Schon seit langem ist es laut geworden um uns herum. Immer mehr sammeln wir uns in Städten, werden allerorten von einer gigantischen Werbemaschinerie innerlich und äußerlich beschallt, umgeben uns mit vielfältiger Technik, die uns mit pausenloser Unterhaltung und Ablenkung versorgt oder verlieren uns in digitaler Kommunikation. Wir sind ständig online. Eine geniale Technik hat ein Universum von Informationen, Waren, Kommunikations-, Kultur- und Unterhaltungsangeboten weltweit verknüpft und in einem kleinen Gerät komprimiert, das jeder in seiner Hosentasche mit sich führt. Alle nutzen es, nicht selten in jeder freien Minute. Unwiderstehlich scheint die Anziehungskraft der digitalen Welt. Da fällt es schwer, „den Schritt anzuhalten“ (Seneca). Keine Zeit für Stille, keine Rückkehr zur Wurzel, keine Hinwendung zum Schicksal. Mit anderen Worten: Wir kommen nicht mehr zu uns selbst, in unsere Mitte, finden keine innere Ruhe, finden nicht das, was für die Weisen des Altertums menschliches Glück bedeutete: Seelenfrieden, innere Ausgeglichenheit, Einklang in und mit uns selbst. Der chinesische Philosoph Zhuangzi, ein Nachfolger Laotses, nannte es „Geborgenheit im eigenen Innern“.
„In der Stille legen wir die Grundlagen für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung.“
In einer solchen Geborgenheit wurzelte für sie die Grundstimmung heiterer Gelassenheit, die einen gelingenden Umgang mit sich, den anderen und der Welt ermöglicht. Zu dieser Geborgenheit gelangen wir nur durch Stille, durch innere Ruhe. „Durch Ruhe ruhig, wandelt man glückselig“, heißt es in den altindischen Upanishaden. „Wem stille Ruhe ward zuteil, den fechten keine Leiden an“, lesen wir in der Bhagavadgita. „Das Boot des stillen Mannes segelt mit gutem Wind“, lautet ein 3000 Jahre alter ägyptischer Text.
Die „Stille“ des Laotse richtet sich neben dem äußeren vor allem gegen den inneren Lärm, den unsere Affekte und Seelenregungen in unserem Kopf und Gemüt auslösen. Wir sollen unsere Sorgen, Begierden, Wünsche, Absichten, Unternehmungen, Pläne, die ständig unser Denken beherrschen, einmal anhalten, abschalten, zum Verstummen bringen und innerlich „still“ stehen. Wir sollen unsere To-do-Liste beiseite legen, die Arbeit, das Morgen, unsere Beziehungen und Aktivitäten in der Außenwelt ausblenden, sei es für ein paar Augenblicke, eine Stunde, einen Tag oder eine längere Phase.
Wir kommen in unser Wesen, zu uns selbst, wenn wir aus dem Hamsterrad des äußeren Lebens heraustreten und die vielfältigen Verstrickungen lösen. Dies geschieht, indem wir unserem Denken und Wollen, das vorwiegend, wenn nicht ausschließlich mit der Organisation unseres äußeren Lebens, mit dem „Abhacken“ beschäftigt ist, eine Auszeit geben.
Hören wir aufmerksam hin, so vernehmen wir in der Stille unser Innerstes, nehmen unsere wichtigsten Bedürfnisse wahr, spüren, was und wer uns gut tut oder nicht, erkennen die Werte und Güter, die uns nähren, entdecken unsere Irrtümer und Verirrungen, werden uns der Leere und Ziellosigkeit so mancher unserer Wünsche und Unternehmungen bewusst. Wir finden uns selbst wieder. Wir bringen Ordnung in unseren Seelenhaushalt, justieren uns neu, stellen uns auf Veränderungsprozesse ein. Wir können uns entschließen, unsere Denk-, Wollens- und Verhaltensmuster, die uns maßgeblich steuern, zu verändern, selbstschädigende Gewohnheiten zu korrigieren oder abzubauen, wohltuende und nährende einzuüben und zu einem Teil unserer selbst zu machen.
Mit anderen Worten: In der Stille legen wir die Grundlagen für eine eigenverantwortliche, aus uns selbst geschöpfte Lebensgestaltung. In der Stille innerer Sammlung beginnt bewusste Persönlichkeitsentwicklung. Hier werden wir zum Steuermann unseres Lebens. Die Stille reinigt, stärkt, erneuert und regt an, macht heil, ganz. Sie ist die stärkste Energiequelle für eine erfolgreiche Bewältigung unseres Alltags.
„Stille fährt die vielfältigen Stressoren herunter und fördert unsere Gesundheit.“
Dieser Prozess der Selbsterforschung, Selbstvergewisserung und Persönlichkeitsentwicklung, der Stille braucht und nur aus ihr heraus erwächst, darf nicht als Flucht in die Innerlichkeit und Weltabgewandtheit missverstanden werden. Das Selbst will gelebt werden und sich im Äußeren gestalten. Erst hier vollendet es sich, findet seine Freude, seine Bewährung, seine Erfüllung. Nur im Wechsel von Besinnung und äußerem Leben können wir unsere Selbstwahrnehmung überprüfen, bestätigt finden, korrigieren oder verwerfen.
Ob wir unsere äußeren Ziele erreichen oder nicht, ist dabei weniger wichtig. Das hängt von vielen Faktoren ab, die wir nur zum Teil beherrschen und an die wir deshalb unser Glück nicht festmachen sollten. Für die Stoiker, die Bhagavadgita und andere Richtungen des antiken Weisheitsdenkens war die Erreichung äußerer Ziele sogar gleichgültig. Worauf es ankommt ist, dass wir unsere innere Stimmigkeit bewahren und das tun, und zwar so gut wir können, was wir von innen heraus tun müssen. Das ist es, was tiefe und anhaltende Befriedigung verschafft.
