Debatte am Wochenende

Kommt es bald zu Engpässen bei der Lieferung von Arzneimitteln, Herr Stadler?

Die Pharmabranche muss weg von Profitinteressen und sich wieder mehr am Gemeinwohl orientieren, sagt der erfahrene Apotheker Franz Stadler. Nur so blieben unsere Medikamente auch künftig sicher und für alle verfügbar. Ein Gastbeitrag.

Von 
Franz Stadler
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Die Arzneimittelbranche wird von wirtschaftlichen Zwängen getrieben, warnt der Pharmazeut Franz Stadler. Aber auch die Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse lieber die heimische Apotheke aufsuchen, anstatt online im Ausland zu bestellen. © dpa

Unser Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Viele Menschen in anderen Ländern beneiden uns darum. Nicht zuletzt ihm haben wir es zu verdanken, dass wir bisher verhältnismäßig gut durch die Corona-Pandemie gekommen sind, im Vergleich wenig Infizierte und noch weniger Tote zu beklagen haben. Trotz der vielen Lieferengpässe, abstruser Fakenews und irrationaler Hamsterkäufe hat unsere Arzneimittelversorgung den Belastungstest bestanden.

Allerdings hat Corona auch deutlich gezeigt, wie labil und störungsanfällig sie inzwischen geworden ist. Corona hat das Geschäft dahinter demaskiert, hat Scheinargumente und mediale Selbstverständlichkeiten entlarvt und wie das Aufheulen einer Alarmsirene gewirkt. Nun ist es an der Zeit, sich zu besinnen und unsere Prioritäten bei der Arzneimittelversorgung neu zu überdenken. Arzneimittel sind ein besonderes Gut und die nächste Pandemie kommt bestimmt.

In den vergangenen Wochen und Monaten haben zeitlich befristete Notverordnungen, Ausnahmeregelungen und Bürokratieabbau noch ausgereicht, schlimmere Versorgungsengpässe zu verhindern. Noch hat sich die dezentrale Versorgung als stabil genug erwiesen. Noch waren Lieferengpässe durch die vor Ort in den Apotheken vorhandene Sachkompetenz zu beheben und noch bekommt jeder sein passendes Medikament. Aber Geld regiert längst auch die Welt der Arzneimittel und das mittlerweile routiniert betriebene Medikamenten-Monopoly wird ungehindert weitergespielt. Ohne grundlegende Korrekturen wird der Trend weiter in die falsche Richtung gehen, denn keinem der Beteiligten ist mehr das Gesamtsystem und sein patientenorientiertes Funktionieren im Blickfeld.

Die Krankenkassen stehen unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit und wurden über die letzten Jahrzehnte hinweg in vielen Bereichen von der Politik mit immer mehr Macht ausgestattet. Durch Rabattverträge ist ein extremer Kostendruck entstanden. Dieser führte im generischen, nicht patentgeschützten Arzneimittelbereich dazu, dass fast die komplette Wirkstoffproduktion ins asiatische Ausland, besonders nach Indien und China verlagert wurde.

Störungen in der Lieferkette, aber auch von hier aus kaum zu kontrollierende Qualitätsmängel in der Produktion verursachen Lieferengpässe mit. Entscheidend ist aber die zunehmende Macht dieser wenigen Wirkstoffproduzenten, die sich wie auch die einzelnen pharmazeutischen Unternehmer ihre Absatzmärkte nach rein ökonomischen Gesichtspunkten aussuchen können. Die genannten Rabattverträge haben aus Deutschland ein Billigland gemacht, das schon lange nicht mehr bevorzugt beliefert wird.

Sozusagen im Gegenzug zu dieser Entwicklung werden Arzneimittelinnovationen immer teurer. Die großen, forschenden Pharmaunternehmen, die hier meist die Patente halten und damit für im Schnitt zwölf Jahre das alleinige Vertriebsrecht haben, agieren immer skrupelloser. Gerade in Deutschland ist es den Firmen noch immer erlaubt, bei der Einführung von Arzneimitteln mit Zusatznutzen den Verkaufspreis nach eigenen, internen Gesichtspunkten festzulegen. Erst später greifen Mechanismen, die den ersten Verkaufspreis etwas reduzieren, was aber wohl in die Gesamtkalkulation schon eingeflossen sein dürfte. Nach Angaben der Spitzenorganisation der deutschen Apotheker ABDA stieg der Anteil der Arzneimittel über 1500 Euro an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 2013 bis 2018 von 21,3 Prozent auf 31,8 Prozent – und das obwohl diese Arzneimittelpreisklasse 2018 nur 0,5 Prozent aller abgegebenen Packungen ausmachte.

Es gibt sogar Ausreißer nach oben, die fast zu Berühmtheit gekommen sind: Zolgensma®, ein Medikament gegen eine tödliche Muskelerkrankung bei Babys, wird in den USA für mehr als zwei Millionen Dollar pro Spritze verkauft. Auch wenn es bei uns wohl etwas „günstiger“ wird, kann sich jeder vorstellen, dass derartige Preise auf die Dauer zum Zusammenbruch jedes solidarischen Gesundheitssystems führen müssen. Und es aus eigener Tasche bezahlen können nur die Allerwenigsten. Geht diese Entwicklung weiter, werden künftig möglicherweise viele Menschen vom Zugang zu innovativen Wirkstoffen ausgeschlossen sein – wie heute schon in den USA der Fall. Dabei gehört Big Pharma zu den profitabelsten Unternehmen weltweit. Sie haben noch nicht einmal Scheu, bei ihrer renditegetriebenen Forschung auf staatliche Unterstützung zurückzugreifen, um anschließend ihre Gewinne mit Steuersparmodellen zu optimieren.

