Debatte

Ist es ein Wagnis, ein Kind in Obhut zu nehmen?

Sie werden dringend gesucht: Pflegeeltern. Susanne Mohnsen weiß, was es bedeutet, einem Kind ein neues Zuhause zu bieten - und wie viel Geduld es braucht, um im Behördendschungel zurechtzukommen. Ein Gastbeitrag

Lesedauer: 
Einem fremden Kind ein Zuhause zu schenken, kann das eigene Familienleben völlig auf den Kopf stellen. © Istock/Louisa Schlepper

Mannheim. Von Susanne Mohnsen

Vor zehn Jahren haben wir einen sieben Jahre alten Jungen in unsere Familie aufgenommen. Er war schwerst traumatisiert, verhaltensauffällig und angeblich nicht beschulbar. Heute ist er siebzehn Jahre alt und besucht die elfte Klasse eines Gymnasiums. Der Weg da hin war lang und steinig.

Nicht nur der Alltag mit dem Kind war beschwerlich, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Behörden empfand ich als äußerst mühevoll. Die vielfältigen Erfahrungen, die ich über die Jahre gemacht habe, habe ich in einem Buch festgehalten.

Ein Kind in Obhut zu nehmen, es aufzunehmen, das beinhaltet unvorstellbar viel. Wenn Paare darüber nachdenken, ein Kind zu adoptieren oder einem Pflegekind eine neue Heimat zu geben, dann glauben sie vielleicht, dass dieses Kind unendlich dankbar für die Aufnahme in die Familie ist.

Die Realität ist aber meistens anders. Fakt ist, dass die meisten Kinder, die vom Jugendamt in Pflegefamilien vermittelt werden, traumatisiert sind.

"Überraschungspaket" kommt ins Haus

Allein die Tatsache, aus der eigenen Familie heraus genommen zu werden, ist traumatisierend. Genauso einschneidend ist es, wenn zum Beispiel die alleinerziehende Mutter plötzlich erkrankt und das Kind nicht mehr versorgen kann und es deshalb in Obhut genommen wird. Auch das ist für das Kind eine psychische Ausnahmesituation. Auch wenn die Mutter vielleicht Monate später wieder gesund wird und das Kind wieder zurück nach Hause darf, war diese Situation für das Kind traumatisierend.

Viel schwerer wiegt das Trauma, wenn in der Familie Vernachlässigung, Verwahrlosung, seelische und körperliche Gewalt oder gar sexueller Missbrauch stattgefunden haben. Wie sich solche Erlebnisse auf das Kind auswirken, ist unterschiedlich und nicht vorhersehbar. Jedes Kind reagiert anders.

Oft zeigt sich das ganze Ausmaß der Schädigungen erst Monate, vielleicht sogar erst Jahre später. Dann, wenn das Kind - so glaubt man - wirklich richtig im neuen Heim angekommen ist.

Gastautorin Susanne Mohnsen

  • Susanne Mohnsen - die Autorin schreibt unter Pseudonym - ist als freiberufliche Beraterin und Coach für Pflegeeltern sowie Familien mit lebensbedrohlich erkrankten Kindern tätig. Die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern absolvierte ein medizinisches Studium und eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin und Hospizbetreuerin.
  • Das Buch „In Obhut genommen. Die Geschichte einer Pflegschaft“ ist im Verlag Tredition erschienen, 230 Seiten, 19,95 Euro.
  • Mehr Informationen unter in-obhut-genommen.de

Wer ein Kind aufnimmt, bekommt gewissermaßen ein Überraschungspaket ins Haus. Und ganz sicher ist es nicht damit getan, für Essen und Trinken zu sorgen und ihm ein Dach über dem Kopf zu bieten. Pflegeeltern müssen bereit sein, ihr ganzes Leben umzustellen. Sie müssen belastbar, geduldig, verständnisvoll und flexibel sein. Liebevoll.

Neben Kindergarten oder Schule kommen meistens weitere Termine und Aufgaben hinzu: Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Psychotherapie. Auch Treffen und Hausbesuche mit den Verantwortlichen des Jugendamtes, mit den leiblichen Eltern oder mit leiblichen Geschwistern. Entwicklungsberichte müssen geschrieben, viele Gespräche geführt werden.

Es bedarf also ein erhöhtes Maß an Betreuung. Und das kostet Zeit. Unter Umständen kann oder darf man auch eine ganze Weile gar nicht arbeiten. Manchmal ist Arbeiten vielleicht nur halbtags möglich. Eine finanzielle Bezuschussung gibt es für den Ausfall aber nicht. Ein Pflegekind aufzunehmen, ist eine ehrenamtliche Tätigkeit. Man erhält also kein Geld dafür, sondern lediglich Unterhalt für das Kind. Die Höhe variiert je nach Bundesland und hängt auch von Alter und Bedürftigkeit des Kindes ab. Ein Platz in einer Einrichtung, beispielsweise einem Kinderheim, kostet deutlich mehr.

