Ist die Flexi-Rente in Deutschland das Modell der Zukunft, Herr Opaschowski?

Der beste Weg zur Bekämpfung von Altersarmut ist eine möglichst lange Beschäftigung, sagt Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Ein Gastbeitrag.

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Horst Opaschowski
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Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Im Jahr 2030 wird man in der Bundesrepublik eine ganze Kleinstadt mit Hundertjährigen besiedeln können.

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Eine Altersrevolution kommt auf Deutschland zu. Unter allen westlichen Industriegesellschaften weisen Deutschland und Japan die stärkste Alterung auf. Ein drastischer Geburtenrückgang in den letzten Jahrzehnten und eine weiter steigende Lebenserwartung bewirken geradezu eine Überalterung der Gesellschaft, die in naher Zukunft allenfalls durch Einwanderung gemildert, aber nicht mehr verhindert werden kann. Es zeichnen sich zwei Entwicklungen für die Zukunft ab: Deutschland wird Einwanderungsland. Und: Deutschland wird grau. Solange zu wenige Kinder geboren werden und gleichzeitig die Lebenserwartung stetig zunimmt, altert die Gesellschaft als Ganzes. Der demografische Wandel gleicht einer Revolution auf leisen Sohlen: - Die Lebenserwartung der Deutschen nimmt jedes Jahr um zwei bis drei Monate zu (derzeit 2,76 Monate pro Jahr).

- Alle zwei Wochen verlängert sich das Leben in Deutschland um ein langes Wochenende, also gut 80 Tage im Jahr.

- Von den 2016 geborenen Deutschen wird 100 Jahre später die Hälfte noch am Leben sein.

Graue Giganten

Mit "Grauen Giganten" sind "Centenarians" gemeint, die über hundert Jahre alt werden. Die Zahl der Hundertjährigen nimmt in Deutschland fast explosionsartig zu (1975: 716 - 1995: 2496 - 2015: 5523). Die Zahl der Hundertjährigen hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Langlebigkeit ist ein Teil der Normalität geworden. Wenn nach 2030 die Babyboomer aus dem Erwerbsleben ausscheiden, wird man in Deutschland bald eine ganze Kleinstadt mit Hundertjährigen füllen können. Nach der Hundertjährigen-Studie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg lebt jeder zweite Hundertjährige im eigenen Haushalt, weist im Zeitvergleich der letzten Jahre höhere geistige Fähigkeiten auf und regelt auch seine Finanzangelegenheiten selbst.

Veränderte Lebens- und Ernährungsgewohnheiten, gesündere Umweltbedingungen sowie Fortschritte der Medizin sorgen für eine weiter zunehmende Langlebigkeit in den nächsten Jahren. Die Karten des Lebens werden neu gemischt. Jedes Lebensalter zählt. Der demografische Wandel wird zum sozialen Fortschritt, wenn es gelingt, das lange Leben auch zu einem guten und sorgenfreien Leben werden zu lassen.

Das Leben im Alter wird immer lebenswerter. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben 95 Prozent der über 65-Jährigen selbstbestimmt in eigenen Wohnungen. Und nur knapp fünf Prozent (708 000) der 17 Millionen Rentner wohnen in Alters- und Pflegeheimen. Trotz ständig steigender Lebenserwartung nimmt die pflegefreie Lebenszeit weiter zu - und nicht etwa ab. Zwischen 1999 und 2009 nahm beispielsweise die Lebensdauer ohne Pflege von 75,79 auf 77,65 Jahre zu.

Nachweislich verbringen die Deutschen 97 Prozent ihrer Lebenszeit ohne Pflegebedarf. Der 97-Prozent-Anteil ändert sich nicht, auch wenn das Lebensalter weiter ansteigt. Was bedeutet schon ein Drei-Prozent-Restrisiko innerhalb eines langen Lebens von 70 bis 100 Jahren? Die Pflegebedürftigkeit wird überschätzt, die Langlebigkeit unterschätzt.

Die Generation 65 plus lebt nicht nur länger, sondern gewinnt gesunde Lebensjahre hinzu. Nach den vorliegenden Daten des Statistischen Bundesamtes schätzen sich 82 Prozent der 65- bis 69-Jährigen als gesund ein. Selbst in der Altersgruppe ab 75 Jahren fühlen sich fast drei Viertel (72 Prozent) fit. Die subjektive Einschätzung stimmt allerdings nicht mit der öffentlichen Meinung oder der Sichtweise Außenstehender überein. So kommt es zu einem Gesundheits-Paradoxon: Die meisten Älteren fühlen sich subjektiv wohl und gesund, obwohl andere meinen, sie seien krank und gebrechlich. Die subjektive Einschätzung muss deshalb nicht falsch sein, weil mögliche körperliche Einschränkungen durch besondere individuelle Lebensqualitäten (soziale oder geistige) ausgeglichen werden. Kurz: Die Deutschen leben länger beschwerdefrei und wollen sich nicht weiter von Medien oder Medizinern "krankschreiben" lassen. Die Generation 65 plus ist fitter und gesünder als jemals zuvor.

