Debatte zur Bundestagswahl

Herausforderer oder Kanzlerin - wessen Strategie hat Erfolg, Herr König?

Schulz gegen Merkel: Wer hat das bessere Konzept und geht als Sieger aus dem Kampf hervor? Der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König blickt auf die Zeit vor der Wahl. Ein Gastbeitrag.

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Thomas König
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Martin Schulz oder Angela Merkel - wer gewinnt? Am 24. September ist Bundestagswahl.

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Nach den überraschenden Umfrageergebnissen zu Anfang des Jahres war die Nervosität unter den Unionstrategen greifbar. Erstmals lag im Februar die SPD in der Wählergunst etwa gleich auf mit der Union. Nach zwölf Jahren könnte die SPD mit Martin Schulz die Ära der Alternativlosigkeit zur Amtsinhaberschaft von Kanzlerin Merkel beenden. Abgesehen von den guten Partei- und Kandidatenwerten in den Meinungsumfragen spricht für den Herausforderer, dass seine Kritik an der Agenda 2010 die SPD-Mitglieder mobilisiert, was für einen erfolgreichen Wahlkampf ausschlaggebend ist. Einen Monat später erhielt die euphorische Stimmung in der SPD bei der Saarland-Wahl allerdings einen ersten Dämpfer, die von der Union mit Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer überraschend deutlich gewonnen wurde. Die SPD blieb dagegen unter ihrem bisherigen Ergebnis, was erste Zweifel an der Schulz-Strategie aufkommen lies. Ist etwa die Furcht vor sozialem Abstieg, die von Herausforderer Schulz zur Abgrenzung gegenüber der Union beschworen wird, nur zur Mobilisierung der SPD-Mitglieder und einer eher linken Minderheit von Wählern geeignet?

Dabei sah die Situation noch vor der Saarlandwahl für die Union unter Kanzlerin Merkel nicht besonders gut aus. Das Flüchtlingsthema hatte eine innere Zerrissenheit der Union offenbart, die nicht nur zwischen CDU und CSU, sondern auch innerhalb der CDU über die Jahre hinweg entstanden war. Unter diesen Umständen wurde der Aufschwung der SPD in Unionskreisen als bedrohlich empfunden. Auch wenn ein Vergleich zum demokratischen Rivalen von Hillary Clinton, Bernie Sanders, mehr Parallelen zu Martin Schulz aufgezeigt hätte: Von Unionspolitikern wurden Vergleiche zum populistischen Donald Trump zur Abgrenzung vom SPD-Kanzlerkandidaten bemüht. Dadurch sollten die Persönlichkeitsunterschiede zu Kanzlerin Merkel unterstrichen werden, die wie die saarländische Ministerpräsidentin als sachlich und pragmatisch gilt, jedoch an Popularität am Verlieren war. Allerdings stellt sich für die Union trotz des SPD-Aufschwungs in den Meinungsumfragen die Frage, ob eine Abgrenzungsstrategie gegenüber dem Herausforderer Schulz überhaupt Sinn macht.

Neuere Studien aus der Wahlkampfforschung weisen auf die methodischen Defizite von Meinungsumfragen hin, die ihre Vorhersagekraft von Wahlergebnissen einschränken. Grundsätzlich versucht die konventionelle Wahlforschung, Wahlergebnisse über die Popularität von Parteien und Kandidaten mit Merkmalen wie der Unterscheidung von Amtsinhabern und Herausforderern oder einer inhaltlichen Ausrichtung von linken bis rechten Themen zu erklären. Dabei werden Meinungsumfragen zur Bemessung der Chancen von Parteien und Kandidaten verwendet, was den dynamischen Aspekt des Parteien- und Kandidatenwettbewerbs vernachlässigt: wenn dieser Wettbewerb größer wird, dann werden die Strategien der Kandidaten extremer gegenüber Situationen, in denen der Wahlausgang fast schon feststeht. Diese Dynamik einzufangen gelingt aber in Meinungsumfragen nur bedingt, da sich die Strategieäußerung zu einem Zeitpunkt bei einem Wechsel auf spätere Messungen auswirken kann. Anders ausgedrückt dürfte sich die linke Positionierung von Martin Schulz im Februar nicht nur in den unmittelbar folgenden, sondern bei einem Strategiewechsel in Richtung Mitte auch in späteren Umfragen niederschlagen.

