Gastbeitrag

Kann die Energiewende gelingen, Herr Alt?

Sigmar Gabriels (Bundesminister für Wirtschaft und Energie, SPD) Zwischenbilanz klang, als sei die Energiewende schon in trockenen Tüchern. Aber es warten gigantische Aufgaben, neben denen bisherige Bemühungen winzig erscheinen. Wenn wir künftig mit s

Von 
Franz Alt
Lesedauer: 

Wir Menschen sind schon seltsame Verdrängungskünstler: Ob Simbach in Niederbayern, Polling in Oberbayern oder Hamminkeln am Niederrhein: Überall ist die Rede vom "Jahrhundertwasser", von "einmalig", "unabsehbar" und "überraschend". Nein, genau so ist es nicht.

Was wir noch immer "Jahrhundertereignis" nennen, kommt immer häufiger. Wir werden erleben, dass nach der Katastrophe immer auch vor der Katastrophe ist. Dabei wird immer noch verdrängt, was die Klimaforscher seit Jahrzehnten prognostizieren: dass der Klimawandel auch an Deutschland nicht vorüber gehen wird und dass wir eine klügere Siedlungspolitik brauchen. Höhere Dämme werden uns nicht retten. Die neuen Häuser wurden nach der Elbe-Flut 2002 meist genau dort wieder errichtet, wo die alten vorher standen. Und das obwohl Fachleute geraten hatten: "Gebt dem Fluss mehr Raum".

"Unfassbar" sind nicht die vorhergesagten Katastrophen, sondern unfassbar ist die menschliche Dummheit, welche die Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnisse einfach verdrängt. Das aber interessiert die Natur nicht. Was heute noch "unfassbar" ist, wird bald Alltag werden und sehr, sehr teuer. Die Weltbank hat bereits 2007 prognostiziert, dass die Umweltschäden durch den Klimawandel mindestens fünfmal teurer werden als der rechtzeitige Umstieg auf eine andere alternative Energiepolitik. Allerdings wird es keine Energiewende geben ohne Verkehrswende und ohne eine Bau-Wende. Was also ist zu tun?

Alle Menschen können künftig zu einem nie gekannten ökologischen Wohlstand finden. Wir müssen freilich lernen, nicht länger gegen die Natur, sondern mit der Natur zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften. 2014 und 2015 waren bereits bescheidene Wendejahre. 2015 beim Weltklimagipfel in Paris haben es erstmals in der Menschheitsgeschichte alle 195 Staaten und die EU geschafft, sich als Menschheitsfamilie zu verstehen und gemeinsam einem Klimaschutzabkommen zuzustimmen, das diesen Namen auch verdient.

Im Jahr 2000 gab es in Deutschland erst fünf Prozent Ökostrom, heute sind es schon 35 Prozent. Eine Versiebenfachung in 16 Jahren. Weltweit haben wir seit der Jahrtausendwende den Windstrom verzehnfacht und den Solarstrom sogar verhundertfacht. Vor 16 Jahren gab es auf unserer Erde erst 500 Passivhäuser - Gebäude, die ihre Energie selbst und umweltfreundlich erzeugen. Heute sind es 180 000 Passivhäuser. Tendenz stark steigend.

2014 und 2015 wurde weltweit bereits mehr Geld in erneuerbare Energien investiert als in fossil-atomare. 2014 ging der Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase erstmals seit Jahrzehnten leicht zurück - trotz steigender Wirtschaftskraft. Der Preis für eine Kilowattstunde Solarstrom sank in Deutschland von 70 Cent im Jahr 2000 auf etwa 8 Cent heute, in sonnenreichen Ländern auf circa vier Cent und weniger. Deshalb ziehen jetzt immer mehr Investoren ihr Geld aus fossilen und atomaren Anlagen zurück - wie zum Beispiel der weltgrößte staatliche Vermögensfonds in Norwegen von Kohleinvestitionen. Soeben hat die weltgrößte Kohlefirma in den USA pleite gemacht. Ja, sogar die Rockefeller-Stiftung und die deutsche Allianz-Versicherung werden sich von Kohle-Investitionen verabschieden.

Die Menschen wollen die Energiewende - in Deutschland zu über 80 Prozent, ähnlich in Japan und allmählich sogar in den USA. Diese positiven Entwicklungen werden auch von der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorangetrieben, von China. Dort gab es 2014 sieben Prozent wirtschaftliches Wachstum, aber acht Prozent weniger Treibhausgase als im Vorjahr. Ein überraschender Fortschritt, aber noch kein Beweis für eine dauerhafte und globale Trendwende. Doch auf der Pariser Weltklimakonferenz hat China erstmals die Verhandlungen nicht mehr blockiert, sondern mit vorangetrieben.

Auf geistiger Ebene, wohl der entscheidenden, unterstützen sowohl der Papst in seiner Enzyklika "Laudato si" ohne Wenn und Aber die Energiewende und den Klimaschutz ebenso wie auch der Dalai Lama in dem Buch "Ethik ist wichtiger als Religion", das ich mit ihm zusammen in acht Weltsprachen publiziert habe.

Ökostrom ist kein Luxus mehr für wenige, sondern preisgünstige und umweltfreundliche Energie für alle. In Indien und in Afrika werden bereits tausende Dörfer komplett mit Ökoenergie versorgt. Die Energiewirtschaft befindet sich weltweit in der Phase einer industriellen Revolution - einer Revolution von unten, wie jede erfolgreiche Revolution. Afrika und die Sonne: welch eine Vision! Welch eine Chance! Wir können mit einer solaren Energiewende erstmals in der Menschheitsgeschichte den Hunger überwinden und ins Museum der Geschichte stellen. Voraussetzung dafür ist preiswerte und ausreichende Energie, Wasserversorgung und Bildung. Dieser Dreiklang verändert alles.

