"Leser sind viel kritischer als früher"

Der "Mannheimer Morgen" wurde zum sechsten Mal in Folge mit dem Newspaper Award ausgezeichnet (wir berichteten). Bei der Preisverleihung am kommenden Dienstag wird der Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, eine Rede halt

Von 
Paul-Josef Raue
Lesedauer: 

Thomas Krüger: Seit dem Zusammenbruch des "Ostblocks" vor 25 Jahren wird immer offensichtlicher, dass die Zeit der Nation vorbei ist. Die Globalisierung wird immer dynamischer, gesellschaftliche Bereiche verzahnen sich immer enger, und Migration ist globaler Alltag. Menschen kommunizieren und handeln, ja, leben über Grenzen hinweg. Und da gibt es natürlich auch nicht gerade wenige Menschen, die sich durch diese faktische Entgrenzung ihres Ankers beraubt sehen und sie entwickeln eine Sehnsucht nach Homogenität, Eindeutigkeit und Abgrenzung. Sie glauben tatsächlich daran, dass alles besser funktioniert, wenn Nationalitäten sauber voneinander getrennt leben. Leider neigen sie auch zu Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also zur Abwertung "anderer" und vermeintlich geschlossener Personengruppen - aktuell sind hier vor allem die Geflüchteten das Ziel.

Gerade im Westen sagen viele: 25 Jahre Einheit müssten doch ausreichen, um die Diktatur aus den Köpfen zu vertreiben.

Krüger: Diktatur-Aufarbeitung dauert lange, das ist ein Generationen-Projekt. So etwas braucht seine Zeit. Nehmen Sie mal die Zeit des Nationalsozialismus. Sie dauerte 12 Jahre. Der zeitliche Abstand zur DDR ist heute 26 Jahre, also wären wir, was die NS-Aufarbeitung angeht, heute gerade mal im Jahr 1971 angelangt, also: vor der TV-Serie "Holocaust", dem Gedenkstättenboom, dem kritischen Nachfragen einer neuen Generation. Die DDR dauerte 40 Jahre, also fast zwei Generationen. Warum sollte die "Aufarbeitung" und Bewältigung schneller gehen als bei der des Nationalsozialismus?

Haben Journalisten diese Schattenseiten nicht deutlich genug angesprochen. Kurzum: Haben die Medien, haben die Journalisten versagt?

Krüger: Nein, ich bin Anhänger der These, dass der Journalismus heute nicht schlechter, die Leser aber sehr viel kritischer sind. Als publizistisches Rückgrat der demokratischen Öffentlichkeit bleiben Journalisten unersetzlich und natürliche Verbündete der politischen Bildung. Beiden geht es darum, Sachverhalte zu erklären, Kontroversen aufzuzeigen und letztendlich das demokratische Bewusstsein und die aktive Mitarbeit zu stärken.

Offenbar haben auch Journalisten einiges falsch gemacht. Umfragen deuten an: Das Vertrauen ist bei vielen Bürgern erschüttert. Haben Journalisten vielleicht wie Oberlehrer aufs Volk hinabgeschaut - was die Bürger eben nicht mögen?

Krüger: Wenn Journalisten etwas falsch gemacht haben, dann höchstens zwei Dinge: Erstens, dass sie sich zu spät in die Debatten im Netz, in den sozialen Medien eingeschaltet haben. Hier haben viele Journalisten die Möglichkeiten unterschätzt, sich frühzeitig Gehör zu verschaffen. Und zweitens haben Sie ihr Licht unter den Scheffel gestellt. Guter Journalismus setzt sich schon durch, dachte man, dass dazu aber heute eine transparente Kommunikation gehört, haben viele noch nicht begriffen.

Journalisten wie der ehemalige FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte schreiben: Medien manipulieren, lassen sich korrumpieren und von Amerika und der Nato einspannen. Stimmt unsere Politik-Berichterstattung nicht mehr?

Krüger: Natürlich kann man manches kritisieren. Wenn zum Beispiel der Eindruck entsteht, im politischen Berlin würde eine Art "Hofberichterstattung" stattfindet, und zum Beispiel Pressekonferenzen nur dazu genutzt werden, um O-Töne einzuholen, statt Dinge kritisch zu hinterfragen - dann werden Journalisten ihrer Rolle als "vierte Gewalt" nicht mehr gerecht. Aber es gibt sie ja noch, die investigativen und meinungsstarken Formate und Reporter und die genannten Vorwürfe von Herrn Ulfkotte sind doch sehr verschwörungstheoretisch. Da macht es auch keinen Unterschied, dass er mal für die FAZ geschrieben hat.

Redaktionen werden von ihren Lesern mit Verschwörungstheorien konfrontiert. Sollen man darauf eingehen, wenn sie geballt in Briefen, Anrufen oder auf Facebook eintreffen?

