Wenn Staat und Öffentlichkeit wissen wollen, was katholische Christen glauben und welche Bedürfnisse sie haben, um ihre Religion in Deutschland frei auszuleben, dann wissen sie, wo sie ihre Ansprechpartner finden: in der organisierten katholischen Kirche. Gleiches gilt für die Protestanten, zum Teil auch für die Juden und sogar für die Zeugen Jehovas. Doch mehrere Millionen hiesige Muslime haben keine zentrale Organisationsstruktur – es gibt keine „islamische Kirche“.
Doch leben Muslime nunmehr seit mehr als 60 Jahren in Deutschland, und auch sie haben Kraft Grundgesetz das Recht, ihre Religion auszuleben. Doch was heißt das? Woran glauben Muslime, was brauchen sie?
Da der Islam theologisch und rituell eher dem Judentum nahesteht, gelten für Muslime einige Regeln, die ihre Bedeutung im christlichen Abendland verloren haben, etwa die Beschneidung von Jungen oder die Schächtung von Tieren. Daher ist es normal, dass gesellschaftliche Diskurse entstehen, weil ein neuerer Teil der Gesellschaft andere religiöse Vorstellungen hat, als der bestehende Kern. Während die Kirchen die Gesellschaft historisch deutlich geprägt haben, müssen Muslime ihren Platz in einem Zeitalter des zunehmenden religionsfernen Zeitgeistes erst finden.
Dabei soll die Deutsche Islam-Konferenz helfen, angedacht als ein Ort der Begegnung des Staates mit Muslimen und ins Leben gerufen im Jahr 2006. Jüngst fand die vierte Konferenz statt. Erklärtes Ziel des Bundesinnenministers Horst Seehofer war es, einen Islam in Deutschland zu fördern, der in der Gesellschaft verwurzelt sei und die Werte des Grundgesetzes teile sowie „unser Land achte“. Und genau das sagt bereits so viel aus: Demnach ist der Islam generell nicht in der Gesellschaft verwurzelt, teilt nicht die Werte unseres Grundgesetzes und achtet auch nicht unser Land.
Seehofer forderte daher „einen Islam für Deutschland, einen Islam der Deutschen“. Es besteht also die Chance, dass wenn der „Islam der Deutschen“ den Kriterien des Innenministers entspricht, er in Zukunft auch zu Deutschland gehören könnte. Eine absurde Vorstellung, da „Islam“ kein Subjekt, sondern ein Objekt ist.
Viele zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Deutschen Islamkonferenz. Es ist zu beobachten: Ideologische Blindgänger beherrschen die Berichterstattung und auch die Themensetzung der Konferenz, sachliche Debatten sind quasi ausgeschlossen und der gesellschaftliche Verdruss zum Thema Islam und Muslime in Deutschland steigt ins Unermessliche. Und wenn am Ende noch Schweinefleisch zur Islamkonferenz serviert wird, dann ist die Empörung perfekt. Ein Umstand, der nicht gerade von Wertschätzung zeugt.
Aber es ist zu einfach, immer alle Schuld beim Staat zu suchen. Denn auch wenn es keine „islamischen Kirchen“ gibt, so haben Muslime in den vergangenen 60 Jahren mehrere Selbstorganisationen gegründet und tausende Gotteshäuser in Deutschland gebaut – finanziert durch die Gemeindemitglieder. Die Leitungen der Bundeszentralen dieser Verbände haben es schlicht versäumt, nach vielen Jahren des Einheimischwerdens der Gemeinden eine Struktur aufzubauen, bei der sich Funktionäre mit verschiedensten Vertretern, Ehrenamtlichen und Wissenschaftlern der muslimischen Community treffen und austauschen können. Der Staat hindert die Verbände nicht daran, eine eigene Konferenz zu veranstalten, bei der sie Muslime aller Strömungen an einen Tisch laden: Kritiker, Liberale, Konservative und auch extremere Positionen. Gemeinsam könnte man Themen ausarbeiten und debattieren, die Diskussion würde viel konstruktiver werden.
Vor allem: Ein Blick in die Basis würde genügen, denn viele Moscheen in den Städten und sogar Landesverbände kommen bereits seit Jahren mit andersartigen Moscheeverbänden zusammen und tauschen sich aus. Es klappt also. Und um eines unmissverständlich klarzustellen: Einen organisierten Islam ohne die historisch verwurzelten und organisch gewachsenen muslimischen Verbände in Deutschland kann und wird es nicht geben. Ihre Basis-Arbeit ist unersetzlich und ihre religiösen Dienstleistungen prinzipiell hervorragend.