Leben eigene Kinder mit dem Pflegekind unter einem Dach, so leiden diese zugleich häufig unter der neuen Situation. Auch dessen muss man sich bewusst sein.

Das neue Kind in der Familie bringt neue Herausforderungen. Bettnässen, Weglaufen, Wutanfälle, Verweigerungen, Lügen und Stehlen können den normalen Familienalltag ordentlich durcheinanderbringen. Es kann zu sogenannten Triggerreaktionen kommen: Es mag nur eine Flasche Schnaps sein, oder ein „normaler“ Streit innerhalb des Alltages, die schreckliche Erinnerungen weckt - und das Kind „rastet“ aus heiterem Himmel vollkommen aus. Heftige Zornesausbrüche, Zerstörungstrieb, Panik, Flucht.

In Pubertät fangen Probleme von vorne an

Wenn ein Paar ein Kind aufgenommen hat und sich der Alltag mit dem Kind nun nicht wie gedacht oder geplant entwickelt, kann es sein, dass der eine Partner das Kind „zurückgeben“ und der andere es behalten will. Oder die Situation mit dem Kind ist für beide unhaltbar. Dann muss das Kind wieder dahin zurück, wo es her kommt, oder es kommt in eine neue Pflegefamilie, wahrscheinlicher noch in ein Kinderheim. Ein Gewissenskonflikt. Nicht nur kann eine Partnerschaft daran zerbrechen, auch ein einzelner Mensch.

Genauso kann es passieren, dass das Kind wieder in seine Ursprungsfamilie zurückgehen darf - oder muss. Vielleicht gerade dann, wenn sich alles einigermaßen eingespielt hat, werden Pflegekind und Pflegefamilie plötzlich getrennt. Weil die leiblichen Eltern wieder gesund sind. Eine Therapie gemacht haben. Temporär „trocken“ sind. Erfolgreich geklagt haben. Was auch immer. Es kann dann aber auch sein, dass das Kind nach einigen Wochen wieder da ist, weil die Übernahme nicht funktioniert hat. Alle Eventualitäten sind möglich. Meistens zulasten des Kindes. Aber auch in jedem Fall zulasten der Pflegeeltern.

Kommen die Kinder in die Pubertät, fangen die Probleme meist wieder von vorne an. Denn der Weg zum Erwachsenwerden lässt häufig noch einmal alte Wunden und Verhaltensmuster aufbrechen. Die Identifikation mit der Ursprungsfamilie und die mit der Pflegefamilie beinhaltet auch immer einen schweren Loyalitätskonflikt.

Was man als Pflegeeltern auch wissen muss: Die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt, dem Vormund und den leiblichen Eltern spielt eine große Rolle. Da jedoch viele Behörden chronisch unterbesetzt sind, ist das Zusammenspiel nicht immer ganz einfach. Das letzte Wort hat dabei immer das Jugendamt. Und eigene kreative Lösungsvorschläge werden selten akzeptiert.

Über all dies sollten sich Pflegeeltern bewusst sein, die ein Kind aufnehmen wollen. Man muss sich vor diesem Schritt immer wieder selbst aufrichtig fragen: Schaffe ich das?

Wichtiger Beitrag für Gesellschaft

Aber es gibt selbstverständlich auch viele positive Aspekte, die dafür sprechen, einen solchen Schritt zu wagen. Man hilft einem Kind in Not. Man leistet einen sozialen Dienst. Man freut sich über jeden noch so kleinen Erfolg. Das alles kann schließlich auch für einen selbst sehr bereichernd sein.

Und für den kleinen Menschen ist es ein Geschenk. Eine große Chance. Es ist das Beste, was ihm passieren kann. Denn kein Kinderheim wird eine liebevolle Eins-zu-eins-Betreuung rund um die Uhr, Tag für Tag, Jahr für Jahr leisten können. Die Aufnahme in eine Familie ist der Schlüssel für eine positive Zukunft. Und oft die einzige Möglichkeit für ein besseres Leben.

Die Rückfallquote ist dennoch hoch. Denn die frühkindliche Prägung ist beinahe irreparabel. Viele dieser Kinder geraten, wenn sie achtzehn Jahre alt sind, wieder in ihr herkömmliches Milieu zurück.

Das, was ich hier schreibe, beruht ausschließlich auf Erfahrungen, die ich selbst mit meinem Pflegesohn und dem Geschehen um ihn herum erlebt habe. Ebenso beziehen sich meine Aussagen auf die Erlebnisse, die ich mit den verantwortlichen Behörden in den vergangenen Jahren gemacht habe.

Im Laufe der Zeit sind mir viele ähnliche Fälle begegnet. Ich hatte zudem immer wieder die Möglichkeit, mich mit betroffenen Menschen zu diesem Thema auszutauschen zu können.

Die Aufnahme und das Leben mit einem Pflegekind kann sicherlich auch ganz anders - und viel positiver als beschrieben - verlaufen.

So oder so: Es lohnt sich, dieses Wagnis einzugehen und ein Kind in Obhut zu nehmen. Und dabei handelt es sich nicht zuletzt um einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen