Debatte

Macht Profitdenken unser Gesundheitswesen krank, Herr Egle?

Von 
Christian Egle
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In einem Gesundheitssystem, das zu stark auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, bleibt der Mensch auf der Strecke. © Istock/Jelica Bosotin

Die Diagnose von Mario Monti fällt eindeutig aus: Kurzsichtigkeit. Im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat der ehemalige italienische Premier untersucht, woran die europäischen Gesundheitssysteme während der Covid-19-Pandemie krankten. „Wir brauchen eine neue Vision“, rief der Vorsitzende der Paneuropäischen Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung die Staaten im September 2021 auf. „Künftige Generationen werden uns nicht für unsere Kurzsichtigkeit danken.“

Keine Frage, die Pandemie hat uns gezeigt, wie dringend wir auch im deutschen Gesundheitswesen Weitsicht benötigen. Wie ein Mikroskop hat die Corona-Krise die Schwächen unseres Gesundheitssystems offenbart und es an seine Belastungsgrenzen geführt. Wir haben durch das Virus schmerzhaft erfahren müssen, dass wir Gesundheit nicht länger marktwirtschaftlichen Prinzipien überlassen dürfen. Doch wie könnte eine Vision mit mehr Weitblick aussehen?

Unser deutsches Gesundheitswesen hat eine ganzheitliche Therapie - kein Herumdoktern an einzelnen Symptomen - dringend nötig. Wir leisten uns eines der teuersten Systeme der Welt: 411 Milliarden Euro sind 2019 laut Statistischem Bundesamt in den Gesundheitssektor geflossen. Das entspricht knapp 5000 Euro pro Bürger und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von rund zwölf Prozent. Die Arztdichte ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen, nach Angaben der Bundesärztekammer waren Ende 2020 knapp 410 000 Ärzte in Deutschland tätig, mehr als ein Viertel davon niedergelassen. Die Zahl der Krankenhäuser liegt bei circa 1900. Trotz dieser Investitionen schneidet der Gesundheitssektor in Studien aber nur mittelmäßig ab; gerade beim Thema Digitalisierung hat Deutschland Aufholbedarf. Auf die Herausforderungen der Zukunft - demografische Entwicklung, Kostendruck und Fachkräftemangel - müssen wir neue Antworten finden. Ein „Weiter so“ kann es nicht geben.

Insbesondere der steigende ökonomische Druck hat dazu geführt, dass aus dem Blickwinkel geraten ist, was im Mittelpunkt stehen sollte: Menschlichkeit, Wertschätzung, Empathie und Fürsorge für den Patienten. Zugegeben, es ist beeindruckend, wie sich die Medizin weiterentwickelt hat: Unser Wissen wächst rasant, neue Verfahren wie die Magnetresonanztomographie haben Diagnostik und Therapie revolutioniert, neue Disziplinen der Medizin wie die Immunologie sind entstanden.

Gleichzeitig ist unsere Versorgung aber auch immer anonymer und unpersönlicher geworden. Der Fokus auf apparative Medizin hat dafür gesorgt, dass Patienten zu Fällen wurden und Leistungen zu Punkten. In diesem System treffen Patienten auf medizinisches Personal, das unter Zeitdruck steht und oftmals nicht die Zuwendung geben kann, die Menschen in einer verletzlichen Phase ihres Lebens bräuchten. Hinzu kommt: Unser historisch gewachsenes Gesundheitswesen mit seiner Teilung in den ambulanten und den stationären Sektor und seiner Fragmentierung schafft eine Komplexität, die kaum ein Patient überschauen kann - mit der Folge, dass Kranke nicht ganzheitlich versorgt werden oder Anschlussbehandlungen ausbleiben.

Jede Organisation handelt aus ihrer eigenen, auch betriebswirtschaftlich geprägten Angebotslogik heraus, weniger nach dem Bedarf des Patienten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin davon überzeugt, dass wir Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen brauchen. Ein Denken, das aber zu stark auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, muss zwangsläufig zu Lasten des Patienten gehen. Deshalb ärgert es mich, wenn im Gesundheitssektor vom „Kunden“ die Rede ist. Gesundheit ist kein Produkt wie jedes andere, anders als beim Friseur oder Bäcker kann der Kranke kaum eine freie Wahl treffen.

Deshalb müssen wir unser Gesundheitssystem so verändern, dass die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt rückt. Wie kann das gelingen? Wir schlagen die flächendeckende Einführung eines Lotsensystems vor. Lotsen sind geschulte Menschen, die Patienten durch das Gesundheitswesen führen und sich wie ein Anwalt für deren Rechte einsetzen. In Projekten werden Lotsenmodelle schon erfolgreich eingesetzt, beispielsweise bei der Deutschen Schlaganfall-Hilfe. Lotsen begleiten dort Schlaganfall-Patienten und tragen dazu bei, dass das Risiko von Folgeerkrankungen und Rezidiven sinkt. Der Gedanke eines Anwalts des Patienten kann auch in der stationären Versorgung aufgegriffen werden: So arbeitet etwa die Uniklinik Köln mit Case Managern zusammen, die Patienten in der Klinik begleiten. Zusätzlich wird sich die Rolle der Krankenkasse (und ihrer Mitarbeiter) hin zu einem Gesundheitsassistenten und Coach mit dem Ziel der unterstützten Prävention und Versorgung wandeln. Ein wichtiges Instrument sind dabei digitale Werkzeuge - sie ermöglichen Anwendungen wie Symptom-Checker mit Empfehlungen auf Basis der individuellen Gesundheitshistorie oder Video-Sprechstunden mit erfahrenen Medizinern. Die AOK zeigt hier bereits sehr gute Beispiele.

Viele innovative Modelle sind naturgemäß eng mit der Region verbunden. Insgesamt braucht die kommunale Ebene eine deutliche Stärkung durch die Gesundheitspolitik. Das entspräche einer neuen Grundlogik im deutschen Gesundheitssystem, denn gesetzestechnisch liegen Gesundheits-, Sozial- und Kommunalpolitik noch weit auseinander. „Act locally“ (lokal handeln) ist daher unsere Empfehlung, Gesundheitsangebote müssen im Umfeld der Menschen verankert werden. Das betrifft beispielsweise Menschen, die mit Pflegebedarf aus dem Krankenhaus entlassen werden und durch kommunale Angebote aufgefangen werden.

Nähe ist ein wesentlicher Faktor in der Gesundheitsversorgung, sie kann aber auch über Distanz hinweg geschaffen werden, gerade in ländlichen Räumen: durch den Ausbau digitaler Anwendungen. In diesem Bereich lassen wir derzeit noch viel Potenzial brachliegen. Wir wünschen uns ein Gesundheitssystem 4.0, haben bislang aber allenfalls Stufe 1.5 erreicht. Dabei könnten digitale Technologien dazu beitragen, mehr Menschlichkeit zu schaffen. Sie befähigen Menschen dazu, sich zu informieren und bessere Entscheidungen zu treffen - ein wesentlicher Faktor, um das hierarchisch geprägte Verhältnis zwischen Arzt und Patient zu verändern und den mündigen Patienten Wirklichkeit werden zu lassen. Gleichzeitig tragen digitale Technologien wie Künstliche Intelligenz zu einer guten Versorgung bei und entlasten das medizinische Personal. Sie schaffen so Zeit, die dem Kranken zugutekommt.

Sich in unserem stark zersplitterten Gesundheitssystem zurechtzufinden ist für viele Menschen eine Herausforderung. Barrieren könnten abgebaut werden, wenn die verschiedenen Ebenen und Einrichtungen stärker kooperierten. Das setzt die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen voraus, die bereits in Studium und Ausbildung trainiert werden müsste. Derzeit ist Interprofessionalität allerdings nur ein Schlagwort im Gesundheitswesen. Dabei wäre es ausgesprochen hilfreich, wenn Berufsgruppen wie Pflegekräfte, Ärzte und Physiotherapeuten im Sinne des Patienten an einem Strang ziehen würden. Ein ganzheitliches Behandlungskonzept entsteht erst durch verschiedene Betrachtungsweisen auf eine Patientin, einen Patienten.

Eine interprofessionelle Zusammenarbeit als Schlüsselkonzept für unser Gesundheitssystem muss aber politisch gewollt sein - ebenso wie die Aufhebung der derzeitigen Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die ich als dringend notwendig erachte. Da die stationäre Versorgung staatlich, die ambulante Versorgung verbandlich organisiert ist, bedarf es in diesem Bereich eines grundsätzlichen strukturellen Wandels, der mehr Menschlichkeit ins Gesundheitswesen bringen würde.

Auch die ökonomischen Anreizsysteme im Gesundheitswesen müssen grundlegend überarbeitet werden. Während die Apparatemedizin überdurchschnittlich gut bezahlt wird, sind Arzt-Patienten-Gespräche ein Stiefkind in der Abrechnung. Dieses Vergütungssystem schafft Fehlanreize, die zu einer Über- oder Fehlversorgung, etwa in Form von unnötigen Operationen, führen können. Unser Vorschlag: mehr Geld für die sprechende Medizin, mehr Einsatz von Vergütungsmodellen mit Patientenbeteiligung wie „Pay per performance“ - qualitätsorientierte Vergütung -, bei denen die Zufriedenheit des Patienten zählt. Damit würden wir den Menschen zum Maß des Handelns machen - und das muss unser Ziel sein.

Der Gastautor

Christian Egle ist Diplom-Kaufmann und Leiter des Sektors Gesundheitswesen bei EY in EMEIA (Europa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika) und Europe West.

Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungsexpertise in sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens - von Versorgern und Kostenträgern über Medizintechnik bis zur pharmazeutischen Industrie.

Unter seiner Herausgeberschaft ist vor Kurzem das Buch „Patient: Gesundheitssystem - Neue Menschlichkeit als Therapie“ im Murmann Verlag erschienen.

Der Gastautor

Christian Egle ist Diplom-Kaufmann und Leiter des Sektors Gesundheitswesen bei EY in EMEIA (Europa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika) und Europe West.

Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungsexpertise in sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens – von Versorgern und Kostenträgern über Medizintechnik bis zur pharmazeutischen Industrie.

Unter seiner Herausgeberschaft ist vor Kurzem das Buch „Patient: Gesundheitssystem – Neue Menschlichkeit als Therapie“ im Murmann Verlag erschienen.

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