Mit Vollgas auf Stillstand? Das gehört bald der Vergangenheit an. Der Mensch kann auf Dauer nicht untätig in seinen eigenen vier Wänden verweilen. Er braucht eine Aufgabe. 2005 waren nur sechs Prozent der 65- bis 69-Jährigen erwerbstätig. Mittlerweile hat sich die Quote mehr als verdoppelt (13,8 Prozent - in der EU: 11,5 Prozent). Länger im Job und aktiver denn je: Das ist der stabile Trend für die nahe Zukunft. 17 Millionen Bundesbürger sind derzeit 65 Jahre alt oder älter - das sind 21 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass bis 2060 der Anteil der über 65-jährigen Bevölkerung auf 33 Prozent steigen wird. Mit 65 Jahren hört dann für viele das Arbeitsleben nicht auf. Und nicht wenige starten sogar neu durch: Comeback mit 65.

Spezialisierte Wissensträger

Zum demografischen Wandel in der Gesellschaft gesellt sich in den kommenden 20 Jahren ein grundlegender Beschäftigungswandel in der Arbeitswelt. Die Wirtschaft braucht wieder ältere Arbeitnehmer. Nach Erfahrungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) gelten ältere Arbeitnehmer als hoch spezialisierte Wissensträger, die nicht ohne weiteres zu ersetzen sind.

Zur Verunsicherung der Bevölkerung trägt die Tatsache bei, dass die Stabilisierung des Sicherungsniveaus im Alter nicht mehr gewährleistet werden kann. Noch vor der Riester-Reform lag das gesetzliche Rentenniveau bei 53 Prozent des Durchschnittslohnes, 2016 nur noch bei 48 Prozent. Und bis 2030 geht die Bundesregierung in ihren Prognosen davon aus, dass es auf 43 Prozent sinken und bis 2040 noch weiter fallen kann. Den Rentner des Jahres 2040 erwartet dann ein Einkommen nur knapp über der Grundsicherung. Die Lebensstandardsicherung rückt in weite Ferne.

Im Alter gebraucht werden

Die gesetzliche Altersgrenze wird von immer mehr Menschen als Zwangsrente mit Fallbeilcharakter empfunden. Die Bürger wollen in Zukunft ihre Altersgrenze selbst bestimmen und den Übergang flexibel gestalten. Die meisten Berufstätigen in Deutschland sind heute schon bereit, freiwillig über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten oder wieder zu arbeiten, wenn sie dadurch ihre Rente aufstocken können. Dieser Wunsch nach Rentenerhöhung und Zuverdienst wird von allen Berufsgruppen gleichermaßen geäußert. Die Beschäftigten wollen einerseits mehr Geld zum Leben haben, aber auch im Alter weiter gebraucht und gefordert werden, also gesellschaftlich wichtig bleiben.

Die gesetzliche Rente reicht in Zukunft nicht mehr aus, um Altersarmut zu verhindern. Die politische Konsequenz ist klar: Der beste Weg zur Bekämpfung von Altersarmut ist eine möglichst lange Beschäftigung, weil aus der gesetzlichen Rente allein der gewohnte Lebensstandard nicht mehr gehalten werden kann. Eine wachsende Zahl von Älteren wird in Zukunft weiter arbeiten müssen und weiter arbeiten wollen. Das norwegische Modell ist wohl zukunftsweisend: Norwegen bietet seinen Beschäftigten für das Renteneintrittsalter ein flexibles Zeitfenster zwischen 62 und 75 Jahren an. Das Modell der "flexiblen Altersgrenze" hatte der Autor bereits im Oktober 1974 in der Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" den Politikern in Deutschland vorgeschlagen. Es wird erst jetzt als "Flexi-Rente" ernsthaft in Erwägung gezogen.

Schäuble als Beispiel

Weit über 80 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland üben Berufe aus, die keine besondere körperliche Anstrengung erfordern. Sie werden sich in Zukunft nicht einfach "ruhigstellen" lassen, wenn noch etwa 30 Lebensjahre auf sie warten. "Länger leben, länger arbeiten" ist für sie die notwendige Konsequenz - materiell, mental und auch sozial. Der Flexi-Rente gehört die Zukunft. Deutschlands berühmtester Flexi-Rentner ist übrigens Wolfgang Schäuble: Am 18. September 74 Jahre alt und voll berufstätig - mit einer befristeten Anstellung bis zur nächsten Bundestagswahl 2017. Danach endet sein Anstellungsverhältnis oder wird befristet um weitere vier Jahre verlängert . . .

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