Aber nicht nur bei den generischen Wirkstoffen oder den patentierten Arzneimitteln führt eine Konzentration auf wenige oder einen Anbieter zur Instabilität des Gesamtsystems. Auch Apotheken gehören zur kritischen Infrastruktur in Krisenzeiten. Apotheker und ihre Mitarbeiter verfügen über die notwendige Fachkompetenz, um vor Ort die Arzneimittelversorgung steuern und sicherstellen zu können. Sie leisten Nacht- und Notdienste, können selbst Arzneimittel und Desinfektionsmittel herstellen, mit sachgerechter Beratung auf Fakenews oder Hamsterkäufe reagieren und stehen im persönlichen verantwortungsbewussten Kontakt zu ihren Kunden. Sie sind da, wo andere nur auf Hotline und Paketdienste verweisen können. Einsparmaßnahmen und die Erschließung neuer Geschäftsfelder (Daten- und grenzüberschreitender Arzneimittelhandel) durch schnelle und unausgereifte Digitalisierungsmaßnahmen sollten deshalb immer auch unter dem Gesichtspunkt der Arzneimittel- und Versorgungssicherheit betrachtet werden.

Das hieße zum Beispiel auch, den Versandhandel unter der Prämisse des freien Warenverkehrs in der EU und die daraus resultierende Benachteiligung oder gar das Verschwinden der Apotheken vor Ort aus Gründen kurzfristiger Einsparmöglichkeiten nicht einseitig zu priorisieren. Das Apothekensterben ist bereits in vollem Gange und darf unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit nicht zusätzlich beschleunigt werden.

Hier sind neben dem Gesetzgeber auch die Patienten gefordert. Arzneimittel sind ein besonderes Gut. Es liegt also im ureigenen Interesse des Patienten, dass die Versorgung mit sicheren Arzneimitteln funktioniert. Sie sind zum Wohl ihrer Gesundheit darauf angewiesen, dass Lagerung, Transportbedingungen und Herkunft der Arzneimittel nachvollziehbar und qualitativ sicher sind. Nur wirksame und saubere Arzneimittel sind gute Arzneimittel. Deshalb sollten sie sich durch Bonuszahlungen, die in Deutschland verboten sind, nicht dazu motivieren lassen, um verschreibungspflichtige Medikamente per Internet aus dem Ausland zu beziehen.

Rund um die Uhr online bestellen, sich die Arzneimittel per Botendienst nach Hause liefern lassen, das können sie auch über ihre Apotheke, wo sie zudem persönlich bekannt sind und nötigenfalls Klärung und Beratung erhalten. Auf die Risiken von unpersönlicher Telemedizin und regelmäßigem Versenden verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne persönlichen Kontakt sollte zumindest nachdrücklich hingewiesen werden. Nicht jedes Wunscharzneimittel ist im Interesse des Patienten. Es ist ein Leichtes den Sinn unseres Arzneimittelgesetzes und der Verschreibungspflicht durch übertriebene Digitalisierung auszuhöhlen, die sich daraus potenziell ergebende Fehlmedikamentierung hingegen lässt sich in der Wirkung möglicherweise nicht so einfach korrigieren.

Selbst an den wenigen angeführten Beispielen ist erkennbar, dass das Medikamenten-Monopoly mindestens eingeschränkt, wenn nicht gestoppt werden muss, damit unsere Arzneimittelversorgung auch weiterhin krisenfest bleibt. Ein Solidarsystem wie unser Gesundheitssystem kann nur funktionieren, wenn sich viele dafür interessieren. An Vorgaben, die dem Gemeinwohl und nicht den Lobbyinteressen dienen, sollten sich alle gesetzgeberischen Maßnahmen orientieren – im Prinzip eine Selbstverständlichkeit.

Zur Gemeinwohlorientierung beitragen würden Bürokratieabbau, die Stärkung dezentraler Strukturen, mehr Transparenz und eine Verstärkung des allgemeinen Interesses durch ein sich selbst regulierendes Solidarsystem. Ebenso gut wäre mehr Verteilungsgerechtigkeit durch Sozialgerichte, eine staatliche Arzneimittelforschung, gerade bei unrentablen Krankheiten, ein Patentschutz, der nicht nur der Pharmaindustrie Vorteile bringt, der Aufbau eines nationalen Arzneimitteldepots und weniger verkaufsorientierte Honorierungssysteme. Unsere Arzneimittelversorgung ist wie unser gesamtes Gesundheitssystem eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

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Der Gastautor



  • Franz Stadler ist Apotheker, promovierter Pharmazeut und betreibt ein Zytostatikalabor in der Nähe von München.
  • Sein Sachbuch „Medikamenten-Monopoly. Die unheilvolle Welt der Arzneimittelgeschäfte ist gerade im Murmann Verlag erschienen.

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