Mannheim. Von Christian Busch
Wir alle mögen das Gefühl, dass wir unser Leben selbst in der Hand haben: dass wir die Kontrolle über unsere Zukunft haben, dass wir wissen, wie wir unsere Ziele und Ambitionen erreichen werden. Kurz gesagt, wir alle haben gerne einen Plan. Aber es gibt noch eine andere Kraft, die im Leben ständig im Spiel ist und die oft den größten Unterschied für unsere Zukunft ausmacht: das „Unerwartete“ oder „Unvorhergesehene“.
Sie achten wahrscheinlich bereits jeden Tag auf das Unerwartete, aber oft als Abwehrmechanismus. Wenn Sie zum Beispiel einen Fußgängerüberweg an einer vielbefahrenen Straße benutzen, schauen Sie vielleicht trotzdem nach links und rechts - selbst wenn Sie grün haben, da Sie annehmen, dass jemand über eine rote Ampel rasen könnte.
Diese Wachsamkeit gegenüber dem Unerwarteten - vor allem aber dem positiv Unerwarteten - steht im Mittelpunkt, wenn es darum geht, die Wissenschaft der Serendipität (Serendipity; „aktives Glück“) zu verstehen und sie zu unserem Vorteil zu nutzen.
Trainieren - wie einen Muskel
Über die letzten zehn Jahre hinweg hat unser Forschungsteam an der London School of Economics und der New York University erforscht, was Menschen und Organisationen erfolgreich macht. Eine Erkenntnis tauchte immer wieder auf: Viele der spannendsten, inspirierendsten und erfolgreichsten Menschen haben eine - oft unbewusste - Fähigkeit entwickelt, das Unerwartete als Möglichkeit zu sehen und in positive Ergebnisse umzuwandeln. Die Entwicklung dieses Serendipitätsdenkens ist sowohl eine Lebensphilosophie als auch eine Fähigkeit, die wir wie einen Muskel trainieren können.
„Blindes“ Glück, wie beispielsweise bei der Geburtslotterie in eine gute Familie hineingeboren zu werden, ist passiv - wir können nicht viel dazu beitragen. Es schafft oft soziale Ungleichheit. Serendipität hingegen ist „aktives“ Glück - das Zusammenkommen von Zufall und menschlichem Handeln.
Stellen Sie sich vor, Sie verschütten aus Versehen in einem Café einen Kaffee über jemanden, der oder die sie leicht verärgert anschaut - aber Sie spüren, dass zwischen ihnen „etwas sein könnte“. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, sich nur zu entschuldigen und weiterzugehen - und dann zu denken, was hätte passieren können, hätten Sie mit der Person gesprochen. Eine andere Möglichkeit aber ist, ein Gespräch zu beginnen - und die Person wird im Endeffekt die Liebe ihres Lebens, ihre nächste Mitgründerin, oder eine neue Freundin. Unsere Reaktion auf unerwartete Momente bestimmt hier, was aus einem Zufall entsteht - und ob diese Dinge materialisieren oder verpuffen.
Der Gastautor
- Professor Dr. Christian Busch, geboren in Bergisch-Gladbach und aufgewachsen in der Region – in Heidelberg und Meckesheim –, lehrt und forscht an der New York University und London School of Economics.
- Er ist Mitbegründer von Leaders on Purpose und dem Sandbox Network und ehemaliger Co-Direktor des LSE Innovations-Zentrums. Außerdem ist er Mitglied des Expertenforums des Weltwirtschaftsforums und steht auf der Thinkers50 Radar-Liste der 30 Denker, die „die Zukunft am ehesten gestalten werden“.
- Gerade ist sein Buch „Erfolgsfaktor Zufall. Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“ im Murmann Verlag erschienen.
- Der Autor kommt am Montag, 6 März, 20.15 Uhr, für eine Lesung nach Heidelberg (Schmitt & Hahn, Hauptstraße 8; Anmeldung per Mail an hauptstrasse8@schmitt-hahn.de).
