir nicht durch Anweisungen aus Ministerien oder Konzernen. Sie gelingen nur durch individuelles Lernen und Handeln. Wenn der Maschinenbauer nicht selbst mit KI experimentiert, wird es kein Gesetz für ihn tun. Wenn die Ärztin nicht neue Diagnoseverfahren testet, können ihre Patienten nicht davon profitieren. Denn ob wir KI furchtbar oder fruchtbar finden, sie wird den Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren weltweit auf den Kopf stellen. Viele Tätigkeiten werden in der bisherigen Form nicht mehr benötigt oder künftig ganz anders aussehen. Passivität ist daher keine Option mehr.

Der Gastautor



Sebastian Callies berät als Geschäftsführer der Mannheimer Markenagentur Callies & Schewe internationale Digitalunternehmen .

Sein BuchSchubkraft. Die neue Intelligenz aus Erfahrung und KI“, 196 Seiten, 21,99 Euro, ist bei Amazon erhältlich.

Der Einstieg muss nicht kompliziert sein. Beginnen Sie mit dem, was Sie bereits können, und ergänzen Sie es schrittweise um KI-Tools. Der Steuerberater lässt sich bei Recherchen und Berechnungen helfen, die Übersetzerin nutzt KI für erste Entwürfe, der Handwerker optimiert seine Materialkalkulation. Dabei profitieren gerade gemischte Teams: Erfahrene bringen das Urteilsvermögen mit, Jüngere ihre Energie und Neugier.

Ganz gleich, wie brillant die Algorithmen auch rechnen mögen – noch bleibt der Mensch der Dreh- und Angelpunkt. Ohne seinen kulturellen Kontext, sein Urteilsvermögen und die emotionale Intelligenz ist KI nur ein blindes Werkzeug. Die Zukunft gehört denjenigen, die ihr Erfahrungswissen mit den grenzenlosen Möglichkeiten der neuen Technologie verschmelzen. Gelingt das, sind die Aussichten für uns alle gar nicht so schlecht.

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