"MM"-Debatte

Ist das Kopftuch ein Produkt des Patriarchats, Herr Ourghi?

Aufklärung statt Unterdrückung: Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi fordert eine grundlegende Reform des Islam. Die Verschleierung, sagt er, sei keine religiöse Vorschrift. Sondern Selbstzensur. Ein Gastbeitrag.

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Abdel-Hakim Ourghi
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Eine junge Muslimin liest im Koran. Nur wenige Verse darin drehen sich um die Kleidung der Frau – dennoch wird die Schrift herangezogen, um das islamische Kopftuchgebot zu legitimieren. © dpa

Das Thema „Kopftuch“ hat durch seine intensive Präsenz im öffentlichen Diskurs nichts von seiner drängenden Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Die Frage, ob die Verschleierung der muslimischen Frauen eine religiöse Vorschrift oder ein historisches Produkt der männlichen Herrschaft ist, stellt sich heute schärfer denn je. Und sie stellt sich heftiger, ungestümer denn je, weil es um den Zustand der islamischen Religion schlechter bestellt zu sein scheint als jemals im Vergleich zur westlichen Kultur zuvor.

Einige aus traditionellen Familien stammende muslimische Frauen tragen ein Kopftuch als Teil ihrer Glaubenspraxis nicht nur beim Moscheebesuch, sondern auch im Alltag, wann immer ein Kontakt mit Männern in Frage kommt, zum Beispiel beim Verlassen des Hauses. Häufig wird als Grund für das Tragen eines Kopftuchs auf die kanonischen Schriften des Islam – Koran und Sunna – verwiesen. Von traditioneller Seite werden hierzu Sure 33, Vers 59 und Sure 24, Vers 31, angeführt, die zum Tragen eines Kopftuchs anleiten sollen.

Der Korankommentator at-Tabari (839-923) verweist auf die Meinungsverschiedenheit der Gelehrten über die Art des Herunterziehens des Gewands. Einige unter ihnen waren für die Vollverschleierung der Frauen samt ihrem Gesicht. Andere vertraten die Sichtweise, dass sie nur ihren Kopf bedecken sollen.

Der muslimische Historiker Ibn Sa’d (784-845) beschreibt deutlich den historischen Kontext der Entstehung dieser Koranstelle (33:59). Die muslimischen Frauen wurden von den Männern in der Dunkelheit, als sie ihre Häuser verlassen haben, um ihre Notdurft zu verrichten, belästigt. Sie sollten ihr Gewand über die Brust herunterziehen, damit sie als freie Frauen von den Sklavinnen unterschieden werden und die Männer sie erkennen konnten. Dies bedeutet, dass die Sklavinnen ihr Dekolleté nicht bedeckten. In der Koranstelle (24:31) geht es nicht um den Körper der Frau, sondern darum, den Schmuck, den sie tragen, niemandem offen zu zeigen.

Um die Überlegenheit des Mannes und die weitgehende Kontrolle über die Frauen noch zu intensivieren, missbrauchten die Rechtsgelehrten die Koranverse über die Körperbedeckung. Daraus ist der Körperstatus der Frau als Symbol der Sünde entstanden. Letztendlich geht es hier um die Beherrschung der Frauenkörper. Auch die Behauptung einiger angeblich feministischer Frauen, dass das Kopftuch ein Zeichen der Progressivität sei, ist zum Scheitern verurteilt. Denn hierbei geht es um Geschlechtersegregation, also Ausgrenzung – dadurch werden Frauen zu Sexobjekten reduziert und entmenschlicht.

Der humanistisch-moderne Islam dagegen ist zu verstehen als ein Prozess der – geistlichen und körperlichen – Entschleierung. Denn die Kopfbedeckung ist unislamisch und wird nirgendwo im Koran legitimiert. Sie ist nichts anderes als ein historisches Produkt der männlichen Dominanz, deren wichtigste Aufgabe es ist, die Frauen zu kontrollieren und ihren Körper und Geist zu beherrschen.

Das Kopftuch in allen seinen vielfältigen Äußerungsformen ist ein Symbol der weiblichen Erniedrigung und auch der seelischen Erkrankung, die den Frauen durch die Männer mit Unterstützung der bereits unterdrückten Frauen zugefügt wird. Die Frauen oder die Mädchen, die behaupten, dass sie sich aus freien Stücken verschleiert haben, haben sich längst mit ihrer Unterwerfung abgefunden. Der kollektive Druck ihrer muslimischen Umwelt ist einfach unbeschreiblich. Aus Angst vor dem Ausschluss aus ihren Gemeinden sind sie gezwungen, sich zu bedecken. Die Neo-Muslimas (Konvertitinnen) tragen ein Kopftuch selbstverständlich freiwillig, jedoch wünschen sie, dass sie dadurch in die Gemeinde der Muslime aufgenommen werden.

Die Institutionalisierung des Kopftuchs im Namen der Religion ist die Intensivierung der Feindschaft der Männer den Frauen gegenüber. Die Verschleierung der Frau will die männliche Herrschaft in ihren patriarchalischen Dominanzstrukturen festigen. Die Frau als Körper und Stimme soll abgeschafft werden.

Auch Strafmaßnahmen gegen die rebellierenden Frauen wurden entwickelt. Sie werden intensiv kontrolliert oder sogar von den muslimischen Gemeinden durch die Isolation ausgeschlossen. Andere werden zwangsweise in die Heimat der Eltern verbannt. Die Verbannungssanktion kann man mit einer Gefängnisstrafe vergleichen, das ohne Mauern ist. Dieses mauerlose Gefängnis soll rasch zu bedingungsloser Unterwerfung und Gehorsam führen. Nicht selten tragen Frauen ein Kopftuch, um diesen Straftechniken der männlichen Herrschaft zu entgehen.

Das Kopftuch abzulegen bedeutet, nicht mehr zu gehorchen, die Unterwerfung zum Willen der männlichen Herrschaft abzulehnen und jegliche patriarchale Gesellschaftsordnung außer Kraft zu setzen. Das ist ein bewusster Wahlspruch, dessen Satzung die Frauen gemäß ihrer eigenen Erfahrung folgen, jedoch der Ausgang einer muslimischen Frau aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, aus dem „ Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Diese Musliminnen haben selbstverständlich Mut, sich ihres eigenen Verstandes fern von jeglicher autoritären Herrschaft zu bedienen, damit sie aus ihrer selbstauferlegten oder von den anderen aufgezwungenen Unmündigkeit heherauskommen.

Solch ein bewusster Zustand ist der Beginn eines Selbstbefreiungsakts. Und solch eine Entscheidung ruft gewiss eine Lebensweise des ewigen Friedens mit sich selbst und mit den anderen hervor, auch wenn der Weg am Anfang ein holpriger Weg sein wird.

Der Mut zur Wahrheit bedeutet das eigene Leben selbst zu bestimmen und die eigene Überzeugung, dass das Kopftuch ein politisches Werkzeug für die Unterwerfung ist, auch den Vertretern der männlichen Herrschaft mitzuteilen. Eine Muslimin, die das Kopftuch ablehnt, ablegt oder kritisiert, will bewusst die von ihr durch die kritische Vernunft erlangte Überzeugung vermitteln. Ohne stilvolle Klauseln oder rhetorische Ausschmückung durch Kompromisse, die verschlüsseln oder maskieren könnten, ohne Angst vor der Reaktion der männlichen Obrigkeit, können Musliminnen auch kritisch mit der Erziehung der Unterwerfung umgehen.

Ihre Freimütigkeit im Denken, Mitteilen und Erleben bedeutet ihre Selbstbestimmung ohne Angst vor den Strafmaßnahmen durch die männliche Herrschaft, also alles ohne Furcht vor der Reaktion des Anderen zu sagen. An diesem Punkt beginnt die Sorge um sich selbst und nicht die Sorge um den anderen. Eine Muslimin ohne Kopftuch, die sich um sich selbst kümmert und sich selbst Aufmerksamkeit schenkt, ist selbstverständlich auch in der Lage, andere zu beachten und zu respektieren.

Abdel-Hakim Ourghi

Abdel-Hakim Ourghi ist Islamwissenschaftler, Philosoph und Religionspädagoge. Er wurde 1968 in Algerien geboren. Er studierte in Oran, Algerien, und in Freiburg Philosophie und Islamwissenschaft. Seit 2011 leitet er den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Er ist Initiator der viel beachteten „Freiburger Deklaration“ für einen reformierten, säkularen Islam.

Vergangenes Jahr erschien sein Buch „Reform des Islam: 40 Thesen“. Zurzeit arbeitet er an einem neuen Werk mit dem Titel „Ihr müsst kein Kopftuch tragen. Aufklären statt verschleiern“, das im September im Verlag Claudius erscheinen soll.

 

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