Debatte

Kann sich Europa im Ernstfall auf die USA verlassen, Herr Overhaus?

Die USA sind kein verlässlicher Bündnispartner mehr. Zumindest nicht in dem Sinne, wie Deutschland und Europa es jahrzehntelang gewohnt waren. Was bleibt also noch übrig vom transatlantischen Bündnis? Ein Gastbeitrag.

Von 
Marco Overhaus
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Die USA waren jahrzehntelang Europas „großer Bruder“, der in der Not zur Seite stand. Doch wie steht es um die Beziehung, seit Donald Trump an der Macht ist? © Getty Images

Mannheim. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht mindestens eine Meldung aus den USA auch die deutsche Nachrichtenlage prägt. Mal geht es um den Ukraine-Krieg, mal um die jüngste Eskalation im Zollstreit und dann wieder um präzedenzlose Schritte der Trump-Administration zur Aushöhlung der Gewaltenteilung in Amerika.

Aber auch jenseits der aktuellen Nachrichtenflut wird immer deutlicher, dass die USA heute kein verlässlicher Bündnispartner mehr sind – zumindest nicht mehr in dem Maße, wie es aus deutscher Sicht über Jahrzehnte galt. Amerika kann und will diese Rolle auch nicht mehr spielen. Der ständige mediale Blick auf Trump verschleiert, dass Zweifel an der NATO-Garantiemacht auch schon lange vor dessen erneutem Einzug ins Weiße Haus gewachsen sind.

Drei Säulen der „Pax Americana“ haben bereits Risse

Das atlantische Verteidigungsbündnis basiert seit Jahrzehnten auf der Idee der „Pax Americana“, dass nämlich amerikanische Macht die europäische und internationale Sicherheit gewährleistet: militärisch eingebettet in Allianzstrukturen, flankiert von wirtschaftlicher Offenheit und gestützt auf liberal-demokratische Werte.

Diese drei Säulen der „Pax Americana“ haben in den letzten Jahren bereits tiefe Risse bekommen und drohen nun während der zweiten Amtszeit von Trump vollends einzustürzen. Amerikanische Sicherheitszusagen sind unglaubwürdiger geworden, weil der einst überparteiliche Konsens zugunsten einer internationalen Führungsrolle der USA zerbrochen ist. Hinzu kommt, dass sich die militärischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Welt verschoben haben.

Vor allem China schickt sich an, Amerika sicherheitspolitisch und militärisch herauszufordern.
Marco Overhaus

Amerika gibt zwar noch immer mehr Geld für seine Verteidigung aus, als die zwölf nächstgrößten Militärmächte zusammengenommen. Allerdings reichen selbst diese enormen Ressourcen nicht mehr aus, um die militärische Dominanz der USA auf globaler Ebene aufrechtzuerhalten. Vor allem China schickt sich an, Amerika sicherheitspolitisch und militärisch herauszufordern. Peking verschafft sich mehr und modernere Raketen, Kampfflugzeuge, getarnte Bomber und Flugzeugträger. Zwar ist die Volksrepublik noch weit von „nuklearer Parität“ mit den USA und Russland entfernt, doch reduziert sich der Abstand von Jahr zu Jahr.

Soziale und wirtschaftliche Verwerfungen, die teils Jahrzehnte zurückreichen, haben zu einer protektionistischen Wende in der Wirtschafts- und Handelspolitik geführt. Die Aushöhlung der US-Industrie, die viele vorrangig China anlasten, betrifft nicht nur Arbeitsplätze, sondern berührt auch die amerikanische Identität. Der freie Austausch von Waren, Technologie, Kapital und Menschen gilt schon längst nicht mehr als eine Chance für mehr Wohlstand und Innovation, sondern als sicherheitspolitisches Risiko.

Trump und seine Getreuen greifen Gewaltenteilung an

Dieser Paradigmenwechsel von der Offenheit zur Geo-Ökonomie ist von dauerhafter Natur, weil er von beiden politischen Lagern in Amerika getragen wird. Dieser Wechsel ist auch noch keineswegs abgeschlossen, denn er betrifft immer mehr wirtschaftliche Sektoren und Instrumente. Dabei geht es um weit mehr als um die Zölle, die aktuell die politische Debatte dominieren. Auch der Einsatz von Export- und Kapitalkontrollen sowie von Sanktionen wird immer mehr zum Spaltpilz auch zwischen Verbündeten.

Schließlich erodieren auch die Grundlagen der amerikanischen Demokratie. Jeden Tag starten Trump und seine Getreuen einen neuen Angriff auf die Gewaltenteilung. Viele dieser Schritte werden die US-Gerichte noch lange beschäftigen, während derweil die Grenzen des „Normalen“ weiter verschoben werden. Auch hier gilt, dass viele Krisensymptome der amerikanischen Demokratie schon vor Trump sichtbar waren. Dazu zählen das Infragestellen von Wahlen, das Ausgreifen exekutiver Macht bzw. die Selbstentmachtung des Kongresses sowie die Politisierung – „Weaponization“ – des Justizwesens (und zunehmend auch des Bildungssystems).

Dabei gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Erosion liberal-demokratischer Normen im politischen System der USA und der amerikanischen Außenpolitik. Wenn die Grenzen exekutiven Handelns im Innern wegfallen, dann werden sich die USA auch international immer weniger von Institutionen und der Suche nach Konsens und Kompromissen einhegen lassen.

