Die meisten Bundesbürger und Bundesbürgerinnen sind, zumindest was ihre wirtschaftliche Lage betrifft, ganz gut durch die Coronakrise gekommen. Hohe Arbeitslosigkeit gibt es dank Kurzarbeitergeld nicht, die Wirtschaft zieht langsam wieder an. Hoffnungsvolles Erwarten, dass das alte Leben bald zurück sein könnte.
Aber die Coronakrise hat auch gezeigt: Unser schönes Sozialsystem hat Lücken. Meine Nachbarin, die als Angestellte bei der Lufthansa arbeitet, bekommt Kurzarbeitergeld. Aufgestockt wurde es durch ihren Arbeitgeber, wahrscheinlich wegen der neun Milliarden, die das private Unternehmen kurzfristig vom Staat erhielt. Meine Nachbarin darf mit diesem Geld Nahrung beschaffen, ihre Wohnung bezahlen, sie darf sogar an der Börse spekulieren und in die Ferien fahren kann sie auch (so die Einreisebestimmungen dem nicht entgegenstehen).
Gewerbetreibende erhalten mit etwas Glück und nach langem Warten finanzielle Unterstützung, um die Miete ihrer durch die Bundesregierung geschlossenen Geschäftsräume zu bezahlen. Ihre Wohnungsmiete und ihren Lebensunterhalt dürfen sie mit diesen staatlichen Fördermaßnahmen aber nicht finanzieren. Auch Soloselbständige, die wenig laufende Kosten haben, werden darauf verwiesen, dass sie Sozialhilfe beantragen können, wenn die Aufträge fehlen. Doch wer zur Sicherung seines Lebensunterhalts Hartz IV haben möchte, muss finanziell am Ende sein, muss von der Hand in den Mund leben und das auf kleiner Wohnfläche. Auch wenn die Wohnung zugleich der Arbeitsplatz ist. Aber nicht jeder und jede Selbständige kratzte schon vor Corona am Existenzminimum, sondern lebte ein gutbürgerliches Leben wie meine Nachbarin. Und viele von ihnen haben in den letzten Monaten die Rücklagen, die für weitere Investitionen in den Betrieb und zur Altersvorsorge gedacht waren, für den Lebensunterhalt verspachtelt. Ganz heimlich still und leise verschwand so manche berufliche Existenz. Der Laden wurde zugemacht und nicht mehr aufgeschlossen. Ganz ohne offizielles Insolvenzverfahren, aber mit harten Konsequenz für die Einzelnen. Die freie Schauspielerin sitzt jetzt an der Supermarktkasse und der ehemalige Konzertveranstalter fährt Pakete aus.
Und wer vor der Coronakrise nur einen 450-Euro-Job machte, weil der Partner oder die Partnerin gut verdiente und die Kinder noch betreut werden müssen, hat Anspruch auf nichts. Weil die Betriebsschließung behördlich angeordnet war, ist der Ladeninhaber nicht zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Kurzarbeitergeld erhalten Minijobber und Minijobberinnen nicht, denn das bekommen nur Menschen mit einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis – was ein 450-Euro-Job gerade nicht ist. So fehlen einfach 450 Euro im monatlichen Familienbudget. „Lücken im Gesetz“ nennt dies das Bundesarbeitsgericht.
Unsere Bundesregierung in spe möchte die Beitragsbemessungsgrenze für Minijobs auf 530 Euro erhöhen. So werden künftig noch mehr Menschen in die Lücken fallen. Schon heute zählen nur noch knapp dreiviertel aller Erwerbstätigen zu den sogenannten Normalarbeitnehmern, die mehr als 20 Stunden die Woche unbefristet mit Sozialversicherung arbeiten.
Aber ein Bürgergeld soll jetzt kommen, so steht es im Koalitionspapier. Ob es mehr sein wird als ein neuer Name für ein altes Problem, ist derzeit noch offen.
Aber werden die Bezieher und Bezieherinnen eines Grundeinkommens das schöne Geld nicht einfach in Alkohol und Zigaretten umsetzen und die Arbeit gänzlich einstellen? Ein gern gehörter Einwand von denen, die weniger einem Nordhäuser Doppelkorn als dem Chateau Lafite zusprechen.
Dass Niedriglöhner einen hohen ökonomischen Druck brauchen, um dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, dafür konnten bei bisherigen Modellprojekten zum Grundeinkommen keine Belege gefunden werden. Sowohl in der „ersten“ als auch der „dritten“ Welt ist zu beobachten, dass die Menschen mit einem Grundeinkommen durchaus arbeiten und vor allem ihr Leben (wieder) in die Hand nehmen und gestalten. Auch die Einführung der Sozialversicherungen vor 150 Jahren führte nicht dazu, dass alle Menschen schlagartig die Arbeit einstellten. Kranken-, Renten-, Unfall- und später die Arbeitslosenversicherung haben nicht zu weniger sondern zu mehr Wohlstand geführt.
Auch die, die allein von ihren Vermögenseinkünften leben könnten, gehen zumeist einer Erwerbsarbeit nach. Weil wir in einer Arbeitsgesellschaft leben. Weil Arbeit mehr ist, als Geld zu verdienen. Weil sie Kontakte bringt, Status schafft, Sinn stiften kann. Anstatt weiterhin zu fordern, dass Menschen ohne Arbeit sinnlose Bewerbungen schreiben, Formulare ausfüllen und in Maßnahmen stecken, die sie nicht weiterbringen, sollten wir auf die Eigenständigkeit unserer Mitmenschen und uns selbst vertrauen.
Vielleicht werden sich die Arbeitsbedingungen bei Amazon und in manch anderem Niedriglohnbereich verbessern, wenn der ökonomische Druck für den Einzelnen nicht mehr ganz so groß wäre. Aber das wäre ja nicht das Schlechteste. Wie sollte nun ein Grundeinkommen für alle gestaltet sein? Es gibt viele Modelle und es werden immer mehr. Welches ist das Richtige? Wer soll ein Grundeinkommen erhalten, wie hoch soll es sein, wie soll es finanziert werden?
Die Sozialversicherung ist nicht an einem Tag erfunden worden, sondern wurde über 150 Jahre immer wieder modifiziert. Aber in ihrer Struktur ist sie im Vergleich zu den vorindustriellen Sicherungssystemen mindestens so revolutionär wie ein Grundeinkommen es heute sein könnte. Und auch hier gilt es, Erfahrungen zu sammeln und das System immer wieder weiterzuentwickeln. Ein Bürgergeld, das diesen Namen verdient, könnte der erste Schritt auf diesem Weg sein.
Aber wäre ein Grundeinkommen für alle überhaupt finanzierbar? Dies ist weniger ein faktisches Problem als eine Frage des politischen Willens und es ist vor allem eine Verteilungsfrage. Wofür sollen Steuergelder ausgegeben werden, wer soll von staatlicher Unterstützung profitieren und wer wird wofür zur Kasse gebeten? Ein „blinder Sozialstaat“, der künftig „alle Einkommen – also Löhne, Zinsen, ausgeschüttete Gewinne, Dividenden, Tantiemen, Mieteinnahmen, Transaktions- und Spekulationsgewinne – gleichermaßen und mit dem gleichen Steuersatz in die Pflicht“ nimmt, wäre durchaus in der Lage, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle zu finanzieren, so zumindest die These des Schweizer Ökonomen Thomas Straubhaar. Als negative Einkommenssteuer konzipiert könnte es tatsächlich zum Bürokratieabbau beitragen.
Der DAX steht im Oktober 2021 um 23 Prozent höher als im Oktober 2019. Die Preise für Wohnimmobilien stiegen trotz oder wegen Corona im zweiten Quartal 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast elf Prozent. Wer sein Leben nicht durch Arbeit, sondern durch seine Vermögenseinkünfte finanziert (früher hieß so jemand Couponschneider), der konnte in den vergangenen zwei Jahren seinen Wohlstand weiter mehren und darf ihn auch behalten. Die Vermögenssteuer ist bei den Sondierungsgesprächen vom Verhandlungstisch gefallen. So wie jegliche Steuererhöhungen tabu sein sollen – unabhängig vom Finanzierungsbedarf. Das ist mehr als schade. Auch die Bismarckschen Sozialreformen gab es nicht zum Nulltarif. Statt Familie und Gemeinde, die über Jahrhunderte die soziale Sicherung gewährleisteten, wurden nun die in der Industrialisierung neu entstehenden Großbetriebe zur Kasse gebeten. Das haben die Industriebarone im Ruhrgebiet auch nicht ohne Widerstand hingenommen. Aber es entsprach den neuen Arbeitsformen und war die Basis für eine prosperierende Wirtschaft über viele Jahrzehnte. Heute sind es nicht mehr Krupp und Thyssen, sondern Google und Facebook, die die Arbeitswelt prägen. Aber das, was Bismarck vor 150 Jahren geschafft hat, sollten auch wir heute schaffen: die Realität wahrzunehmen und die Zukunft krisenfest zu gestalten.
Die nächste Krise kommt bestimmt. Ob als Flut oder als Virus oder Dürre. Die durch die aktuelle Krise stark strapazierten Sozialkassen werden das auf Dauer nicht stemmen können. Die großzügigen Steuergeschenke wird es künftig nicht mehr geben, denn die staatlichen Rücklagen der vergangenen wirtschaftlich guten Jahre sind aufgelöst. Unsere Zukunft liegt nicht mehr in der industriellen Produktion und auch das Wachstum ist begrenzt. Wenn die Zeiten sich ändern, müssen sich auch die Sicherungssysteme anpassen, um auch in Zukunft noch Sicherheit und Stabilität geben zu können. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine Option zu unser aller Wohl.
Die Gastautorin
Eva Douma lebt und arbeitet als Coach, Trainerin und Autorin in Frankfurt und Berlin.
Zuvor arbeitete sie als Referentin im Paritätischen Wohlfahrtsverband in Hessen und war dort beispielsweise mit der Umsetzung der damals neuen Pflegeversicherung betraut.
Sie studierte Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Bielefeld und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Ihre Promotion wurde mit einem Stipendium der Volkswagenstiftung gefördert.
Als Gründerin und Vorstand des Vereins „arbeitsoffen“ engagiert sie sich dafür, dass Menschen in der Arbeitswelt ihren richtigen Platz finden.
Zuletzt von ihr erschienen: „Sicheres Grundeinkommen für alle. Wunschtraum oder Perspektive?“.
Bild: Privat
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