"MM-Debatte"

Lässt die Politik die Lehrer im Stich, Frau Freimuth?

Lernverweigerer, aggressive Schüler und immer öfter nicht zu bewältigende Situationen: Pädagogen stoßen an ihre Grenzen, der Staat sieht zu. Die ehemalige Frankfurter Lehrerin Ingrid Freimuth fordert nun einen Sanktionskatalog für Fehlverhalten. Ein Gastbeitrag.

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Ingrid Freimuth
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Viele Lehrer haben mit Schülern zu kämpfen, die Regeln brechen und einfach nicht lernen wollen. So gelingt weder Integration noch Unterricht. © dpa/Privat

Als Lehrerin von Hauptschülern war ich über viele Jahre Zeugin, wie in pädagogischen Bereichen Idealvorstellungen hoch gehalten wurden, die letztlich nur den Blick auf die Wirklichkeit versperrten. Noch heute verharren wir gerne in einem Weltbild, nach dem alle Schülerinnen und Schüler gerne lernen und nach qualifizierten Bildungsabschlüssen streben. Wer keine oder schlechte Schulleistungen zeigt, bei dem vermuten wir die Verschüttung einer wie selbstverständlich vorausgesetzten Leistungsmotivation und setzen Lehrerinnen und Lehrer wie Goldgräber darauf an, die unter Sozialisationsdefiziten vergrabenen Begabungen ans Tageslicht zu schaufeln. Dabei setzen wir einzig und allein auf Förderung. Strafen, also negative Sanktionen, sind verpönt – ein schwerwiegender Fehler, wie ich meine, mit wahrscheinlich schwerwiegenden Folgen, nicht nur für die Lehrer, sondern in der Konsequenz auch für unsere Gesellschaft.

Ausdrücklich möchte ich betonen, dass es – vermutlich an allen Schulen – wunderbare Schülerinnen und Schüler gibt, die sich an geschriebene und ungeschriebene Regeln halten, für die „Leistung“ ein positiv besetzter Wert ist und die ihr Leben eigenverantwortlich gestalten wollen. Die Sanktionsmöglichkeiten, die uns in Schulen zur Verfügung stehen, von Ermahnungen bis hin zum Schulverweis, greifen nur bei dieser leistungsorientierten Klientel. Bei denen, deren Verhalten ausufert und die Leistungsverweigerung betreiben, haben wir dagegen keine wirksamen Mittel zur Hand – was dazu führt, dass diese Schüler sich in einem sanktionsfreien schulischen Raum ungehindert austoben können.

Mit einem Beispiel aus dem Fußball will ich die hilflose Situation verdeutlichen, in die Lehrer durch mangelhafte und falsch gesetzte politische und gesetzgeberische Vorgaben manövriert worden sind: Im Gegensatz zu Fußballtrainern oder Schiedsrichtern, denen unterschiedliche Mittel der Disziplinierung von Fußballspielern zur Verfügung stehen, sind Lehrern bei problematischen Schülern die Hände gebunden. Wenn solche Schüler anfangen, sich gegenseitig zu beleidigen und zu verprügeln, kann der Lehrer höchstens die gelbe Karte ziehen. Rotgelbe oder gar rote Karten, die schmerzhafte Konsequenzen nach sich ziehen würden, sind verboten.

Jeder kann sich denken, dass das Zeigen einer gelben Karte bei Lehrern einfach nur lächerlich wirkt, wenn keine Sanktionen erfolgen, jedenfalls keine, die einen hartgesottenen Regelverletzer abschrecken würden. Man stelle sich den Schiedsrichter vor, der nur mit einer gelben Karte ausgerüstet auf dem Spielfeld für die Einhaltung der Spielregeln sorgen soll. Kein Spieler würde ihn ernstnehmen, er würde scheitern. Und nicht nur das: Es gäbe vermutlich sofort öffentlichen Druck zur Stärkung der Schiedsrichterposition – schließlich wollen die Zuschauer regelkonforme Spiele sehen und keine Prügeleien. Dagegen in der Schule: Jedem Schüler, der auf geltende Regeln pfeift, winken mannigfaltige Fördermaßnahmen, die ihn zur Einsicht führen sollen. Es gibt sogar finanzielle Zuwendungen für Schulabgänger, die ohne Abschlusszeugnis die Schule verlassen. Diese können an Fördermaßnahmen teilnehmen, die zum Hauptschulabschluss führen sollen. Je nach Familieneinkommen werden auch Unterhaltsbeihilfen gewährt. Und Jugendliche, die wegen gravierend unsozialen Verhaltens „Sozialpädagogische Einzelbetreuung“ erfahren, erhalten beträchtliches Taschengeld. Damit werden falsche Signale gesetzt: Denn Belohnung ohne Anspruch kann nicht der richtige Weg sein. Bei keiner mir bekannten Fördermaßnahme wird beispielsweise konsequent eine Mitarbeit von den Schülern gefordert – ein fataler Fehler mit negativen Auswirkungen, da so kein Disziplinierungs- und Anpassungsdruck entsteht.