Die Stille ist die Kraftquelle, zu der wir immer wieder zurückkehren müssen, um uns aufzutanken und (wieder) Orientierung zu gewinnen. „Wer sich nur nach außen wendet, ohne zu sich selbst zurückzukehren“, sagt Zhuangzi, „der geht als Gespenst um.“ Wer ganz im Lärm äußerer Aktivitäten und Zerstreuungen aufgeht, ohne in sich zurückzukehren, der verarmt innerlich und wird emotional leer. Das richtige Maß von Aktivität im Äußeren und Rückkehr zur Stille, zur Geborgenheit im eigenen Innern, ist der Schlüssel für ein gelingendes Leben. „Erkenne den Rhythmus, der im Leben herrscht“, lautet der Vers eines antiken griechischen Dichters. Kurz vor seinem Tod gab Sokrates seinen Schülern den Rat: „Bewahret eure Stille und seid stark!“
Dieses kontinuierliche Zurückkehren zu sich selbst in die Stille der „inneren Burg“ hat gerade für den modernen Menschen mit seinen vielfältigen Eingebundenheiten existentielle Bedeutung in mehrfacher Hinsicht. Neben der Selbsterkenntnis und persönlichen Weiterentwicklung, für die sie Voraussetzung ist, schärft das Stillwerden unsere Urteilskraft. Im Abstand zu den Alltagsverstrickungen lichtet sich unser Blick. Wir können uns selbst, die anderen und die Welt objektiver wahrnehmen und lernen, angemessener zu agieren und zu reagieren. „Reine Stille gibt der Welt das rechte Maß zurück“, sagt Laotse. Sie macht uns weiser. „Die Stille ist eine liebenswürdige Frau und wohnt in der Nähe der Weisheit“ (Epicharm).
Stille fördert unsere Gesundheit. Sie fährt die vielfältigen Stressoren herunter, die innerer und äußerer Lärm und eine permanente digitale Verbundenheit mit unendlichen Lebenswelten hervorrufen können. Sie beugt gesundheitsgefährdenden Dauerbelastungen vor und arbeitet einer ständigen inneren und äußeren Beschallung und Inanspruchnahme entgegen.
„Nicht in der Technik, sondern in ihrem Gebrauch liegen Fluch und Segen.“
Die Psychoneuroimmunologie sieht gerade in dem Mangel an inneren und äußeren Erholungsphasen, die den hormonalen Stresslevel herunterfahren, eine der wesentlichen Ursachen für zahlreiche Krankheiten und verzögerte Heilungsprozesse. Länger anhaltende Stressoren sind permanente Unruheherde und seelische Belastungen, sind das Gegenteil von innerer Ausgeglichenheit und Harmonie der Seelenkräfte. Häufig bleibt das nicht ohne körperliche Folgen.
Es soll hier nicht gegen technischen Fortschritt und Digitalisierung argumentiert werden. Gewiss birgt die Präsenz einer virtuellen Umwelt, die uns in jedem Augenblick mit einem Klick in all ihrer unendlichen Vielfalt zur Verfügung steht, erhebliche Gefahren. Aber zu allen Zeiten gab es solche Gefahren. Der Mensch hat immer Zerstreuung gesucht und gefunden, ist der Stille und sich selbst ausgewichen. Nicht in der Technik, sondern in ihrem Gebrauch liegen Fluch oder Segen. Digitalisierung und Internet können das Leben enorm bereichern und erleichtern. Sie machen jedem jederzeit und überall das ganze Wissen der Menschheit zugänglich. Wer das richtige Maß von Lärm und Stille, von Anstrengung und Ruhe, von aktivem Leben und Besinnlichkeit trifft, wer die Technik regelmäßig abstellt und sich Zeit für sich nimmt, wird auch heute noch innerlich ruhig werden können, zu sich selbst kommen und sein Leben aus seiner Mitte heraus nach den eigenen Vorstellungen gestalten. Einfach ist es nicht, aber möglich ist es jedem.
Es tut Not, immer wieder die Stille zu erfahren, im Alleinsein, in der Meditation, beim Wandern, im Café, beim Tagebuchschreiben, bei einem guten Buch, vor einer Kerze, in der Natur. Jeden Tag ein paar Pausen, jede Woche einen freien Tag, jedes Jahr die notwendigen Auszeiten – das richtige Maß und den angemessenen Rhythmus muss jeder selbst finden. Hauptsache ist, dass wir konsequent und kompromisslos das Rad anhalten, regelmäßig den Alltag unterbrechen und die Stille aufsuchen, um uns mit unserer tiefsten Kraftquelle zu vereinigen. In dieser Stille werden wir uns selbst begegnen und unsere tiefste Sehnsucht befriedigen („stillen“): die Sehnsucht nach Geborgenheit im Innern (Stille“). „Nur Stille vermag Stille zu stillen“, sagt Laotse.
Albert Kitzler
Dr. Albert Kitzler, 1955 geboren, lebt in München. Er studierte Philosophie und Jura und arbeitete als Medienanwalt und Filmproduzent (1994: Oscar für den Kurzfilm „Schwarzfahrer“).
2010 gründete er „Mass und Mitte – Schule für antike Lebensweisheit“. Er veranstaltet Matineen, Seminare und philosophische Urlaube zu Fragen der Lebensführung und berät Organisationen und Einzelpersonen.
Bücher: „Wie lebe ich ein gutes Leben?“ (2014), „Philosophie to go“ (2015), „Denken heilt! Philosophie für ein gesundes Leben“ (2016), „Leben lernen – ein Leben lang“ (Oktober 2017).
Weitere Infos: www.massundmitte.de
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