Genau das stellen medial prominente Islamkritiker infrage, die auch zu dieser Islam-Konferenz eingeladen waren. Seit Jahren wird immer wieder aufs Neue ein weiterer Islamverband gegründet, der nun aber wirklich die „schweigende Mehrheit“ der Muslime in Deutschland repräsentieren soll – im Gegensatz zu den „konservativen Islamverbänden“. Paradoxerweise versuchen die neueren Vereine die historisch und organisch gewachsenen Verbände zu delegitimieren, indem sie ihnen vorwerfen, nur wenige Mitglieder zu haben. Nur zehn bis 20 Prozent aller Muslime in Deutschland seien dort organisiert, monieren sie.
Aber man könnte den Spieß einfach umdrehen: Wie viele Mitglieder haben denn die neuen Vereine im Vergleich? Wie viele Moscheen haben sie gebaut und betreiben sie? Welche religiösen Dienstleistungen wie Bildung, Totenwäsche und -beerdigungen, Seelsorge, Gefängnisbesuche, Jugendarbeit, Flüchtlingsdienste, Freitagsgebete, Festgebete oder Fastenbrechprogramme bieten sie an?
Klar ist: Die großen islamischen Verbände sind es, die, trotz all ihrer Makel und entgegen der stets wiederholten Behauptungen, die Mehrheit der Muslime in Deutschland repräsentieren. Wer das in Frage stellt, sollte sich nur in eine der Verbands-Moscheen etwa zum Freitagsgebet begeben, und nur die Gläubigen in einer einzigen Moschee in Deutschland zählen – dort wird er mehr Menschen antreffen als alle neue Islam-Initiativen zusammen an Mitgliedern haben.
Allein in den vergangenen drei Jahren gründeten Islamkritiker Initiativen wie das Muslimische Forum Deutschland (2015) – mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im September 2016 unterzeichneten sie die „Freiburger Deklaration“, die sich mit dem dramatischen Satz „Wir träumen von einer Islamreform“ vorstellt, und dieses Jahr gründeten sie gemeinsam mit Neueinsteiger Cem Özdemir die „Initiative für einen säkularen Islam“, immer unter den Kampfworten „aufgeklärt, säkular, humanistisch, liberal“. Man porträtiert sich hier als das Gute, während die „konservativen Verbände“ das Böse und Archaische personifizieren. Wie soll so ein sachlicher Diskurs möglich sein?
Für öffentliches Befremden sorgt aber noch mehr, dass die Initiatoren dieser Vereine des Öfteren die Nähe zu Rechtspopulisten suchen – und das nicht nur inhaltlich, sondern auch bei gemeinsamen Veranstaltungen. Mit Alarmismus warnen sie gemeinsam mit Islamfeinden vor dem Untergang des Volkes wegen des Eindringens fremder, bedrohlicher Kräfte – hier Muslime, Islam –, um sich selbst dann als mutige Reformer und Beschützer zu profilieren.
Damit die liberalen Positionen künftig besser wahrgenommen werden – damit meine ich vor allem auch einmal inner-muslimisch – müssten sie sich zur Abwechslung einmal in die Gemeinden vor Ort begeben, statt auf Podien der FPÖ oder AfD. Aber Muslime sind ja nicht die Zielgruppe der selbsternannten Reformer, sondern die Mehrheitsgesellschaft, die sie in ihren Ängsten bestärkt sehen wollen.
Zwischen all diesen Machtkämpfen müssen sich die Muslime nun behaupten und loslösen von jeder Art der politischen Einflussnahme. Der Islam kennt keinen Klerus, keine Vermittler zwischen Gott und Mensch. Es ging nie um Deutungen, Meinungsunterschiede oder gesellschaftliche Positionierungen – wer das glaubt, ist naiv. Jeder Mensch hat das Recht, seinen eigenen Glauben zu bilden und zu leben. Im Islam gibt es keine religiöse Autorität, die eine uneingeschränkte Deutungshoheit über alle Muslime besitzt. Jeder definiert sich selber, und das ist auch gut so. Auch liberale Muslime haben ihren Platz in unserer Gesellschaft, und ihnen steht es frei, zu denken, zu glauben und zu verkünden, was sie für richtig halten. Da wünschte ich mir, dass sachlichere Stimmen, wie die der Leiterin des Liberal-islamischen Bundes, Lamya Kaddor, Platz in der öffentlichen Debatte finden als jene der Krawallmacher. Und die Islamverbände sollten hierbei die Initiative ergreifen und Foren schaffen für den inner-muslimischen Austausch.
Denn klar ist: Reformen funktionieren nicht, wenn sie gegen die Menschen gehen. Reformen klappen nur dann, wenn sie mit den Menschen gehen.
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Hasan-Hüseyin Kadioglu
Hasan-Hüseyin Kadioglu (24) kommt aus dem behaglichen Ansbach in Mittelfranken und war bis Oktober dieses Jahres Volontär, also auszubildender Journalist, dieser Zeitung. In Mannheim hat er die Muslimische Jugend DITIB Mannheim gegründet.
Der Politikwissenschaftler macht derzeit seinen Master Conflict Resolution in Divided Societies am King’s College London.
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