"MM"-Debatte

Kann Mathematik unser Leben verbessern, Herr Hesse?

Viele Situationen sind nicht unberechen-, sondern kalkulierbar, ist Christian Hesse überzeugt. Auch in der Liebe – und erst recht beim Lottospielen. Ein Gastbeitrag.

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Christian Hesse
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Nicht immer kinderleicht, aber den Versuch wert: Um die richtige Entscheidung zu treffen und etwas zu erreichen, kann man sich die Mathematik zunutze machen. © Istock/Ivo Kljuce

Ute ist 32. Sie ist Single, will es aber nicht länger sein. Sie hat für sich entschieden, vor ihrem 40. Geburtstag einen Lebenspartner zu finden. Da sie attraktiv, charmant und intelligent ist, bekommt sie viele Heiratsanträge. Im Schnitt jedes Jahr einen. Die interessierten Männer kann sie natürlich nur nacheinander ausprobieren. Und dann zugreifen oder auch nicht. Hopp oder topp. Die abgelehnten Fans sehen sich anderweitig um. Jedenfalls stehen sie später nicht mehr zur Verfügung.

Ute kann also nicht acht Jahre abwarten, alle Bewerber prüfen und dann einen auswählen, dem sie vor sechs Jahren auf den Zahn gefühlt hat. So funktioniert der Heiratsmarkt nicht. Ute ist anspruchsvoll. Sie möchte den besten Lebenspartner ergattern. Allein wie?

Gutes Timing ist, hier wie auch sonst, das A und O! Gäbe sie schon einem der ersten Verehrer ihr Ja-Wort, könnte sie das bereuen. Es entgeht ihr dann vielleicht ein toller Freiersmann, der ihr später mehr zugesagt hätte. Wartet sie aber zu lange, kann es sein, dass sie dem besten Prinzen eine Absage erteilt, weil sie noch auf einen besseren hofft. Eine Hoffnung, die sich eventuell nicht erfüllt.

Ähnliche Situationen mit ähnlichen Entscheidungen treten im Leben sehr häufig auf: Sie wollen eine Praktikantin einstellen. Jeden Tag führen Sie ein Bewerbungsgespräch mit einer anderen Bewerberin, der sie auch gleich das Ergebnis mitteilen. Wann genau sollen Sie zugreifen?

Oder ein Immobilienmakler. Er hat eine Wohnung inseriert und bekommt eine Reihe von Kaufangeboten. Er muss überlegen, ob er ein gutes Angebot ablehnen soll, weil er auf ein noch besseres warten möchte. Es kann allerdings sein, dass nichts Besseres mehr kommt.

Alle diese Probleme haben etwas gemeinsam. Egal ob Partner, Praktikant oder Wohnung: Wenn wir im Markt sind und sich nacheinander Chancen bieten, müssen wir bisweilen sofort entscheiden. Greifen wir nicht zu, ist die Chance für uns verloren, weil ein anderer sie ergreift. Wie sollen wir vorgehen? Was würden Sie der heiratswilligen Ute raten? Das ist eine Frage nicht nur für Romantiker, sondern auch für Mathematiker. Ein Dilemma für Herz, Kopf und Bauch.

Unser Bauchgefühl meint, Ute sollte zuerst einmal die Männer erkunden. Testphase. In dieser Phase werden die heiratswilligen Männer bewertet, etwa nach Prozenten vom Idealtyp. Warum nicht? Und es wird nur geprüft, kein Heiratsantrag wird angenommen. Irgendwann ist die Testphase aber zu Ende. Dann angelt Ute sich den ersten Interessenten, den sie besser bewertet als alle (!) Willigen in der Testphase.

Geht Ute so vor, muss sie noch die Länge der Testphase festlegen. Dabei hilft die Mathematik. Sie liefert die großartige 0,37-Regel: Man multipliziere den für die Entscheidung ins Auge gefassten Zeitraum, hier acht Jahre, mit der Zahl 0,37. Ergebnis: drei Jahre. Solange sollte Utes Männertestphase dauern. Kommt nach dieser Phase kein besserer Heiratsantrag, hat Ute schlechte Karten und muss ihre gesetzte Frist über 40 hinaus ausdehnen. Dennoch ist diese Strategie die beste. Das ist mathematisch beweisbar: Mit ihr hat Ute die größte Chance, den besten Verehrer zu ergattern. Diese Chance beträgt 37 Prozent. Das hört sich nicht nach viel an, aber besser geht es nicht.

Zum Vergleich: Würde Ute nach dem Zufallsprinzip auswählen, läge ihre Chance nur bei 13 Prozent, denn sie kann im vorgesehenen Zeitraum acht Interessenten erwarten. Würde Ute die Testphase länger oder kürzer gestalten, wäre auch das weniger gut. Ihre Erfolgswahrscheinlichkeit läge dann irgendwo zwischen diesen 13 Prozent und dem Optimum von 37 Prozent.

Die 0,37-Regel funktioniert übrigens nicht nur, wenn eine Zeitspanne festgelegt ist. Auch dann ist sie die beste, wenn vorab bekannt ist, wie viele Chancen es geben wird.

Wer nicht wie Ute das Glück in der Liebe findet, der – so behauptet es zumindest der Volksmund – könnte Glück im Spiel haben. Lotto eignet sich allerdings nicht besonders gut, um das Glück herauszufordern, denn ein Lottogewinn ist eine große Glücks-Herausforderung: Es gibt nämlich genau 13 983 816 mögliche Tippreihen.