Krüger: Auch bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien spielt das Internet eine große Rolle. Es hat dazu beigetragen, dass viele dieser Theorien überhaupt erst im Mainstream bekannt geworden sind, darunter auch solche, die einen rechtsextremen Hintergrund haben. Unser Anspruch als politische Bildner ist es ja, alle erreichen zu wollen und niemanden verloren zu geben. Natürlich ist es schwer, Personen argumentativ zu begegnen, deren Weltbild nicht mehr auf der Grundlage des Common Sense basiert. Versuchen muss man es trotzdem. Gerade dann, wenn solche Theorien auf öffentlichen Plattformen wie Facebook gestreut werden. Denn hier erreichen die Gegenargumente ja nicht nur den Absender selbst.

Sozialpsychologen haben herausgefunden: Die Verschwörung, detailliert nacherzählt, bleibt im Kopf hängen, die Widerlegung dagegen verblasst schnell. Was bedeutet das für Journalisten? Und für die politische Bildung?

Krüger: Das bedeutet, dass sowohl die Medien als auch wir in der politischen Bildung der "Kreativität" der Verschwörungstheoretiker ebenso kreative Angebote entgegensetzen müssen.

Sind die Sympathisanten noch zu erreichen? Die Menschen, die den Hasspredigern Beifall zollen?

Krüger: Am Auf- und Abschwung der Pegida-Veranstaltungen sieht man ja, dass dem so ist. Die zunehmende Radikalisierung der Forderungen hat nicht dazu geführt, dass die Demonstrationen mehr Zulauf bekommen - im Gegenteil. Ein für mich eindeutiges Zeichen, dass auch Personen noch erreichbar sind, die dem dort verbreiteten Gedankengut in Teilen zustimmen oder in der Bewegung zeitweise ein Ventil für ihre Sorgen gesehen haben.

Nirgends ist das Vertrauen der Leser so groß wie in ihren Lokalteil. Die Wut-Briefe, die zahlreich in Redaktion eingehen, zeugen doch davon, dass die Menschen seit Jahrzehnten und immer noch die Zeitung lesen. Was würden Sie als Lokalchef tun?

Krüger: Das Fundament eines erfolgreichen Lokaljournalismus ist die Recherche. Aktueller Präzedenzfall ist natürlich die Suche nach Unterkünften für Geflüchtete. Verschiedene Lokalmedien haben hier großartige Arbeit geleistet, indem sie transparent aufgezeigt haben, wie viele Geflüchtete tatsächlich in die Region kommen, welcher Ort wie viele von ihnen aufnimmt, wie sie dort leben und woher sie kommen. In der "drehscheibe", unserem Magazin für gute Ideen und Konzepte im Lokaljournalismus, stellen wir genau solche gelungenen Beispiele vor und hoffen, dass sich andere Zeitungen an ihnen orientieren. Gerade für die Lokalzeitungen gilt, dass sie nah an den Lesern sein müssen. Sie sollten ihnen das Gefühl vermitteln, in der Presse ein Sprachrohr und eine Plattform für die vor Ort geführten Diskurse zu haben, gerade auch für jene, die besonders kontrovers geführt werden. Nicht umsonst unterstützt die bpb seit vielen Jahren die lokale Politikberichterstattung mit den verschiedenen Angeboten des Lokaljournalistenprogramms.

Ist die Medienverdrossenheit ein Spiegel der Politikverdrossenheit?

Krüger: Für bestimmte Personenkreise ist das sicherlich der Fall. Es ist ja kein Zufall, dass der Schlachtruf "Lügenpresse" genau dort salonfähig wird, wo es Leute gibt, die - aus welchen Gründen auch immer - meinen, keine politische Stimme mehr zu haben und sich leider im demokratischen Parteienspektrum nicht mehr angemessen vertreten fühlen.

Erleben wir die Dämmerung der Demokratie? Wächst langsam wieder die Sehnsucht nach einem, der alles besser macht?

Krüger: So schwarz sehe ich auf gar keinen Fall. Laut Kishon ist Demokratie ja das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann. Ich bin überzeugt, dass sich dessen auch viele derer bewusst sind, die gerade ihre sogenannten Sorgen sehr lautstark äußern. Außerdem erlebe ich täglich zahllose engagierte Akteure, die daran mitarbeiten, die Demokratie lebendig zu halten. Dieser Einsatz, das Wissen und der Einfallsreichtum dieser Menschen sind die Voraussetzungen dafür, dass auch jene, die an unserer Gesellschaft zweifeln, wieder auf die richtige Seite gezogen werden können. Deshalb müssen wir sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Auch die Rolle der Institutionen darf man nicht unterschätzen. Natürlich geben sie als "Teil des Systems" ein dankbares Ziel für Kritik ab. Trotzdem ist es wichtig, dass Ministerien, Behörden, alle Teile der öffentlichen Hand ein klares Signal senden, indem sie Vielfalt und Demokratie vorleben. Nur so bleibt beides zukunftsfähig.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen