"MM"-Debatte

Ist Religionsfreiheit noch zeitgemäß, Herr Heimann?

Der Artikel 4 des Grundgesetzes ist die Voraussetzung für religiösen Frieden in einer religiös uneinheitlichen Bevölkerung, betont Rechtswissenschaftler Markus Heimann. Ein Gastbeitrag.

Von 
Markus Heimann
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Das Verhältnis von Staat und Religion hatte sich in der alten Bundesrepublik auf der Basis gegenseitigen freundlichen Einvernehmens eingespielt. Die religiöse Praxis einer ganz überwiegend christlichen Bevölkerung führte nicht mehr zu Konflikten, die öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren. Diese Zeiten sind vorbei: Bereits die Wiedervereinigung hat den Anteil der Religionslosen in die Höhe schnellen lassen. Noch stärker aber hat ein wachsender und vor allem gesellschaftlich präsenter werdender islamischer Bevölkerungsanteil seit ungefähr 15 Jahren eine Vielzahl neuer Fragestellungen aufgeworfen, wie sich der Staat zur Religion - und umgekehrt - zu verhalten hat.

Deutschland hat heute eine religiös heterogene Bevölkerung: Ungefähr 30 Prozent der Menschen in Deutschland sind Katholiken, 30 Prozent Protestanten, 30 Prozent religionslos und 0,1 Prozent Juden; zwischen drei und sieben Prozent sind Muslime, wobei ihre Zahl aufgrund der fehlenden mitgliedschaftlichen Organisation nur geschätzt werden kann. Dabei existieren größere regionale Unterschiede, so sind beispielsweise in den alten Bundesländern rund 75 Prozent der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Kirchen, in den neuen Bundesländern hingegen nur 20 Prozent. Prognostiziert wird, dass 2025 nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung den beiden großen Kirchen angehören wird.

Emotionale Debatten

Derzeit erfahren religiös motivierte Verhaltensweisen von Muslimen, die in Deutschland ungewohnt sind, vielfache Aufmerksamkeit. Genannt seien stichwortartig nur einige wenige Beispiele aus jüngster Zeit, die stets von - oftmals sehr emotionalen - Debatten begleitet werden: Kopftuch der Rechtsreferendarin, allgemeines Burkaverbot, Umgang mit einer Burka tragenden Gerichtszeugin, verweigerter Handschlag des muslimischen Schülers gegenüber der Lehrerin. Mit diesen Fragestellungen scheinen sich in der Bevölkerung zuweilen durchaus berechtigte Sorgen vor religiös motiviertem Terrorismus und die Ablehnung religiöser Praktiken in anderen Ländern zu vermischen, so dass der Islam zur Projektionsfläche vielfältiger diffuser Ängste wird. Allerdings: "Den Islam" gibt es gar nicht. Er vereint unter dieser Bezeichnung sehr unterschiedliche Strömungen, die sich zum Teil sogar ablehnend oder feindlich gegenüber stehen.

Zugleich deutet die starke emotionale Grundierung dieser Diskussionen auf eine verbreitete Unklarheit über die Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Religion in Deutschland hin: Wie verhält sich Deutschland eigentlich zur Religion? Ist der deutsche Staat christlich? Was bedeutet Religionsfreiheit genau? Ist das Grundgesetz in dieser Hinsicht überhaupt noch zeitgemäß?

Die Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen durch Religion sind die grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit und die hieraus folgende staatliche Neutralität in Fragen von Religion und Weltanschauung. Ein anderes staatliches Instrument zum Umgang mit religiöser Vielfalt ist für einen demokratischen Rechtsstaat nicht ersichtlich. Es ist die unabdingbare Voraussetzung für religiösen Frieden in einer religiös heterogenen Bevölkerung. Insofern sind diese beiden Grundentscheidungen des Grundgesetzes auch heute noch vollkommen zeitgemäß. Somit ist Deutschland ein - auch - christlich geprägter Staat, aber kein christlicher Staat. Das Grundgesetz bevorzugt keine Religion gegenüber anderen. Auch Einrichtungen wie Kirchensteuer oder schulischer Religionsunterricht stehen grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften offen. In diesen Entscheidungen spiegelt sich die geschichtliche Erfahrung aus zum Teil sehr blutigen konfessionellen Auseinandersetzungen wider, die Deutschland seit der Reformation über lange Zeiträume prägten. Jede Religion in Deutschland ist also gleichberechtigt und wird gleichermaßen durch die Religionsfreiheit geschützt.

Die Unsicherheit im Umgang mit neuen religiösen Herausforderungen scheint sich daraus zu ergeben, dass nicht klar ist, was der grundrechtliche Schutz der Religionsfreiheit eigentlich bedeutet. Religionsfreiheit ist nicht "totale" Religionsfreiheit. Vielmehr kann die Religionsfreiheit - so wie alle anderen Grundrechte auch - durch den Gesetzgeber eingeschränkt werden. Der besondere grundrechtliche Schutz zeigt sich darin, dass der Grundrechtseingriff rechtfertigungsbedürftig ist, der Staat also nicht einfach machen kann, was er will. Da jede Einschränkung von Religion und Religionsausübung an der Religionsfreiheit des Artikel 4 im Grundgesetz gemessen werden kann, ist immer das Bundesverfassungsgericht für die Entscheidung dieser Fragen zuständig. Grundrechtlicher Schutz bewirkt also eine gerichtliche Kontrolle für staatliche Entscheidungen insbesondere anhand des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit. Eine Einschränkung der Religionsfreiheit ist verfassungsgemäß, wenn einem entgegenstehenden Rechtsgut in einer Abwägung höheres Gewicht zukommt. Dabei müssen alle Begründungen religionsneutral sein. Es muss also deutlich werden, welches Gut im konkreten Fall wichtiger als die Religionsfreiheit erscheint.

Ein Beispiel: Die strafrechtliche Verurteilung einer Mutter, die ihre kleine Tochter aus religiösen Gründen einer Beschneidung unterzogen hat, stellt einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit dar. Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt (und deshalb keine Verletzung der Religionsfreiheit), weil der ebenfalls grundrechtlich geschützten körperlichen Unversehrtheit und dem Persönlichkeitsrecht der Tochter ein höheres Gewicht zukommt als der Religionsfreiheit der Mutter. Begründungsneutralität bedeutet hierbei, nicht darauf zu verweisen, dass derartige Praktiken "in Deutschland unüblich" oder "dem abendländischen Kulturkreis unbekannt" sind; entscheidend kann allein die als gewichtiger einzuschätzende Grundrechtsposition der Tochter sein. Selbstverständlich hält ein solches System keine fertigen Ergebnisse bereit: Die verfassungsgerichtliche Abwägungsentscheidung ist innerhalb der verfassungsrechtlichen Begrenzungen letztlich eine Entscheidung mit politischem Charakter. Sie findet im Rahmen eines öffentlichen Diskurses statt und wird auch durch die Prägung der Entscheider beeinflusst. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat gezeigt, dass ein solches "Grundrechtsüberprüfungssystem" flexibel ist, gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen und sich selbst korrigieren kann.

Veränderungen gefordert

Der freiheitliche Grundrechtsstaat beruht allerdings auf einer für ihn wichtigen Voraussetzung: Er muss als solcher anerkannt werden. Seine am Maßstab der Religionsfreiheit getroffenen Entscheidungen sind zu befolgen, auch wenn sie den eigenen religiösen Vorstellungen entgegenlaufen. Den Willen, eigene religiöse Vorstellungen für alle verbindlich machen zu wollen, kann er nicht dulden. Unabdingbar ist also, dass die grundsätzliche Geltung von Grundrechten (einschließlich der Religionsfreiheit) oder das Demokratieprinzip, kurz: die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht bekämpft werden. Nur dies sind die von allen zu akzeptierenden "Werte" des Grundgesetzes. Bestrebungen, diese abzuschaffen, können nicht hingenommen werden.

Das Zusammenleben in einer multireligiösen Gesellschaft fordert von allen Bewohnern Veränderungen: Die Ursprungsbevölkerung muss lernen, dass es kein Kriterium sein kann, ob eine religiös bedingte Verhaltensweise ungewohnt ist oder den eigenen kulturellen Gepflogenheiten widerspricht. Kriterium für ein Verbot religiöser Praxis kann nur sein, dass ein verfassungsrechtlich geschützter religionsneutraler Wert entgegensteht, der höheres Gewicht hat. Nur so lässt sich Einsicht für religiöse Beschränkungen erreichen - zugleich kann sie dann aber auch erwartet werden. Von allen religiös geprägten Bewohnern ist die Akzeptanz der Säkularität des Staates, also seiner Trennung von der Kirche, und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu fordern; dem wohnt notwendigerweise eine Mäßigung der eigenen Religion für das staatliche Zusammenleben inne. Der Erfolg der Integration religiös sehr traditionell sozialisierter Zuwanderer wird sich vor allem daran erweisen, ob sie Teil dieser für pluralistische Gesellschaften existenziellen Übereinkunft werden.

Aus meiner Sicht besteht aber kein Grund zu Pessimismus: Wir haben - insbesondere mit der Religionsfreiheit - ein rechtliches Instrumentarium, das gerade auch das Ergebnis jahrhundertelangen Umgangs mit religiöser Verschiedenheit in Deutschland ist. Warum sollte es nicht in der Lage sein, auch alle neuen religiös begründeten Herausforderungen angemessen zu bewältigen?

Markus Heimann

  • Hans Markus Heimann, geboren 1968 in Köln, studierte Rechtswissenschaft in Köln und Lausanne.
  • Nach Tätigkeiten an den Universitäten Greifswald und München ist er seit 2008 Professor für Öffentliches Recht und Staatstheorie an der Hochschule der Bundesrepublik Deutschland für öffentliche Verwaltung in Brühl.
  • Zuletzt erschien dieses Jahr sein Buch "Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung" im S. Fischer Verlag.

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