"MM"-Debatte

Ist eine Kindheit ohne Computer der beste Start ins digitale Zeitalter, Herr Leipner?

Kindergärten und Grundschulen müssen digitalfreie Oasen bleiben, fordert Ingo Leipner. Der Diplom-Volkswirt und Journalist gibt zu bedenken, dass die Sammlung von Daten – etwa beim E-Learning – im Widerspruch zum Bildungsauftrag stehe. Ein Gastbeitrag.

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Ingo Leipner
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Ein Mädchen spielt an einem iPad. In den ersten Lebensjahren sollte Kinder aber vor allem in der realen Welt unterwegs sein. © dpa/privat

Harmlos? Ein Student war an einer norddeutschen Universität eingeschrieben, saß in der Bibliothek und hatte vor sich mehrere Bücher ausgebreitet – darunter auch unseres: „Die Lüge der digitalen Bildung“. Ein Dozent kam vorbei, warf einen Blick auf die Literatur und kommentierte das Buch mit den Worten: „So ein Buch würde ich nicht verwenden, sonst könnte das später mit einer Anstellung schwer werden.“ Was für ein Armutszeugnis, wenn Dozenten so Denkverbote aussprechen.

Wir wollen nicht die gute alte „Kreidezeit“ verklären, als der Lehrer mit staubigen Händen vor einer Kreidetafel stand. Nein, statt um Verklärung, geht es uns um Aufklärung: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“ lautet unsere zentrale These –ein schmerzhafter Nadelstich für den digitalen Mainstream.

Die noch aktuelle „miniKIM-Studie 2014“ zeigt: Schon Vier bis FünfJährige nutzen im Durchschnitt 65 Minuten am Tag Bildschirme (unter anderem TV, PC-, Online-, Konsolenspiele). Außerdem macht die Studie „KIM 2016“ deutlich: Die Sechs- bis 13-Jährigen sitzen täglich bis zu 261 Minuten vor dem Bildschirm. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen „Zeitverdrängungseffekt“: Virtuelle Aktivitäten treten immer mehr an die Stelle realer Aktivitäten.

Was stehlen die digitalen Zeiträuber? Die Möglichkeit zur gesunden „senso-motorischen Integration“. Das Wort „senso“ steht für Sinneswahrnehmungen, das Wort „motorisch“ für Aktivitäten des Bewegungsapparats. Sensorik und Motorik müssen zusammenwirken, was am besten geschieht, wenn Kinder zwischen Geburt und etwa zwölftem Lebensjahr viel in der realen Welt unterwegs sind: Sport und Musik machen, Toben, Klettern, Balancieren – und nicht auf Bildschirme starren. So verwurzeln sich Kinder stark in der Wirklichkeit.

Und: Erst durch reichhaltige senso-motorische Erfahrungen bauen Kinder ihre Denkstrukturen auf – denn die Reife des Gehirns ist unmittelbar mit realer Welterfahrung verknüpft, was Neurobiologen klar nachgewiesen haben. Das Wort „begreifen“ hängt nicht zufällig mit dem Verb „greifen“ zusammen.

Jugendliche entfalten ihr volles kognitives Potenzial, wenn die Reifung des Gehirns in den ersten Lebensjahren nicht gravierend gestört wird, etwa durch Tablets im Kindergarten oder in der Grundschule. Diese Bildungseinrichtungen müssen digitalfreie Oasen bleiben, damit Kinder sich gesund entwickeln. Daher sollten wir dafür sorgen, dass kleine Kinder in erster Linie Erfahrungen in der realen Welt sammeln (also im Sport, in Musik und Natur), statt zu früh in virtuelle Welten abzudriften.

Wie steht es aber um digitale Medien in weiterführenden Schulen? Diese Frage ist differenziert zu beantworten: Wenn es um einen passiven Einsatz von Lernprogrammen geht (eLearning), scheinen große Zweifel angebracht – besonders beim Projekt „Schul-Cloud“.

Federführend ist dabei das „Hasso-Plattner-Institut“ (HPI), eine Initiative des SAP-Mitgründers und Multimilliardärs Hasso Plattner. Das HPI ist eine private Hochschule, vor allem finanziert von ihrem Mäzen Plattner. Das zentrale Projekt ist im Bildungsbereich die „Schul-Cloud“, gefördert vom Bundesbildungsministerium.

Zu dieser bundesweit geplanten Cloud-Lösung schreibt das HPI: „Durch zahlreiche Zusatzaufgaben überforderte Lehrkräfte, technisch mangelhaft ausgestattete Klassenzimmer, vernachlässigte Computernetzwerke, hohe Lizenz- und Personalkosten prägen das Bild in vielen deutschen Schulen.“ Die „Schul-Cloud“ sei eine Lösung, „mit der Schüler flächendeckend neueste und professionell gewartete Programme nutzen können.“ Statt dezentral Daten und Programme auf einzelne Server abzulegen, landen diese Inhalte auf zentralen Servern, also in der „Cloud“.

Zur wirtschaftlichen Seite stellt das HPI fest: „Die Schul-Cloud wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren.“ Damit bereitet das private Institut den Boden, um Bildung weiter zu privatisieren. Der wissenschaftliche HPI-Direktor, Christoph Meinel, schreibt dazu in der „FAZ“: „Es macht einen qualitativen Unterschied, ob Bildungsinhalte für einen potentiellen Markt von 40 000 Schulen entwickelt werden oder für 10 000.“

Weiter heißt es in der „FAZ“: „Durch die Nutzung und Bewertung einzelner Lernanwendungen entsteht gleichzeitig eine effektive Qualitätskontrolle durch die Nutzer.“ Mit den „Mitteln der Learning Analytics“ sei es möglich, digitale Lernangebote „auf der Basis des Nutzerverhaltens“ gezielt weiterzuentwickeln, so Meinel.

Wie diese Analyse von Lernprozessen abläuft, schildern Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, die das Geschäftsmodell von Jose Ferreira beschreiben (Firma „Knewton“): „Mit Hilfe von Big Data will er über jeden so viel wie möglich erfahren, um mit diesem Wissen und einer sich anpassenden Lernsoftware den Unterricht zu personalisieren.“

Argument: Im Gegensatz zu Lehrern in großen Klassen ist die Software „Knewton“ in der Lage, „jedes Detail zu jedem Schüler“ zu speichern. Konkret heißt das: „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt.“ Dabei wird eine Vielzahl von Parametern erfasst: „Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch.“

Genau dieser Rückkanal ist die Achilles-Ferse automatisierter Lernsysteme, die biometrische Messungen an Schülern ergänzen können. Das Ergebnis sind minutiöse Lernprotokolle, die sich versilbern lassen. Dräger und Müller-Eiselt nennen Ferreiras Geschäftsmodell „individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem.“ Und: Venture-Kapitalisten hätten bereits mehr als 150 Millionen Dollar in die Firma „Knewton“ investiert.

In eine weitere Kerbe schlägt der Datenschutzbeauftragte der Ruhr-Universität Bochum, Kai-Uwe Loser: Der Einsatz von „Learning Analytics“ stehe im Widerspruch zum „gesellschaftlichen Bildungsauftrag, der auch die Erziehung zu freiheitlichem und demokratischem Handeln beinhaltet“. Die „massenhafte Datensammlung“ und der Einsatz von (Big Data) Analysewerkzeugen zeige bereits „negative Auswirkungen“, etwa „Unsicherheit über die Beobachtung der Privatsphäre“. Wenn „dieselben technologischen Grundlagen“ in Schulen zum Einsatz kommen, „werden Heranwachsende bereits frühzeitig an die Beobachtungssituation gewöhnt“, so Kai-Uwe Loser.

So bestehen große Zweifel am Konzept „Learning Analytics“. Aber: Ab einem Alter von zwölf bis 14 Jahren fallen Selbstreflexion und abstraktes Denken leichter. Jugendliche sind in der Lage, Kompetenzen wie Konzentrationsfähigkeit und kritische Urteilsbildung stärker aufzubauen. Dazu gehört auch die produktive Kompetenz, Texte, Bilder und Videos in hoher Qualität zu produzieren. Daher lassen sich digitale Medien in weiterführenden Schulen sinnvoll anwenden, etwa für mobile Hörfunkstudios, Schulwikis oder Videos im Sportunterricht.

Solche Aktivitäten gibt es in einer Düsseldorfer Waldorfschule: Der Lehrer Franz-Josef Glaw startet dort kreative Medienprojekte in der Oberstufe. Beispiel: Auf einer Veranstaltung wird gefilmt, das Material dupliziert und von zwei Gruppen bearbeitet. Die einen Schüler schneiden und texten ein positives Video, die anderen gestalten einen kritischen Beitrag. So funktioniert eine aktive, moderne Medienpädagogik, die alle Möglichkeiten digitaler Technologie ausschöpft.

Ingo Leipner

  • Diplom-Volkswirt Ingo Leipner, Journalist und Buchautor (Textagentur EcoWords, www.ecowords.de), ist auch ein gefragter Referent zur digitalen Transformation der Gesellschaft.
  • Die ersten zwei Bücher hat er mit Gerald Lembke geschrieben, „Zum Frühstück gibts Apps“ (2014) und „Die Lüge der Digitalen Bildung“ (2015). Das dritte Buch mit Paula Bleckmann ist gerade erschienen: „Heute mal bildschirmfrei. Das Alternativprogramm für ein entspanntes Familienleben“ (2018). Ein praxisnaher Ratgeber, der Familien aus der Bildschirmfalle befreit.
  • Leipner beteiligte sich 2017 an der Gründung des „Bündnis für humane Bildung“, das mit der Organisation ELIANT im März europaweit eine Petition gestartet hat, um die Wahlmöglichkeit für bildschirmfreie Kindergärten und Grundschulen zu sichern.
  • Info: Mehr Informationen: www.aufwach-s-en.de 

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