„Lust auf die Überstunde“ forderten jüngst Arbeitgeberverbände und Politiker. Wir Deutschen arbeiteten zu wenig und könnten so im weltweiten Wettbewerb nicht mithalten, so die Klage. Eine verfehlte Diskussion. Die Länge der Arbeitszeit sagt nur sehr wenig darüber aus, wie leistungsfähig eine Wirtschaft ist. Dennoch dreht sich die Diskussion in Politik und Wirtschaft beinahe ausschließlich darum, wie pünktlich wir anfangen und wie lange wir arbeiten. Nun wollen einige Politiker diese besagte „Lust auf die Überstunde“ durch eine Steuerbegünstigung ab der 41. Arbeitsstunde pro Woche fördern. Das geht nicht nur komplett am Problem vorbei, sondern ist darüber hinaus auch schlicht unfair.
Denn wer in Teilzeit arbeitet, ist in den allermeisten Fällen nicht faul oder bequem, sondern sogar besonders fleißig. Oft sind dies nämlich Eltern oder alleinerziehende Mütter, denen keine andere Wahl als die Teilzeit bleibt, wenn man die ungünstigen Schließzeiten der Kitas und den mangelnden Ausbau der Ganztagsschulen betrachtet. Andere haben pflegebedürftige Angehörige. Mir will nicht einleuchten, warum gerade die Arbeitsstunden dieser Menschen steuerlich schlechter gestellt sein sollen als die 41. Wochenstunde von Vollzeitmitarbeitern. Auch gegenüber Selbstständigen, die oft eine 50-Stunden-Woche haben, ist das ungerecht.
Wenn ich in eine Firma investiere, interessiert es mich überhaupt nicht, an wie vielen Tagen vor Ort im Büro und wie viele Stunden pro Woche dort gearbeitet wird. Und ganz bestimmt habe ich noch nie gesagt: „Die sind morgens total pünktlich, arbeiten besonders lange und machen besonders viele Überstunden, da investiere ich.“ Entscheidend sind einzig und allein die Ergebnisse.
Dass Produktivität und Arbeitszeit nicht zusammenhängen, zeigt ein Blick in die Geschichte. In den letzten 100 Jahren ist die Wirtschaftskraft in Deutschland enorm gestiegen, die Arbeitszeit dagegen gesunken. Im Jahr 1900 arbeiteten die Menschen mehr als 60 Stunden pro Woche – und das an sechs Tagen. Als ich noch zur Schule ging, hatte ich auch samstags Unterricht, und auch mein Stiefvater arbeitete an jedem Samstag. Dann wurde die 40-Stunden-Woche eingeführt und die Expertinnen und Experten warnten vor einem Einbruch der Wirtschaft. Statt der Krise kam der Aufschwung. Wir steigerten die Produktivität bei weniger Arbeitszeit. Möglich wurde das durch effizientere Arbeitsabläufe, Automatisierung und Maschinen.
Aktuell stehen wir genau an der gleichen Weggabelung und diskutieren. Die neue industrielle Revolution kommt in Form der Robotik, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz. Diese Neuerungen werden, wenn wir sie denn einsetzen, in einigen Berufen eine enorme Arbeitszeitverkürzung und auch zunehmend die Viertagewoche ermöglichen.
Dass in einigen Jobs die Viertagewoche bei Erreichung der gleichen Ergebnisse möglich wird, verändert die gesamte Arbeitswelt. Andere Berufe werden nämlich, um nicht endgültig an Attraktivität zu verlieren, nachziehen müssen und ebenso bei vollem, oder wenigstens fast vollem, Lohnausgleich die Arbeitszeit verkürzen.
Nun sind die Befürchtungen groß, dass ausgerechnet in der Pflege, in der Gastronomie, im Handwerk, im Einzelhandel, also dort, wo ohnehin jetzt schon sehr viele Arbeitskräfte fehlen, die Viertagewoche das Problem des Fachkräftemangels sogar noch vergrößert. Ich dagegen kann mir gut vorstellen, dass die Viertagewoche gerade in diesen Branchen sogar die Lösung sein kann.