All diese Entwicklungen haben fundamentale Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Europa und Amerika.
Marco Overhaus

All diese Entwicklungen haben fundamentale Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Europa und Amerika. Sie zwingen gerade uns Deutsche dazu, lieb gewonnene Annahmen der letzten Jahrzehnte über Bord zu werfen. Die erste dieser überkommenen Annahmen lautet, dass es doch im „wohlverstandenen Eigeninteresse“ Amerikas liege, sich dauerhaft politisch und sicherheitspolitisch in Europa zu engagieren. Tatsächlich sind die USA schon seit längerem in einem Prozess, ihre außenpolitischen Interessen neu zu definieren. Spätestens seit der Hinwendung Amerikas nach Asien (Pivot to Asia) unter Präsident Barack Obama ist die Bedeutung Europas in der globalen Sicht der USA geschwunden.

Über Jahrzehnte sahen sowohl Washington als auch die europäischen Hauptstädte die transatlantischen Beziehungen als einen Grand Bargain an, das heißt als eine dauerhafte Beziehung zum beiderseitigen Vorteil. Unter Trump ist die „Transaktionalisierung“ dieser Beziehung weit vorangeschritten. Was aus amerikanischer Sicht zählt, ist nunmehr, dass sich die Beziehung eher über kurz als über lang in Cent und Dollar auszahlt.

Über Jahrzehnte eine Kultur der Abhängigkeit gepflegt

Zweitens ist auch in Deutschland die Annahme weit verbreitet, dass sich die Beziehungen zu den USA dadurch stabilisieren lasse, dass man der jeweiligen US-Regierung, derzeit also Trump, nur einen „besseren Deal“ anbietet – sei es in Form von mehr gekauften US-Rüstungsgütern, amerikanischem Fracking-Gas oder anderen Gütern, um die Handelsbilanzdefizite Amerikas auszugleichen. Gerade weil die Beziehungen immer transaktionaler werden, wird dieser Ansatz jedoch allenfalls kurzfristig für Entlastung sorgen.

Dennoch ist diese Abhängigkeit kein Naturgesetz und sie ist vielleicht sogar leichter zu überwinden als oft gedacht.
Marco Overhaus

Schließlich herrschte in Deutschland und anderen europäischen NATO-Ländern – wenn auch oft unausgesprochen – lange Zeit die Annahme vor, dass die sicherheitspolitische Abhängigkeit von Amerika quasi unabänderlich sei. In diesem Sinne haben wir über Jahrzehnte regelrecht eine „Kultur der Abhängigkeit“ von Amerika gepflegt. Es stimmt schon, dass Europa derzeit in vielen Bereichen auf die USA angewiesen ist, nicht zuletzt bei bestimmten militärischen Fähigkeiten (wie schnell einsatzfähige Truppen, Abstandswaffen, moderne Kampfflugzeuge, Lufttransport oder Luftverteidigung).

Der Gastautor



  • Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er forscht seit vielen Jahren zur Außen- und Sicherheitspolitik der USA sowie zu Themen der europäischen Sicherheit. Weitere berufliche Stationen waren der Planungsstab des Auswärtigen Amts sowie die RAND-Corporation in Washington D.C.
  • Im April 2025 ist sein aktuelles Buch „Big Brother Gone – Europa und das Ende der Pax Americana beim Verlag Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.

Dennoch ist diese Abhängigkeit kein Naturgesetz und sie ist vielleicht sogar leichter zu überwinden als oft gedacht. Nicht jeder militärische NATO-Beitrag der USA muss eins zu eins ersetzt werden. Im Jahr 2023 haben die europäischen NATO-Staaten gemeinsam bereits mehr als 400 Milliarden US-Dollar für ihre Verteidigung ausgegeben. Selbst kaufkraftbereinigt ist das deutlich mehr als Russland. Europa braucht auch kein derart umfassendes und breit gefächertes Atomwaffenarsenal wie Amerika, um ein Minimum an Abschreckung zu gewährleisten.

Die deutsche und europäische Politik sollte nicht in die Schwarz-Weiß-Falle von Donald Trump tappen. Es gibt nicht nur Freund und Feind. Nur weil die USA ein immer weniger verlässlicher Bündnispartner sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nunmehr ein Gegner geworden sind. Allerdings verhält sich Amerika auch gegenüber seinen europäischen (und asiatischen) Verbündeten immer mehr wie eine „normale Großmacht“.

Europa muss sich emanzipieren

Dementsprechend muss das Verhältnis neu gedacht werden. Mehr europäische Verantwortung in der NATO darf sich nicht nur auf die Rüstung beschränken, sie muss auch in eine größere politische Entscheidungsfähigkeit Europas münden. Im wirtschaftlichen Bereich muss Europa auch zunehmend über Möglichkeiten der Gegenmachtbildung gegenüber Washington verfügen.

Die neue Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz sucht erkennbar weiterhin den transatlantischen Schulterschluss. Es kann durchaus kluge Politik sein, den offenen Bruch mit Trump zu vermeiden, um mehr Zeit zu gewinnen – Zeit, um die einseitigen Abhängigkeiten im Verhältnis zu Amerika planvoll abzubauen. Weniger klug wäre es jedoch, wenn sich die alten Annahmen weiter halten in der Hoffnung, dass die Dinge in den USA doch nicht so schlimm liegen und die Disruption nur ein vorübergehender Zustand bleibt.

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