Leben wir im Zeitalter der ständigen Krise, Herr Bierling?

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Stephan Bierling
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Wie groß sie doch waren, die Hoffnungen nach dem Kalten Krieg. Mit dem Zerfall der Sowjetunion hatten die Völker in der Mitte und im Osten Europas die Freiheit gewonnen, und die Deutschen schienen die größten Sieger von allen zu sein. Das Land war vereint und nur mehr von freundlichen Nachbarn umgeben, die fast alle in die Nato und in die EU strebten. Zweihundert Jahre nach ihrer Veröffentlichung 1795 schien Immanuel Kants philosophische Schrift "Zum ewigen Frieden" Wirklichkeit geworden, nicht überall auf dem Planeten, aber zumindest für die Bundesrepublik und um sie herum.

Deutsche Außenpolitik würde deshalb immer weniger Soldaten, Panzer und Flugzeuge erfordern, so redeten sich Politiker, Wissenschaftler und Bevölkerung ein, künftig sollten Entwicklungshilfe, Klimaschutz und Völkerrecht ihre Eckpfeiler sein. "Weiche Macht", wie der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye die gesellschaftliche Attraktivität eines Staats nennt, würde in dieser schönen neuen Welt die "harte Macht" des Militärischen ersetzen.

Ein Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt sagte noch 2012 ganz in diesem Sinne, der Erfolg deutscher Außenpolitik lasse sich daran messen, wie gut die Bundesrepublik in den globalen Beliebtheit-Rankings abschneide - als ob Außenpolitik nichts anderes sei als der Eurovision Song Contest.

2015 ist der Krieg nach Deutschland gekommen, nicht als militärischer Konflikt, aber in Form von einer Million Menschen, die vor ihm fliehen. Der Grund: Weite Teile der an die EU grenzenden Regionen sind am Kollabieren oder werden von machtgierigen Führern destabilisiert. Deutschland und die EU, die in den 1990-er Jahren ausgezogen waren, einen Ring aus demokratischen, zumindest stabilen Staaten um sich herum zu schaffen, sind mit dem Gegenteil konfrontiert: einem Ring aus Feuer. Den wichtigsten Brennstoff dafür bieten der Zerfall arabischer Staaten, der islamische Terrorismus und die aggressive Außenpolitik Russlands und der Türkei.

Immer deutlicher wird: Der lange Frieden der Kalten Kriegs-Jahre und die relativ ruhige Dekade danach waren eine geschichtliche Ausnahme. Konflikte, Krisen und Kriege sind "the new normal", die neue Normalität europäischer und deutscher Außenpolitik. Sie werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht verschwinden, weil ihre Ursachen sich verfestigen und gegenseitig verstärken. Die zentralen Ursachen sind:

- der Kampf um die Macht in vielen Ländern der islamischen Welt und Nordafrikas. Fast alle Staaten in diesen Regionen sind weder historisch gewachsen, noch haben sie seit ihrer Gründung gelernt, einen Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen ethnischen oder religiösen Gruppen zu bewerkstelligen. Ihre Herrscher haben diese Spannungen in der Vergangenheit oft brutal unterdrückt, aber nie gelöst und fast immer verschlimmert. Solche Konflikte kennzeichnen heute Syrien, Irak, Libyen, Afghanistan, Somalia und viele andere Länder. Die Folge davon sind oft zerfallende Staaten, in denen sich Warlords und islamistische Terrororganisationen festsetzen.

- das Streben nach regionaler Dominanz. Angefacht werden solche ethnischen und religiösen Spannungen von außen durch Länder, die sich zu regionalen Vormächten aufschwingen wollen. Sie instrumentalisieren ihnen nahestehende Gruppen, um sie an die Macht zu bringen oder zumindest dem Gegner zu schaden. Beispiele gibt es zuhauf: Pakistan baute die Taliban auf, um Afghanistan zu kontrollieren und damit dem Erzfeind Indien einen potenziellen Partner zu nehmen. In Syrien findet ein Stellvertreterkrieg zwischen Iran, Saudi-Arabien und der Türkei statt, die die schiitische Terrorgruppe Hisbollah für oder sunnitische Extremisten gegen Assad unterstützen. Russland bedient sich der Osseten und der Abchasier in Georgien und der Russen in der Ukraine, um Konflikte vom Zaun zu brechen und Territorium und Einfluss zu gewinnen.

- die demografische Explosion und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in der arabischen Welt und in Afrika. Während die Bevölkerung in weiten Teilen der Welt kaum mehr wächst, steigt sie in islamischen Ländern massiv an. Ägypten etwa hatte 1950 gerade einmal 21 Millionen Einwohner, heute sind es 90 Millionen, 2050 werden es 138 Millionen sein. Für Afghanistan lauten die entsprechenden Zahlen 8, 3 und 64 Millionen, für Nigeria 32, 186 und 391 Millionen. Jedes Jahr strömen dort viele Millionen junge Männer auf den Arbeitsmarkt, denen ihre korrupten, nur an Selbstbereicherung interessierten Machtcliquen keine Ausbildung und keine Jobs bieten. Ohne regelmäßiges Einkommen können diese Männer nicht heiraten - jeder zweite in der arabischen Welt im Alter von 25 bis 29 ist Single. Und ohne Jobs und Familie sind sie anfällig für

- religiöse Radikalisierung. Bei all den Horrormeldungen über Europäer, die für den IS morden, wird übersehen, dass seit 2011 mehr als drei Mal so viele Kämpfer, etwa 14 000, aus islamischen Ländern die Terrororganisation verstärkt haben. Allein aus Tunesien, dem einzigen kleinen Lichtblick des Arabischen Frühlings, sind 5000 Gotteskrieger zum IS gegangen. Tausende andere schließen sich in Jemen, Somalia, Mali und Nigeria Islamisten an.