Etliche Innovationen und Erfindungen - von Penicillin, Post-it-Zetteln, Röntgenstrahlen und Mikrowellen über Viagra zu Kartoffelwaschmaschinen - sind aus solchen Unfällen und Zufällen heraus entstanden. Nehmen Sie die Kartoffelwaschmaschine: Als sich Bauern bei dem chinesischen Haushaltsgerätehersteller Haier beschwerten, dass Ihre Waschmaschine immer zusammenbrach, stellten die Wartungsmitarbeitenden fest, dass einige Kunden auf dem Land ihre Waschmaschinen zum Waschen von Wurzelgemüse verwendeten. Anstatt diese Fälle als unbedeutend abzutun - oder ihnen zu erklären, dass der „Plan“ ist, Kleider darin zu waschen - erkannte Haier den potenziellen Wert und entwickelte eine Waschmaschine, die auch pflanzlichen Schmutz und Ablagerungen verarbeiten und filtern konnte. Die Kartoffelwaschmaschine war geboren.
Die Serendipität ist eine treibende Kraft bei Innovationen und Erfindungen, aber auch in unserem täglichen Leben, in den kleinsten Momenten ebenso wie bei den größten lebensverändernden Ereignissen. Wie können wir es wahrscheinlicher machen, dass uns dieses aktive Glück widerfährt?
Eine Antwort mit vier Haken
Eine Strategie, die Wahrscheinlichkeit von positiven Zufällen zu erhöhen und Serendipität zu schaffen, ist die Hakenstrategie. Es geht darum, interessante Themenpunkte in Gespräche oder Meetings als Serendipity-Haken einzubauen, die helfen, interessante (und oft unerwartete) Überschneidungen zu finden. Wenn beispielsweise Oli Barrett, ein britischer Unternehmer, neue Leute kennenlernt, setzt er mehrere Haken, die darauf abzielen, Überschneidungen mit der anderen Person aufzudecken. Wenn er gefragt wird: „Was machen Sie so beruflich?“, sagt er etwas wie: „Ich liebe es, Menschen zu verbinden, bin im Bildungssektor tätig und habe vor kurzem angefangen, über die Philosophie der Wissenschaft nachzudenken, aber was mir wirklich Spaß macht, ist das Klavierspielen.“
Diese Antwort enthält vier Haken: eine Leidenschaft (Menschen zu verbinden), ein Interesse (Philosophie der Wissenschaft), eine Berufung (Bildung) und ein Hobby (Klavierspielen). Würde er nur antworten: „Ich bin Unternehmer“, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass andere eine „zufällige“ Verbindung herstellen, recht gering. Indem er jedoch mehrere Haken setzt, erhöht er die Wahrscheinlichkeit, dass der Zuhörer oder die Zuhörerin in etwa so antwortet: „Was für ein Zufall! Ich habe schon immer darüber nachgedacht, eine Community zu gründen, in der es darum geht, Menschen zu verbinden. Lassen Sie uns reden!“
Haken ermöglichen es anderen, etwas zu finden, das sie interessiert. Es ist einfacher, diese Haken zu setzen, wenn man sich vorher Gedanken macht, was diese Haken sein könnten, die man spannend findet - und die für andere relevant sein könnten.
Wir können auch anderen die Möglichkeit geben, Haken zu setzen. Eine Möglichkeit ist, Fragen anders zu stellen und offen für unerwartete Antworten zu sein. Wenn man beispielsweise eine neue Person kennenlernt, stellt man vielleicht die gefürchtete Frage: „Und was machen Sie so beruflich?“ Damit packt man die andere Person in eine Box. Wenn man stattdessen eine offenere Frage benutzt (zum Beispiel: „Wofür interessieren Sie sich im Moment?“ oder „Was fanden sie am interessantesten an der Präsentation?“), wird es wahrscheinlicher, dass man „zufällige“ spannende Überschneidungen findet - die oft wenig mit unserer beruflichen Position zu tun haben.