Der Ausstieg aus der Braunkohle muss der nächste Ausstieg nach dem Atomausstieg sein. "Der gleichzeitige Ausstieg aus Atom und Kohle geht nicht", sagen Kanzlerin und Vizekanzler unisono. Doch diese Politik passt überhaupt nicht zusammen mit dem, was der Pariser Klimagipfel verkündet hat und auch nicht mit dem erklärten Ziel der Bundesregierung, bis 2050 bis zu 95 Prozent allen Stroms in Deutschland erneuerbar zu erzeugen. Die Weltbank hat schon vor Jahren ausgerechnet, dass keine Energiewende wegen der Folgekosten der alten Energieträger fünfmal teurer wird als eine rechtzeitige und intelligente Energiewende. Fakt ist auch: Durch erneuerbare Energieträger entstehen weit mehr Arbeitsplätze als in den alten Energien verloren gehen.

Die Energiewende macht uns also alle zu Gewinnern: Es entstehen Millionen neue Arbeitsplätze, wir schützen das Klima, leben in größerer Sicherheit und Unabhängigkeit. Und wir schaffen Wohlstand für alle.

Bis zum Jahr 2030 müssen die großen deutschen Autobauer ihre heutige Produktion von Benzinautos komplett auf Elektro- und Wasserstoff-Autos umstellen, wenn sie nicht gnadenlos von ihrer US-Konkurrenz oder von Japan, Korea und China vom Weltmarkt verdrängt werden wollen. In diesen Ländern fahren heute schon weit mehr E-Autos als hierzulande. Ganz zu schweigen von Norwegen. Dort ist bereits 2016 jeder zweite Neuwagen ein Elektrofahrzeug.

Und woher soll die Energie kommen, die wir für die zunehmende Elektrifizierung unseres Lebens brauchen? Allein die Sonne schickt uns jeden Augenblick unseres Hierseins 15 000 mal mehr Energie, als zurzeit alle Menschen verbrauchen. Hinzu kommen Windkraft, Wasserkraft, Bioenergie und Erdwärme. Eigentlich gibt es von Natur aus gar kein Energieproblem. Wir machen uns nur eines. Dieser Planet ist voller Energie. Die Energiewende ist also keine Last, wie uns von Interessenvertretern und ihren politischen Helfern oft erzählt wird, sondern die Chance, eines der größten Probleme unserer Zeit zu lösen.

Unser Zentralgestirn, die Sonne, liefert uns noch über vier Milliarden Jahre alle Energie, die wir brauchen: preiswert, umweltfreundlich und ausreichend für alle. Der große ökonomische Vorteil: Sonne und Wind schicken keine Rechnung.

Energiewende und Verkehrswende werden nur gelingen, wenn sie mit größerer sozialer Gerechtigkeit einhergehen. Eine Studie der Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam hat ergeben, dass die 62 reichsten Menschen unseres Planeten über mehr Geld verfügen als die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit. "Diese Wirtschaft tötet", schreibt der Papst zu Recht. Und diese Wirtschaft produziert Millionen neue Flüchtlinge.

Zwei Dinge sind für die Menschheit zur Überlebensfrage geworden: die Energiewende und eine größere Gerechtigkeit. Ein erster Schritt zu mehr Gerechtigkeit wäre zum Beispiel ein globaler Mindestlohn von einem Dollar pro Stunde. Näherinnen in Bangladesch erhalten heute 25 Cent pro Stunde.

Horst Seehofer war in den letzten Tagen einer der wenigen Politiker, die den Zusammenhang der Klimaveränderung, der Energie-, Verkehrs-und Bau-Wende im Klartext so ausgedrückt haben: "Wir müssen heute mit Ausnahmezuständen rechnen, die sich in kürzeren Abständen mit noch größerer Dramatik wiederholen können. Und es kann jeden treffen. Der Klimawandel ist in Deutschland angekommen". "Das Wasser raste wie ein Tsunami durch die Orte", sagte ein bayerischer Landrat. Tsunami in Deutschland? Vor wenigen Jahren noch undenkbar. Seehofer: "Die Schäden sind infernalisch". Aber sie sind erst die Vorboten, wenn wir nicht ganz schnell die Energiewende organisieren - und zwar viel konsequenter und rascher als bisher.

Zur Person

Dr. Franz Alt ist ein deutscher Journalist, Buchautor und Experte im Bereich Energie.

Alt studierte Politische Wissenschaften, Geschichte, Philosophie und Theologie in Heidelberg und Freiburg. Er arbeitete als Redakteur und Reporter beim Südwestrundfunk, war dort Leiter und Moderator gleich mehrerer Magazine.

Seit 2003 schreibt Alt Gastkommentare und Hintergrundberichte für über 40 Zeitungen und Magazine, hält Vorträge und berät Konzerne und Regierungen in Energiefragen auf der ganzen Welt.

Alt ist Autor der Bücher "Auf der Sonnenseite - Warum uns die Energiewende zu Gewinnern macht" und "Sonnige Aussichten. Wie Klimaschutz zum Gewinn für alle wird".

Weitere Infos unter:

www.sonnenseite.com

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen