Ja, Alzheimer ist grundsätzlich vermeidbar. Der Grund dafür ist folgender: Über den längsten Teil der Menschheitsgeschichte sicherte die Lebenserfahrung, insbesondere die der Stammesältesten, das Überleben der Sippe und damit deren Fortpflanzungserfolg. Dieser Effekt konnte noch für die Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden. Es ist mittlerweile gymnasialer Lehrstoff, wie dadurch unser Erbgut durch die Evolution auf Langlebigkeit unter Beibehaltung der geistigen Fitness optimiert wurde. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es uns vor Krankheiten wie Alzheimer schützt. Erst wenn gravierende Erbgutdefekte auftreten oder durch unsere Lebensweise die natürlichen Schutzmechanismen außer Kraft gesetzt werden, kann sich die Alzheimer-Krankheit entwickeln.
Diese Erklärung wird auch dadurch bestätigt, dass die Alzheimer-Krankheit, bei der das Erfahrungs-wissen zuerst zerstört wird, was unserer Natur völlig zuwiderläuft, bis vor etwa 100 Jahren noch weitgehend unbekannt war. Und das, obwohl schon damals sehr viele Menschen das für Alzheimer typische Lebensalter von 65 Jahren erreichten. Alois Alzheimer, der diese nach ihm benannte Krankheit entdeckte, beschrieb sie im Jahre 1906 als eine Kuriosität. In medizinischen Lehrbüchern war sie selbst 30 Jahre nach dieser Erstbeschreibung nicht zu finden, sie war schlichtweg zu selten.
Auch in Japan war noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts das Alzheimer-Risiko sehr gering, stieg dann aber in nur zwei Jahrzehnten um das Siebenfache auf das derzeit dort noch immer herrschende hohe Niveau. Da sich jedoch in diesem kurzen Zeitraum die Altersstruktur nicht um einen solch gewaltigen Faktor verändert hat, suchten Forscher nach einer anderen Erklärung. Fündig wurden sie in den Lebensgewohnheiten der japanischen Gesellschaft, die sich durch die nach dem zweiten Weltkrieg rasch voranschreitende Industrialisierung sehr rapide von ihren traditionellen verabschiedet haben. Diese Erkenntnis liefert einen weiteren Beweis, dass nicht das Lebensalter die Ursache für Alzheimer sein kann, sondern das Älterwerden uns nur die Möglichkeit gibt, die Konsequenzen einer ungesunden oder unnatürlichen Lebensweise zu erleben.
Mittlerweile zeigen Studien, welche individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen mit einem erhöhten Alzheimer-Risiko einhergehen. Diese reichen von einem Mangel an körperlicher oder sozialer Aktivität, an verschiedensten Vitalstoffen in der Ernährung bis hin zu ungenügendem Schlaf. Trotz der Vielzahl an unterschiedlichen Risikofaktoren, zu denen auch einige Giftstoffe wie Blei oder Quecksilber, aber auch einige der meistverabreichten Medikamente gehören, konnte man in Experimenten meist eine Ursache-Wirkung-Beziehung nachweisen und in Fachblättern veröffentlichen. Dennoch wird in den Medien immer wieder behauptet, dass man aus diesen Ergebnissen noch keine Rückschlüsse auf menschliches Verhalten ziehen dürfe. Passen doch die Forschungsergebnisse nicht in das Dogma, das Alter sei die Ursache, welches eng gepaart ist mit der These, dass uns nur (zukünftige) Medikamente retten können. Damit stilisieren sich Experten, die meist durch lukrative Beratertätigkeiten und Drittmittel von der pharmazeutischen Industrie gefördert werden, zu den alleinigen Heilsbringern hoch. So werden Forschungsetats auf Kosten einer Gesellschaft gefüllt, der die wahren Ursachen der Alzheimer-Pandemie verschwiegen werden. Und spätestens hier wird es nun gefährlich, denn so kann sich die Prophezeiung, dass jeder, der alt genug wird, an Alzheimer erkranke, wie von selbst bewahrheiten. Denn wenn Alzheimer tatsächlich unvermeidbar sein soll, welchen Sinn hat es dann, sich durch eine gesündere Lebensweise davor zu schützen? Und so schließt sich ein Teufelskreis: Vornehmlich wirtschaftliche Entwicklungen, die uns Menschen zu Produzenten und Verbrauchern von Konsumgütern gemacht haben, führten zu einer Lebensweise, die Alzheimer auf vielfältigste Art verursacht, und die dahinterliegenden Interessen halten uns davon ab, dieser Krankheit effektiv zu begegnen.
Alzheimer beginnt mit einem voranschreitenden Verlust des episodischen Gedächtnisses, erst danach kommt es zu einem Abbau der geistigen und sozialen Leistungsfähigkeit. Damit wird der Hippocampus, die Gedächtniszentrale für unsere Lebenserfahrungen, zum Ort des Geschehens. Er ist der Schlüssel zum Verständnis der Erkrankung. Damit wir auch noch im hohen Alter befähigt bleiben, neue Erfahrungen zu sammeln, auszuwerten und als Wissen an die nächste Generation weiterzugeben, können im Hippocampus tagtäglich Tausende neuer Hirnzellen entstehen - und zwar beim 92-Jährigen noch genauso wie beim 18-Jährigen! Die lebenslange Produktion und Reifung neuer Nervenzellen im Gedächtnisnetzwerk des Hippocampus sind somit wichtige Vorgänge, auf die insbesondere unsere Lebensweise entscheidend Einfluss nimmt. Beispielsweise signalisiert körperliche Aktivität, dass mehr Nervenzellen gebildet werden müssen, denn schließlich erwarten einen Menschen, der aktiv ist, wahrscheinlich neue Erfahrungen, die er sich merken sollte. Dasselbe gilt für soziale Aktivität. Aber auch Schlaf ist entscheidend, denn nur in dieser Phase kann das Wachstum unserer Gedächtniszentrale stattfinden. Dabei werden alle wesentlichen Vitalstoffe benötigt, wohingegen viele Giftstoffe direkt oder indirekt diese Nervenzellneubildung stören. Interessanterweise beginnt die Alzheimer-Krankheit immer dann, wenn diese auf die eine oder andere Art verhindert wird.
Grundsätzlich gilt bei allen Wachstumsvorgängen in der belebten Natur das Gesetz des Minimums. Dieses besagt, dass viele Faktoren zum Wachstum beitragen, wobei die jeweils knappste Ressource zum limitierenden Faktor wird, und im Falle von Alzheimer zum Risikofaktor. Wendet man das Minimumgesetz auf das lebenslange Wachstum unseres Gedächtnisses an, so wird deutlich, wieso unterschiedliche, individuelle Mängel dieselbe Krankheit verursachen, weshalb also ein Leistungssportler ebenso an Alzheimer erkranken kann wie ein Philosoph, eine Hausfrau ebenso wie ein Top-Manager. Darüber hinaus erklärt das Gesetz des Minimums das Scheitern sämtlicher bisherigen monotherapeutischen Versuche in einer Gesellschaft, in der eben alles Ursache sein kann: ein Mangel an Bewegung, an Schlaf, an Nahrungsmitteln und Mikronährstoffen, an sozialen Beziehungen und vielem mehr, denn der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile.
Wir müssen daher das auf Einzelmaßnahmen beschränkte Denken, das dazu führt, dass sämtliche medikamentösen Therapien bei Alzheimer scheitern, aufgeben, und durch eine systembiologische Vorgehensweise ersetzen. Dies gilt sowohl für die Prävention als auch für die Therapie. Nur ein Mehr an Bewegung oder an Schlaf zu empfehlen, oder nur das eine oder andere Vitamin zu verabreichen nützt nichts oder nur wenig (denn nur wenige haben nur den einen oder anderen Mangel). Deshalb scheitern die Maßnahmen regelmäßig und werden fälschlicherweise auch für einen systembiologischen Ansatz in Prävention oder Therapie als wirkungslos erachtet.
Unter Anwendung eines systembiologischen Konzeptes, das sämtliche individuellen Risikofaktoren berücksichtigt, konnten mittlerweile im Freiburger Zentrum für ganzheitliche Medizin die wissenschaftlich veröffentlichten Erfolgsberichte aus den USA bestätigt werden, wo mit einem vergleichbaren Therapieplan Alzheimer-Patienten im Frühstadium wieder ihre Alltagskompetenz zurückerlangten, und das dauerhaft. Bei Alzheimer-Patienten kann der geistige Abbau somit nicht nur aufgehalten, sondern der Krankheitsprozess sogar umgekehrt werden. Das ist jedoch, wie eingangs erläutert, nur möglich, weil die Erhaltung (und damit auch das Wiedererlangen) der geistigen Fitness in unseren Genen liegt. Aufgrund dessen wird auch verständlich, weshalb diese Art der Vorsorge und Therapie, die nur darin besteht, Defizite gezielt zu korrigieren, im Vergleich zu medikamentösen Maßnahmen keine unerwünschten Nebenwirkungen hat.
Wir sind nun mithilfe von evolutions- und neurobiologischen Überlegungen bei den tatsächlichen Ursachen der Alzheimer-Erkrankung angekommen und damit auch an einem Wendepunkt in der Prävention und der Therapie dieser Krankheit. Damit wird Alzheimer auf andere Weise als bisher zu einer gesellschaftlichen Herausforderung. Diese werden wir nur meistern, wenn wir bereit sind, den Glauben an vermeintlich allmächtige Pillen aufzugeben, die niemals die wahren Ursachen beseitigen können. Stattdessen müssen wir uns für neue Erkenntnisse öffnen, die unsere Lebensgewohnheiten hinterfragen, weil sie nicht mehr im Einklang mit unserer Natur stehen, um dann mit diesem Wissen selbstverantwortlich unser Leben hirngerecht und damit auch menschenwürdiger zu gestalten.
Michael Nehls
Michael Nehls wurde 1962 in Freiburg geboren. Der Arzt und Molekulargenetiker forschte an renommierten Instituten. Er war Leiter der Genomforschung einer US-Firma und Vorstandsvorsitzender eines Münchner Biotechnologie-Unternehmens.
Seit 2007 arbeitet er als selbstständiger medizinischer Wissenschaftstheoretiker. Kürzlich publizierte er eine umfassende Erklärung der Alzheimer-Krankheit.
Für seine Erkenntnisse, die auch in den Spiegel-Bestsellern "Die Alzheimer-Lüge - Die Wahrheit über eine vermeidbare Krankheit" und "Alzheimer ist heilbar - Rechtzeitig zurück in ein gesundes Leben" nachzulesen sind, wurde Nehls 2015 mit dem Hanse-Preis für Psychiatrie ausgezeichnet.
Durch sein Therapieverfahren erlangten inzwischen die ersten Alzheimer-Patienten ihr Gedächtnis wieder.
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