Ein Gedankenexperiment: Ich komme mit dieser Menge von 1-Euro-Münzen zu Ihnen, Sie markieren eine davon auf der Rückseite. Dann lege ich die 14 Millionen Münzen nahtlos aneinander entlang der Autobahn von Mannheim nach München. Das sind 350 Kilometer. So lang ist diese Münzkette. Nun fahren Sie mit dem Auto in Mannheim los. Irgendwo können Sie anhalten und eine beliebige Münze am Straßenrand umdrehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Ihre markierte Münze umdrehen, ist genauso winzig wie die Chance auf einen Sechser. Und diese Wahrscheinlichkeit können Sie auch nicht verbessern – aber Sie können trotzdem klug Lotto spielen, um ihren möglichen Gewinn zu vergrößern.

Zunächst: Jeder Tipp hat dieselbe Chance, gezogen zu werden. Selbst die Zahlenkombination 1, 2, 3, 4, 5, 6. Egal, was Sie machen, Sie können Ihre Gewinn-Chance nicht erhöhen. Der Zufall lässt sich nicht austricksen. Doch Sie können auf andere Weise clever sein. Denn Sie spielen beim Lotto nicht allein gegen den Zufall. Sie spielen auch gegen die anderen Spieler. Alle sind Mitkonkurrenten um die Gewinnsumme. Und die Lotteriegesellschaft schüttet nur die Hälfte aller Einnahmen als Gewinne wieder aus. Lotto ist deshalb ein todsicheres Gewinnspiel für die Lotteriegesellschaft und ein Verlustspiel für 99,9 Prozent aller Spieler. Sollten Sie trotzdem spielen wollen, ist das zwar nicht sinnvoll, aber es wäre sinnvoll, ein paar einfache Regeln zu beachten, die sich aus dem Tippverhalten der Masse der Tipper ergeben.

Statistiker haben sich intensiv mit dem Tippverhalten befasst. Für mehrere Ziehungen wurden alle abgegebenen Tippreihen untersucht. Viele Millionen. Das Verhalten der Masse war recht konstant: Gut 30 Prozent der möglichen Zahlenkombinationen wurden von niemandem getippt.

Besonders beliebte Tippreihen wurden dagegen teils 20000-mal gespielt. Beliebt sind die Diagonalen des Tippzettelkästchens, alle geometrischen Muster, Zick-Zack-Linien und Strickmuster, die auf dem Lottoschein hübsch anzuschauen sind. Ferner Zahlenreihen wie 2, 9, 16, 23, 30, 37 und alle vorher schon gezogenen Gewinnkombinationen, egal wie lange ihre Ziehung zurückliegt. Selbst heute werden die Zahlen der allerersten Ziehung von 1955 stark überdurchschnittlich angekreuzt. Ein extrem häufiger Tipp sind die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6. Auch Geburtstage und andere bedeutsame Daten sind Favoriten. Deshalb tritt die Zahl 19 häufig auf Tippzetteln auf und wird dadurch zum Quoten-Gift. Generell sind die Zahlen bis 31 stark vertreten und die Zahlen bis 12 erst recht.

Alle beliebten Zahlen und Kombinationen sollten Sie vermeiden. Sie müssen darauf achten, anders als die anderen Zig-Millionen zu sein! Das ist übrigens nicht nur beim Lotto ein Vorteil! Und Sie sollten möglichst nicht getippte Tipps tippen. Das ist leichter gesagt als getan. Aber es geht. Am besten, Sie lassen Ihre Zahlen vom Zufall aussuchen. Spielen Sie mit dem Zufall gegen den Zufall. Schreiben Sie die Zahlen 1 bis 49 auf kleine Zettel, mischen und wählen sechs willkürlich aus. Diese Zahlen nehmen Sie aber nur, wenn ein paar Bedingungen erfüllt sind. Falls nicht, verwerfen Sie die Kombination und ziehen eine neue. Zwei Bedingungen sind wichtig.

Erstens: Die Summe der sechs Zahlen Ihres Tipps sollte nicht zu klein sein. Die Summe sollte mindestens 164 betragen. Das sortiert 80 Prozent aller Tippreihen von Spielern aus, die mit Geburtstagen und anderen Daten ins Rennen gehen.

Zweitens: Wenn alle 15 Abstände zwischen je zwei Zahlen Ihrer Kombination bestimmt werden, sollten mindestens 11 Abstände verschieden sein. Das sortiert einen Großteil der ungünstigen Tippreihen aus, die Muster und andere Regelmäßigkeiten enthalten.

Christian Hesse

Christian Hesse, 1960 geboren, lehrt Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart. Mit seiner Familie lebt er in Mannheim.

Er promovierte an der Harvard University (USA) im Fach Mathematik. Von 1987 bis 1991 lehrte er als Assistenzprofessor an der University of California in Berkeley. Im Jahr 1991 berief der damalige Ministerpräsident Erwin Teufel den damals 30-Jährigen als jüngsten Professor der Bundesrepublik nach Baden-Württemberg.

Christian Hesse hat zudem den Deutschen Bundestag beraten, ist Sachverständiger für das Bundesverfassungsgericht und schreibt Bücher.

Sein neuestes Buch „Leben2 – Wie Sie mit Mathematik Ihre Ehe verbessern, länger leben und glücklich werden“ ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen.

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