Gewisse Offenheit hilfreich
Einige Menschen sind sehr gut darin, intuitiv Serendipität zu kultivieren - wir nehmen diese Menschen dann als „Glückspilze“ wahr und denken, „die sind anders als ich“. Aber wir können alle lernen, mehr Serendipität im Leben zu haben. Oft halten wir uns selbst davon zurück, zum Beispiel, wenn Hochstapler-Syndrom oder Angst vor Zurückweisung ins Spiel kommen. Sobald wir uns selbst besser verstehen, können wir erkennen, wann und wo wir uns selbst im Wege stehen. Vielleicht hatten Sie beispielsweise in einem Meeting eine unerwartete Idee und haben Sie aber nicht erwähnt, weil sie noch nicht „ausgereift“ genug war. Oder vielleicht sind sie auf einer Konferenz zufällig in eine inspirierende Person gelaufen, die Sie immer schon treffen wollten, aber haben sie dann doch nicht angesprochen.
Hier waren womöglich Angst vor Zurückweisung oder andere selbstlimitierende Barrieren im Spiel. Ein Weg, damit umzugehen, ist das „Reframing“ - weg von „was ist das Schlimmste, was passieren kann, wenn ich etwas mache“ (wie die potenzielle Zurückweisung, wenn man jemanden anspricht), hin zu „was ist das Schlimmste, was passieren kann, wenn ich es nicht mache“ (wie tagelang das Gefühl des Bereuens zu haben, die Situation nicht genutzt zu haben). Wenn wir ein solches Reframing vornehmen, sehen wir, dass oftmals Serendipity wahrscheinlicher wird, da wir uns nicht mehr selbst blockieren.
Oft brauchen wir dazu eine gewisse Offenheit. Das folgende Experiment ist ein Beispiel davon: Es wurden Personen ausgewählt, die sich entweder als „Glückspilz“ oder als „Pechvogel“ bezeichneten. Die Forscher baten jeweils einen, getrennt voneinander in ein Café zu gehen, vor dem sie einen Fünf-Pfund-Schein auf den Bürgersteig gelegt hatten. Drinnen saß ein erfolgreicher Geschäftsmann am Tisch neben dem Tresen. Die Glückspilz-Person näherte sich und entdeckte das Geld. Drinnen bestellte sie einen Kaffee, setzte sich neben den Geschäftsmann und fing ein Gespräch mit ihm an. Die Person, die sich selbst als Pechvogel bezeichnete, bemerkte dagegen weder das Geld noch sprach sie mit dem Geschäftsmann. Später fragten die Forscher beide Teilnehmenden, wie ihr Tag verlaufen sei. Die Glückspilz-Person gab an, einen tollen Tag gehabt zu haben - sie hatte Geld auf der Straße und einen neuen Freund gefunden (der ihr potenziell weitere Möglichkeiten eröffnen könnte). Die Pechvogel-Person hingegen beschrieb ihren Tag als ereignislos. Obwohl also beide Teilnehmer die genau gleiche Situation - den gleichen anfänglichen Möglichkeitsraum - hatten, war nur eine von ihnen in der Lage, etwas damit zu machen.
Hier hilft es natürlich, mit anderen Menschen zu sprechen, aber introvertierte Menschen haben oft auch Serendipität, die von „ruhigen Quellen“ kommt: Beispielsweise, wenn man ein Buch liest und dann eine unerwartete Idee für einen Podcast hat. Oder wenn man einen anderen Weg zur Arbeit nimmt und im Schaufenster ein unbekanntes Buch sieht, dass einem eine neue unerwartete Idee bringt.
Hier geht es nicht darum, unsere Pläne über Bord zu schmeißen - im Gegenteil. Es geht darum, das Unerwartete in unsere Pläne zu integrieren. Manche Unternehmen fragen beispielsweise ihre Mitarbeitenden, was sie in der letzten Woche überrascht hat. Eine einfache Frage, aber sie „legitimiert“ das Unerwartete - es wird nicht mehr nur als Feind, sondern auch als potenzielle Quelle von neuen Ideen gesehen. Wie bei der Kartoffelwaschmaschine.
Unser Leben, unsere Strategien verlaufen einfach nicht immer linear. Sie sind wie ein Kringel, mit vielen unerwarteten Drehungen und Wendungen. Sobald wir dies ehrlich artikulieren und unsere Kontrollillusion verlieren - dass wir immer völlige Gewissheit haben können und uns an Plänen festbeißen anstatt sie als Kompass zu begreifen - ermöglichen wir die Klarheit, die es uns ermöglicht, die Möglichkeiten im Unerwarteten zu sehen. Dann wird der Zufall Teil unserer Pläne.
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