Politiker, die doch letztlich für die problematische Gesetzeslage verantwortlich sind, bezweifeln öffentlich selbst den Wert immerwährender Förderung als Antwort auf Fehlverhalten. So wie der frühere Außenminister Sigmar Gabriel, der 2017 im „Stern“ zu Protokoll gab: „Verständnis zu zeigen, geduldig zu sein, nicht auf die Provokationen zu reagieren, das hat uns jedenfalls nicht weit gebracht… Es ist nicht schön, dass wir erleben: Erst Druck verändert die Lage.“

Trotzdem gibt man uns Lehrern in schulischen Zusammenhängen keine Sanktionsmöglichkeiten, die permanente Regelverletzer beeindrucken könnten. Auch wird förderliche pädagogische Beziehung zwischen Lernenden und Unterrichtenden durch Vorgaben des Datenschutzes immer wieder ad absurdum geführt: So sollen Noten der Schüler weder im Unterricht noch auf Elternabenden besprochen werden. Informationen über kriminelle Aktivitäten von Schülern dürfen zwischen Behörden nicht ausgetauscht werden. Für einen 18-jährigen, volljährigen Schüler gilt zwar meist noch das Jugendstrafrecht, aber seine Lehrer dürfen nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis Informationen – zum Beispiel über seinen Leistungsstand – an seine Eltern weitergeben. Um sich in dieser Hinsicht Vorteile zu verschaffen, versuchten einige Schüler immer wieder gezielt, sich jünger zu machen, als sie in Realität waren. Als Lehrerin musste ich öfters so tun, als ob ich einem zugewanderten Schüler seine Altersangabe (unter 14 Jahre) glaubte, obwohl er nach Augenschein bereits doppelt so alt war. Einen Ausweg gibt es nicht: Aus Sorge um die Würde von Zuwanderern verhinderten Datenschützer schon vor etwa 20 Jahren eine Altersfeststellung durch Röntgen von Handknochen.

Wie sollen wir Lehrer unter solchen Rahmenbedingungen zielgerichtet arbeiten können, und das bei zugewanderten Schülern häufig anzutreffende mangelnde Demokratieverständnis oder die ebenfalls nicht selten anzutreffende Demokratiefeindlichkeit in Richtung eines eigenverantwortlichen, an säkularen demokratischen Grundwerten orientierten und die Gleichberechtigung von Mann und Frau respektierenden Lebens in Deutschland lenken?

Die mitgebrachten Wertvorstellungen bildungsferner Zuwanderer sind eine der Ursachen für gescheiterte Integration. Besonders jugendliche „Machos“ verlassen oft ohne Abschluss die Schule. Auch hier ist einer der maßgeblichen Gründe, dass wir in Schulen zu wenige Vorgaben machen können und mit diesen jungen „Machos“ sanktionsfrei umgehen müssen. Das begünstigt Rangordnungskämpfe untereinander und mit ihren Lehrern und – aus pädagogischer Sicht – haben diese jungen Männer deshalb in ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur keinen offenen, empfänglichen Raum mehr zum Lernen. Denn: Wer lernen will, muss fragen und damit zugeben können, dass er etwas nicht weiß – oft ein absolutes Tabu. Denn der „Macho“ fragt nicht, er macht Ansagen und ist vollkommen damit beschäftigt, andere mit seiner nach außen gerichteten Energie zu beeindrucken. Nur mit wirksamen Sanktionen könnten wir bei diesen Rangordnungsorientierten eine Verhaltensänderung bewirken, und erreichen, dass sie auf ihrem (Rangordnungs-)Platz verweilen und den Anweisungen des Lehrers folgen. Erst dann kann Integration beginnen.

So, wie die Dinge stehen, sind Lehrer bei der Förderung der Integrationsbereitschaft bei derart sozialisierten Jugendlichen auf ihre individuellen Möglichkeiten zurückgeworfen. Und dieser problematische Sachverhalt wird noch verstärkt durch Aussagen wie in der folgenden Einladung des Klett-Verlags an VHS-Kursleitende zur Vorstellung neuer Unterrichtsmaterialien für den Deutschunterricht mit Erwachsenen im August 2017: „… Ausbildungs- und Arbeitsmarktintegration sollen von Anfang an Hand in Hand gehen und enger als bisher verzahnt werden. Das Hauptgewicht dieser Umgestaltung liegt auf den Schultern der Kursleitenden …“

Die Frage, ob die deutsche Politik Lehrerinnen und Lehrer bei der Bewältigung ihrer Aufgaben alleine lässt, beantworte ich jedenfalls eindeutig mit „ja“. Was dies angesichts der durch Zuwanderung in der Zukunft nochmals massiv ansteigenden Zahl schulpflichtiger Jugendlicher bedeutet, möchte ich mir gar nicht ausmalen. Es ist höchste Zeit, die Politik an ihre Verantwortung zu erinnern und sie nicht wieder so einfach daraus zu entlassen. Der Gesetzgeber muss den Lehrern den Rücken stärken. Dringend – es ist bereits kurz vor 12.

Ingrid Freimuth

  • Ingrid Freimuth, 1946 geboren, ist Diplom-Pädagogin. Sie studierte Lehramt für Sekundarstufe I, arbeitete anschließend als Lehrerin an einer Integrierten Gesamtschule und war gleichzeitig in der Lehrerausbildung tätig.
  • Freimuth unterrichtete an Haupt- und Realschulen und arbeitete ab 1989 zusätzlich als Kommunikationstrainerin in der hessischen Lehrerfortbildung.
  • Zuletzt gab sie Einzelunterricht für Schülerinnen in der sozialpädagogischen Lernhilfe und hielt Kurse an der Volkshochschule im Bereich Deutsch als Zweitsprache.
  • In ihrem Buch „Lehrer über dem Limit – Warum die Integration scheitert“, das im März im Europa Verlag erschienen ist, schildert sie eindrücklich ihre Erfahrungen aus mehr als 40 Berufsjahren.

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