Wie erste Pilotprojekte aus Portugal, Island oder Großbritannien und nun auch in Deutschland zeigen, verringert die Viertagewoche Krankheitstage bei den Mitarbeitern. Stress und Burn-out-Erkrankungen gehen zurück. Und die Arbeitnehmer sind motivierter, kreativer, ideenreicher – und dadurch leistungsfähiger.
Im „War for Talents“, im Kampf um Nachwuchstalente, werden unterbezahlte oder schwere Tätigkeiten einen klaren Vorteil haben, wenn die Viertagewoche mit Lohnausgleich greift. Robotik, KI, Automatisierung und Digitalisierung werden Teile der Aufgabenfelder übernehmen und damit Teile des Lohns refinanzieren. So werden sich einige Firmen einen Wettbewerbsvorteil im Recruiting beschaffen.
Unternehmen dagegen, die sich dem technischen Fortschritt entziehen, werden wertvolle Arbeitskräfte erst gar nicht gewinnen beziehungsweise halten können. Das betrifft vor allem die jüngere Generation, die ganz andere Ansprüche an die neue Arbeitswelt stellt, als es die Baby Boomer oder Millennials getan haben.
Denn wer den Ausblick auf eine Vollzeitstelle mit vier statt fünf Arbeitstagen hat, wird diesen Arbeitgeber attraktiver finden. Insbesondere bei Pflegekräften und Erzieherinnen würde das auch zu einer längst überfälligen Gehaltsanpassung führen. Zumindest dann, wenn die Viertagewoche bei (fast) vollem Lohnausgleich kommt, was in meinen Augen der richtige Schritt wäre.
Auch Menschen in Teilzeit, wie beispielsweise Mütter, die eben keine 40 Stunden oder mehr arbeiten können, weil schlicht die Betreuungsmöglichkeiten fehlen, profitieren davon.
In einigen Branchen wird die Viertagewoche schnell umsetzbar sein, in anderen erst stufenweise passieren. Wichtig ist, dass die Unternehmen diesen Schritt mutig und zuversichtlich gehen. Künftig wird die Alternative zur Viertagewoche nämlich nicht die Fünftagewoche sein, sondern die Nulltagewoche – schlicht, weil Unternehmen Köche, Handwerker oder Pflegekräfte sonst gar nicht mehr bekommen.
Dass der Mut zur Veränderung in alten Firmenstrukturen belohnt wird, zeigt das Praxisbeispiel der Malermeisterin Jessica Hansen aus Osterby. Um wieder mehr Personal und damit mehr Aufträge zu bekommen, wirbt sie ganz offen mit der Viertagewoche.
Innerhalb kürzester Zeit vergrößert sie nicht nur ihre Firma, sondern pflegt sogar eine Warteliste an gut ausgebildeten Bewerbern, die gerne bei ihr anfangen möchten. Wer bei ihr angestellt ist, kann es sich aussuchen, an welchen Tagen er arbeiten möchte. Und Hansen bezahlt neben den geleisteten Stunden auch branchenunüblich die Anfahrtszeiten. Bei Großbauprojekten achtet sie bei der Personalplanung darauf, dass an fünf Tagen jemand vor Ort ist, ansonsten ist alles flexibel gestaltet.
Mein Appell an meine Unternehmerkollegen: Seid offen für neue Arbeitsformen. Wir sind in Deutschland sehr geübt darin, überall Probleme und Risiken zu sehen und kaum die Chancen. Mit diesem Mindset hätten wir im 19. Jahrhundert nicht das Auto erfunden, sondern eine neue Postkutschenbetriebsverordnung erlassen und Kraftfahrzeuge erst einmal vorsorglich verboten.
Vielleicht kann die Viertagewoche – und die Freiheit, die sie bietet – auch ein neuer Impuls für Kreativität, mehr Gesundheit, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch für das Ehrenamt sein. Konzentrieren wir uns im Job und in der öffentlichen Debatte also auf Ergebnisse statt auf die Arbeitszeit. Vielleicht gelingt so ein neuer Wirtschaftsaufschwung. Einen Versuch ist es wert.
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