"MM"-Debatte

Kann unsere Gesellschaft nicht mehr streiten, Herr Becker?

Von 
Heinz Becker
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Konnten wir je streiten? Wir lernen es doch gerade erst. Vergessen wir nicht: Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Konflikte und widerstreitende Interessen durch Machthaber entschieden - Machthaber, ausgestattet mit Amtsgewalt oder der kühnen Behauptung göttlicher Eingebung. Das Gesetz des Stärkeren galt auch im Privaten. Das familiäre Miteinander regelte elterliche Bestimmung, die nur selten Widerspruch duldete. Kinder mit 'nem Willen, kriegen was auf die Brillen. Lehrer durften selbstverständlich ungehorsame Kinder schlagen. Bei aufkommenden Konflikten lehrte man mich: "Der Klügere gibt nach." Aber wo kommen wir hin, wenn immer der Klügere nachgibt? Manche Schlacht muss geschlagen werden.

Die Bemühung um Einigung widerstreitender Lager ohne Machtwort ist meines Erachtens das aktuelle Zeitgeistthema. Brexit und weitere mögliche Abspaltungen von der EU, Katalonien, die Spaltung Amerikas, der Türkei, des gesamten arabischen Raumes und nicht zuletzt auch Deutschlands, um nur einige Beispiele zu nennen, wecken die Sehnsucht nach gesunden Verhältnissen in gemeinsamen Situationen. Aber wie finden Menschen zueinander?

Um dieser Frage nachzugehen, suchte ich in der erzählenden Literatur nach Geschichten über das Sich-Zusammenraufen von Gruppen und ihr Sich-Durchringen zu einer einheitlichen Position. Zu meiner Überraschung fand ich nur Beispiele aus dem 20. Jahrhundert. Sollten Einigungsbemühungen unter Menschen ohne Machtwort eine so späte Errungenschaft der Menschheit sein? Es scheint so, denn meine Suche nach früheren Schilderungen war intensiv, aber vergeblich.

Todesstrafe gefordert

Das älteste Fundstück war ein berühmt gewordenes Werk der Theaterliteratur: Die zwölf Geschworenen, von Reginald Rose. Es fällt leicht, in diesem Werk sich selbst wiederzuerkennen. Die Schilderung des steinigen Weges von der konfliktträchtigen Ausgangssituation bis zum erlösenden Augenblick der Einigung geht unter die Haut: Ein junger Mann ist des Mordes angeklagt. Die Plädoyers sind abgeschlossen, die Todesstrafe ist gefordert. Schuldig oder nicht schuldig? Die zwölf Geschworenen treten zusammen. Sie ringen um den einstimmigen Spruch. Anfangs steht die Schuld des vermeintlichen Täters fast zweifelsfrei fest, und die Debatte darüber ist nur lästig, weil dadurch der Besuch eines Baseball-Matches aus Zeitgründen zu scheitern droht. Dann wird es mehr und mehr ernst, bitterernst. Turbulenzen, Feindseligkeiten einerseits, ständig wechselnde Fraktionsbildungen unter den Diskutanten andererseits, Kränkungen, Verletzungen, bis zur Weißglut getriebene Wut, ja Hass, Hin-und-her-Geworfensein der Beteiligten in einer mehrstündigen Debatte bis hin zur Neubewertung des eigenen Schicksals und Lebensleids bestimmen die Auseinandersetzung. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Alle Beteiligten sind über das eigene Fassungsvermögen hinaus gefordert, bis auch der letzte Verstockte sich durchringt. Der Zweifel obsiegt, das nun einmütige Urteil lautet: Freispruch!

Dieses Theaterstück fand seit seiner Erstaufführung außergewöhnliche Beachtung. Die Kritiker priesen, hier könne man Demokratie lernen. Das Stück illustriert eindrucksvoll: Wer Konsens bilden will, muss manchmal harte Auseinandersetzungen überstehen. Zu Unrecht wird das Bemühen um Konsens bisweilen mit Harmonie verwechselt. Harmonie steht - wenn überhaupt - erst am Ende des Ringens.

Freie Diskussion mit kritischer Prüfung

Wann fand die Premiere der Zwölf Geschworenen statt? Es war 1954! Grad' gestern, möchte man sagen. Trotzdem, wenn wir uns in der Welt umschauen, dann haben wir doch schon eine ganze Menge erreicht: Der Schlüssel zum Erfolg der westlichen Kultur ist die freie Diskussion mit ihrer kritischen Prüfung aller Ideen, Meinungen und Interessen. Verstehen und Weiterentwicklung von Streitkultur erscheint daher lohnenswert.

In meiner mehr als 20-jährigen Beratungspraxis konnte ich zahllose Einigungsprozesse beobachten und ihre Gesetzmäßigkeiten erforschen. Dabei gewann ich eine überraschende Erkenntnis: Ob im privaten Rahmen einer Familie, im Mannschaftssport, in politischen Gremien oder in der Arbeitswelt, überall greifen die gleichen Prinzipien. Wenn die Diskussion der Beteiligten zum Konsens führen soll, geht es - entgegen der landläufigen Meinung - nicht herrschaftsfrei zu. Im Gegenteil, die Gesprächsleitung ist als Ordnungsfaktor des Geschehens unverzichtbar. Elitäre, kooperative und autoritäre Stilelemente sind innerhalb eines Einigungsprozesses gleichermaßen wichtig. Aber immer zur rechten Zeit und in geeigneter Dosierung.

Das ist leichter gesagt als getan. Denken Sie nur an das wohl größte Managerversagen in der Geschichte der Bundesrepublik. Der autokratische Führungsstil bei VW erzeugte ein Klima der Angst. Was sonst kann den Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh bewogen haben, einen Kulturwandel zu fordern: "Die Mitarbeiter müssen sich mit ihren Ideen und Bedenken direkt an ihre Vorgesetzten wenden können." Klar, dann liegen die Probleme auf dem Tisch und es kann offen um eine Lösung gestritten werden. Am besten konstruktiv. Kaum zu glauben, aber das war offensichtlich nicht möglich - stattdessen Geheimniskrämerei. Hätte VW über Streitkultur verfügt, dann hätte es den ganzen Skandal nicht gegeben.

Fehlentscheidungen entgegentreten

Streitkultur ist die einzige vernünftige Alternative zum System "Befehl und Gehorsam". Erst diskursive Entscheidungsprozesse ohne eine Atmosphäre der Angst ermöglichen, den Entscheidungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und damit Fehlentscheidungen entgegenzutreten.

Aber wer verfügt schon über elitäre, kooperative und autoritäre Stilelemente im eigenen Verhaltensrepertoire und weiß sie mit Fingerspitzengefühl im rechten Moment einzusetzen? Instinktiv machen die Moderatoren, Mediatoren, Führungskräfte, Politiker, Trainer, Mütter und Väter oder sonstigen Autoritäten vieles richtig. Aber dass sie alles richtig machen, ist höchst selten. Hier kann fast jeder noch hinzulernen. Dazu muss man aber zu allererst die eigenen Schwachstellen kennen.

Um Ihnen, lieber Leser, beim Nachdenken über Ihr eigenes Tun eine Richtung zu geben, werde ich die vier häufigsten Stolpersteine auf dem Weg vom Ausgangskonflikt bis zum Konsens beschreiben.

Jedes Gespräch braucht eine wirksame Initialzündung, die die Anderen mitreißt. Nur durch eine klare Themensetzung gelingt es, die Beteiligten so auf den Ausgangskonflikt zu konzentrieren, dass alle in die Auseinandersetzung einsteigen. Dazu braucht es Courage, einen Schuss Kühnheit, denn dies ist ein elitärer Akt. Am besten gelingt er charismatischen Menschen mit einer raumfüllenden Ausstrahlung. Ihr Blick, ihre Wortwahl und Prägnanz ihrer Aussage verleiht ihnen eine bestimmende Kraft.

Oft gibt es einen Mangel an Rauflust. Die Menschen scheuen chaotische Diskussionsphasen und streben Ordnung und Harmonie an. Aber neue Ideen entstehen nur selten in einem rationalen, geordneten Dialog. Sie erwachsen meist aus einer chaotisch-mannigfaltigen Gemengelage. Der "heiße Brei" und das ängstlich Verschwiegene, alles muss auf den Tisch. Viele glauben, man ringe bereits um eine Entscheidung. Falsch. Die Entscheidung kommt später, wenn alles gesagt ist. Vorläufig geht es nur um die Sammlung aller Argumente, Ideen, Interessen, Chancen, Gefahren und so weiter. Damit das alles passiert, braucht es nun eine raumgebende Gesprächsführung, die im Hintergrund bleibt, die nicht den Mut verliert und "den Streit abbricht". Denn die Spannung steigt fortwährend an und läuft auf einen "Kulminationspunkt" zu.

Ein hauch von Langeweile kommt auf

"Die Luft ist raus." Plötzlich lässt die Spannung nach. Aussagen wiederholen sich. Ein Hauch von Langeweile kommt auf. Dies ist eine mögliche Form, in denen sich der Kulminationspunkt der Diskussion zeigt. In diesem Moment kann und muss die Gesprächsführung eingreifen, "den Sack zumachen" und die Entscheidung herbeiführen. Kaum jemand weiß um die Bedeutung dieses Augenblicks. Um ihn zu nutzen, braucht die Gesprächsführung Empathie und ein Gespür für Stimmungen.

In der Phase der Umsetzung des gemeinsamen Entschlusses lassen es Führungskräfte und Mütter nicht selten an Konsequenz fehlen. Die Führung ist ja nun legitimiert, die vereinbarten Handlungen einzufordern und darf nicht davor zurückschrecken, angedrohte Sanktionen zu vollziehen, wenn Einzelne ihre Hausaufgaben nicht machen. Sehr oft geht es nicht ohne autoritäre Interventionen.

Am Ende ist das Werk vollbracht. Freude und Erleichterung kommen auf, manchmal Stolz. Das "Wir" ist gestärkt und die Erfahrung hat einmal mehr gezeigt: Streiten verbindet.

Heinz Becker

Heinz Becker lebt in Hamburg. Er studierte Elektrotechnik und machte sich nach einer Karriere im Verkauf von Investitionsgütern selbstständig mit der Idee, Vertriebsingenieure zu schulen. Berufsbegleitend schloss er ein Psychologiestudium und eine Psychotherapie-Ausbildung ab.

Zehn Jahre lang arbeitete er parallel als Psychotherapeut in freier Praxis und als Lehrtherapeut, während er gleichzeitig für einen großen Telekommunikation-Hersteller seine Expertise auf das Feld des Managementtrainings übertrug.

Seit dem Ende der 1980er Jahre konzentrierte er sich hauptsächlich auf die Beratung von Führungskräften bei der Überwindung von Krisen- und Umbruchsituationen.

Heinz Becker ist Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft für Neue Phänomenologie und der Stiftung Neue Phänomenologie.

Sein jüngstes Buch ist dieses Jahr erschienen beim Verlag Carl Hanser: "Unternehmen brauchen Streitkultur - Konstruktiv streiten und sich erfolgreich einigen".

Weitere Informationen unter www.heinz-becker.com.

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