Die EU und Deutschland müssen sich einstellen auf dieses neue Zeitalter der permanenten Krise. Dabei können sie nicht damit rechnen, dass die USA sie wie im Kalten Krieg im Ernstfall schon beschützen oder dass die USA wie in den Balkankriegen in den 1990-er Jahren den Frieden an den EU-Rändern wiederherstellen. Denn die langen und opferreichen Kriege in Afghanistan und in Irak haben Amerika zermürbt und der Aufstieg Chinas hat den US-Fokus weg von Europa hin nach Ostasien gelenkt.

Beide, die EU wie Deutschland, sind jedoch nicht gut vorbereitet auf die Herausforderungen im post-amerikanischen Zeitalter. Die EU hat sich mit Währungsunion, Osterweiterung, Nachbarschaftspolitik und Schengen-Abkommen heillos übernommen und kämpft mit dem Rücken zur Wand gegen ihr Zerbrechen.

Dabei wäre das Schaffen eines europäischen Bundesstaats die eleganteste Lösung für viele Probleme. Währungsunionen funktionieren am besten, wenn es wie in den USA oder in Großbritannien eine starke Zentrale mit großem eigenen Haushalt gibt. Islamistischen Terror könnten am effektivsten ein EU-Geheimdienst, eine EU-Polizei mit operativen Befugnissen und ein EU-Militär bekämpfen. Russland könnte man am besten entgegentreten, wenn man mit einer außenpolitischen Stimme spricht. Flüchtlinge könnten am wirkungsvollsten kontrolliert und verteilt werden, wenn ein schlagkräftiger EU-Grenzschutz die Außengrenzen sichert und Brüssel Aufnahmequoten anordnet. Aber nach wie vor wachen die Mitgliedstaaten eifersüchtig über ihre jeweiligen Kompetenzen.

Weil die EU impotent gehalten wird und die großen EU-Staaten Frankreich, Großbritannien und Italien wegen innenpolitischer Probleme außenpolitisch kaum handlungsfähig sind, rückt Deutschland in den Mittelpunkt des Krisenmanagements - bei der Euro-Rettung, bei der Stabilisierung der EU, bei Putins Krieg gegen die Ukraine, beim Bewältigen des Flüchtlingsstroms. Die Bundesrepublik muss sich deshalb darauf einstellen, international dauerhaft Führung zu übernehmen - personell, konzeptionell und materiell. Konkret heißt das:

1) Die Parteien benötigen sachkundige Außenpolitiker, bisher war die Beschäftigung mit internationaler Politik meist ein Karrierekiller. Der Auswärtige Ausschuss des Bundestags muss als Sprungbrett für Höheres dienen und darf nicht länger eine Strafkolonie sein für Abgeordnete mit schwachem Wahlergebnis oder für solche ohne politische Zukunft. Die deutschen Universitäten sollten endlich Absolventen ausbilden, die für praktische internationale Aufgaben einsetzbar sind.

2) Die Politik, allen voran die Kanzlerin, muss der Bevölkerung Außenpolitik erklären und deutlich machen, wie sehr die eigene Sicherheit und der eigene Wohlstand deutsches Engagement in der Welt an der Seite der Partner erfordern. Berlin sollte sich intensiver an den Nato-Debatten beteiligen und nicht, wie so oft in der Vergangenheit, bei heiklen Themen abtauchen oder sich in völkerrechtliche Esoterik und Moralismus flüchten.

3) Schließlich muss die Bundesregierung mehr Ressourcen für Außenpolitik bereitstellen. In vielen internationalen Organisationen ist Deutschland unterrepräsentiert, die staatliche Entwicklungshilfe, die Geheimdienste und die Bundeswehr brauchen dringend mehr Personal und Mittel.

Kants ewiger Friede wird eine Illusion bleiben. Aber wenn Deutschland die ihm aufgrund seiner geografischen Lage, seiner Größe und seiner Geschichte zufallende Verantwortung übernimmt, ist ein bisschen weniger Konflikt in und um Europa möglich.

Stephan Bierling

Stephan Bierling ist Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg.

Zuletzt erschien von ihm "Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung".

Für seine Arbeit wurde Bierling mehrfach ausgezeichnet. 1996 erhielt er den Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik.

2003 bekam er den Preis für gute Lehre des Freistaats Bayern.

Bei der Wahl zum "Professor des Jahres" der Zeitschrift "Unicum Beruf"belegte Bierling 2008 und 2010 jeweils den zweiten Platz, 2013 schaffte er es auf Platz eins und wurde so "Professor des Jahres" in der Kategorie Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

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