Machen Ärzte und Pharmaunternehmen den Menschen erst zum Patienten, Herr Blech?

Es gibt auf der Welt genügend Krankheiten. Man muss nicht noch weitere hinzufantasieren. Aber genau das tun bestimmte Interessengruppen, sagt der Journalist Jörg Blech. Ein Gastbeitrag.

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Jörg Blech
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Bunte Pillen und Tabletten liegen auf einem Tisch. Die Pharmaindustrie bietet für jedes Leiden und mehr oder wenige schlimme Wehwehchen ein passendes Medikament. Ob dies wirklich immer sinnvoll ist, ist fraglich.

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Schon viele Frauen haben sich gefragt, was mit ihrem Mann los ist. Der einst so vitale Partner wird immer dicker. Nachts liegt er grübelnd wach, tagsüber ist er gereizt. Lust auf Sex hat er auch nicht mehr. Lässt der Kerl sich hängen? Oder liegt es daran, dass sein Körper nicht mehr aus-reichend Männlichkeitshormone produziert? Blättert man in der Broschüre einer Pharmafirma, scheint die Sache klar. "In Deutschland leiden immer mehr Männer an Testosteron-Mangel. Fast jeder vierte ab dem 60. Lebensjahr ist davon betroffen", sagen Mitarbeiter des Unternehmens Dr. Kade/Besins in Berlin. Sogar "Männer in jüngeren Jahren können von einem zu Beschwerden führenden Testosteron-Mangel betroffen sein." Wie es der Zufall will haben die besorgten Pharmaleute ein Gegenmittel im Angebot: ein Testosteron-Gel, das man sich auf den Bauch schmieren kann.

Die Wechseljahre des Mannes sind ein Lehrstück für eine erfundene Krankheit. Mitarbeiter pharmazeutischer Firmen und Ärzte deuten natürliche Wechselfälle und normale Verhaltensweisen systematisch als krankhaft um. Sie medikalisieren unser Leben. Früher versuchte man, gegen jede Krankheit einen Wirkstoff zu finden. Heute läuft es oftmals umgekehrt - für jeden Wirkstoff wird nach einer Krankheit gesucht.

Kurz bevor das Testosteron-Gel vor einigen Jahren auf den Markt kam, verbreitete eine PR-Firma die Meldung, dass zwei Drittel der befragten Männer "klimakterische Beschwerden hätten: "Dass ein Tes-tosteron-Defizit hierbei ursächlich sein kann, ist mehrheitlich allerdings unbekannt." Hinter der Meldung stand Kade/Besins, das erfuhr man allerdings nicht. Ein anderer Hersteller, Jenapharm, streute die Botschaft, dass man von "mindestens 2,8 Millionen Betroffenen in Deutschland" ausgehen müsse.

Die Deutsche Gesellschaft für Urologie stellte klar: Männer kommen gar nicht in die Wechseljahre. Tatsächlich ist das Nachlassen der Testosteron-Produktion eine normale Begleiterscheinung des Alters und nur selten Auslöser der beschriebenen Symptome. Der Lebensstil - zum Beispiel Rauchen, Alkoholkonsum und Bewegung - spielt eine größere Rolle.

Dennoch läuft das Testosteron-Gel wie geschmiert, die Zahl der Rezepte in Deutschland hat sich mehr als verdreifacht. Das ist nicht ohne Risiko. Denn mehr als vierzig Prozent der Männer im Alter von über 50 Jahren haben in der Vorsteherdrüse (Prostata) kleine, schlummernde Krebsherde. Und ausgerechnet diese harmlosen Krebszellen können durch künstlich zugeführtes Testosteron zum Wachsen angeregt werden. Den Wechseljahren des Mannes können viele andere Beispiele zur Seite gestellt werden. Das Geschäft der Krankheitserfinder ist ein Megatrend in der modernen Medizin. Fünf verschiedene Strategien schälen sich heraus.

An der "disruptiven Launenfehlregulationsstörung" oder DMDD (nach der englischen Wortschöpfung "Disruptive Mood Dys-regulation Disorder") sollen Kinder lei-den, die aufbrausen und Wutanfälle haben. Die von der US-Psychiaterin Ellen Leibenluft erfundene Störung sollen mehr als drei Prozent aller Kinder haben. So klein hat die in Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) übrigens auch mal angefangen, heute zählt sie zu den häufigsten Kinderkrankheiten. Der Krankenkasse Barmer GEK zufolge bekamen knapp zwölf Prozent der Jungen im Alter von neun bis elf Jahren eine ADHS-Diagnose gestellt.

Die Altersschusseligkeit hat es ebenfalls in den Rang einer quasi amtlichen psychiatrischen Krankheit geschafft und im neuen DSM den Namen "milde neurokognitive Störung" erhalten. Das "Trauerjahr" mag dem Volksmund geläufig sein, weil es die Leute als normal empfinden, wenn ein Mensch Zeit braucht, um den Verlust eines Angehörigen oder Freundes zu verwinden. Diese Frist war im alten DSM bereits auf zwei Monate begrenzt, nun wurde sie abermals verkürzt - auf 14 Tage.

Die so genannte Fressattacken-Störung (im englischen Original "Binge Eating Disorder") soll jene Menschen betreffen, die nicht immer kontrollieren können, wie viel oder wie schnell sie essen. Um als seelisch gestört zu gelten, reicht es, wenn diese Art der Nahrungsaufnahme einmal in der Woche vorkommt, und zwar über einen Zeitraum von drei Monaten.

Freilich setzen Doktoren auf Gleichberechtigung und haben das Krankheitsbild der weiblichen Unlust entwickelt. Die "Hyopactive Sexual Desire Disorder" (HSDD) wurde auf einem Treffen von 19 Experten begründet, von denen 18 alle finanziell mit der Pharmaindustrie verbandelt waren. Laut einer Umfrage sollen 43 Prozent aller Frauen HSDD haben, aber auch dieser Befund wurde von einem Arzneimittelhersteller lanciert.

Die Mitarbeiter der Kampagne "Even the Score" (deutsch etwa: auch das Ergebnis) haben in den USA dafür die Zulassung des ersten Medikaments gegen HSDD getrommelt: Eine "pink Viagra" sei schon deshalb nötig, damit Männer mit der blauen Viagra nicht länger bessergestellt seien. Tatsächlich hat die US-Arzneimittelbehörde das altbekannte Antidepressivum Flibanserin inzwischen gegen HSDD zugelassen. Die erfolgreiche Kampagne war vom Unternehmen Sprout Pharmaceuticals unterstützt worden, dem Hersteller des Flibanserins.

Mit der Entwicklung einer Arznei erwachte das Interesse der Industrie an der angeblichen Krankheit. Das "British Medical Journal" zitierte aus einem heimlichen Entwurf einer PR-Firma. Ein auf drei Jahre angelegtes "medizinisches Erziehungsprogramm" sollte demnach den Reizdarm als "glaubhafte, häufige und richtige Krankheit" darstellen.

Das erklärte Ziel des Schulungsprogramms: "Das Reizdarm-Syndrom muss in den Köpfen der Doktoren als bedeutsamer und eigenständiger Krankheitszustand verankert werden." Auch die Patienten "müssen überzeugt werden, dass das Reizdarmsyndrom eine weit verbreitete und anerkannte medizinische Störung ist". In Wahrheit ist das Reizdarmsyndrom in weniger als fünf Prozent aller Fälle als wirklich ernst anzusehen. Einmal davon abgesehen, dass das Medikament, um das es damals ging, nicht besonders wirksam ist, wurde die Zulassung in Europa dann doch nicht beantragt. Offenbar war es dem Hersteller nicht gelungen, vorab einen Markt zu erschaffen. Es war nicht die einzige Pleite der Medikalisierer. Seitdem ich in meinem Buch "Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden." eine nach der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn benannten, vermeintlich Form der Depression, das "Sisi-Syndrom", als trickreiche Hervorbringung der Industrie enthüllt habe, ist das Leiden von der Bildfläche verschwunden.

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