Aus dieser Erkenntnis lassen sich Schlussfolgerungen für die Wahlforschung und den Stellenwert von Meinungsumfragen ableiten. Erstens ist in einem Parteien- und Kandidatenwettbewerb mit mehreren Strategiephasen der Erfolg von Herausforderer oder Amtsinhaber wechselseitig bestimmt. Zweitens sind die einzelnen Phasen nicht - wie in der traditionellen Wahlforschung angenommen - unabhängig voneinander zu beurteilen. Diese folgen also nicht den empirischen Regelmäßigkeiten unabhängiger Entscheidungen von Amtsinhaber und Herausforderer, sondern entwickeln drittens eine dynamische Signalwirkung an Wähler und Parteimitglieder, an deren Ende durchaus Überraschungen herauskommen können. Abgesehen vom methodischen Problem von Meinungsumfragen liegt eine besondere Herausforderung in der Antwort auf die Frage, mit welcher Strategie sich nicht nur Parteimitglieder, sondern auch die Wähler mobilisieren lassen. Offensichtlich ist es Herausforderer Schulz mit seiner Kritik an der Agenda 2010 gelungen, die SPD-Parteimitglieder von einer linken Positionierung zu begeistern. Wenn aber die Erkenntnis reifen sollte, dass diese Positionierung eine Mehrheit der Wähler nicht überzeugt, dann hängt sein Erfolg wiederum von früheren Aussagen und der Strategie des Amtsinhabers ab.

Das heißt: Nicht so sehr die viel diskutierten Persönlichkeitsmerkmale der Kandidaten, sondern ihre strategischen Aktionen und Gegenreaktionen mit Blick auf die Mobilisierung von Parteimitgliedern und Wählern erklären am Ende Erfolg und Scheitern bei Wahlen.

Grundsätzlich eignen sich zur Mitgliedermobilisierung Abgrenzungsstrategien, die Herausforderer auch eher zur Mobilisierung von Wählern anwenden, wenn der Wettbewerb zunimmt. Dagegen sind Amtsinhaber beim Wähler mit einer Anpassungsstrategie erfolgreich, was wiederum die Mobilisierung der eigenen Parteimitglieder vernachlässigt. Wenn sich die Strategien wechselseitig bedingen, dann wäre für Martin Schulz und die SPD am erfolgversprechendsten, wenn sich Kanzlerin Merkel zur Mobilisierung ihrer Parteimitglieder mehr abgrenzen würde, was ihre Erfolgsaussichten beim Wähler schmälern dürfte. Dagegen wäre wiederum für Kanzlerin Merkel vorteilhaft, wenn die Abgrenzungsstrategie des Herausforderers mehr Einheit im Unionslager schaffen würde, sie aber ihre eigene Anpassungsstrategie zur Mobilisierung der Wähler fortsetzen könnte.

In der Tat waren für den bisherigen Erfolg von Kanzlerin Merkel und das lang anhaltende Stimmungstief der SPD mit den Wahlniederlagen der früheren Herausforderer nicht die Unterschiede, sondern die große Übereinstimmung zur Union ausschlaggebend. Diese lässt sich bis auf die Zeit der Agenda 2010 und Hartz-Reformen zurückverfolgen, die nicht gegen, sondern mit einer unionsgeführten Mehrheit im Bundesrat beschlossen wurden. Der Eindruck einer Übereinstimmung setzte sich in der folgenden ersten Großen Koalition fort, die von der SPD mit Blick auf das Wählervotum noch als "alternativlos" bezeichnet wurde. Es folgte das Intermezzo der schwarz-gelben Regierung, das der Union und der Amtsinhaberin einen historischen Wahlerfolg, dem liberalen Koalitionspartner das Ausscheiden aus dem Bundestag bescherte. Im Anschluss daran bildeten SPD und Union erneut eine Große Koalition, die keineswegs alternativlos war. Für viele war diese zweite Große Koalitionsbildung enttäuschend, was viele SPD-Mitglieder demobilisierte und die Ränder des Parteienspektrums stärkt.

Dass diese Übereinstimmung kein Zufall, sondern Resultat der Anpassungsstrategie der Amtsinhaberin war, ist mittlerweile selbst in der Union unumstritten. In der aktuellen Großen Koalition versuchte sich die SPD deshalb von Anfang an mit Forderungen wie der Einführung des Mindestlohns oder der Absenkung des Renteneintrittsalters von der Union abzugrenzen. Jedoch ging die Union unter Kanzlerin Merkel auf diese Forderungen ein und rückte strategisch mit ihrer Sozialdemokratisierung der Union an die SPD wieder heran. Da nutzte es wenig, dass die entsprechenden Ressorts von SPD-Personal besetzt wurden. Am Ende verkündete Kanzlerin Merkel den gemeinsamen Beschluss und verwischte die Unterschiede zwischen SPD und Union, wodurch der Eindruck der Alternativlosigkeit zu ihrer Kanzlerschaft selbst innerhalb der SPD verstärkt wurde.

Diese fast aussichtslose Situation änderte sich für die SPD erst mit dem im Zuge der Flüchtlingspolitik aufkommenden Ausrichtungsstreit in der Union, durch den sich die SPD ohne eigenes Zutun abgrenzen konnte. Während der Kurs der Kanzlerin vom Koalitionspartner und der Opposition unterstützt wurde, wurde ihre Strategie mit Blick auf die Erfolge der AfD in der Union offen in Frage gestellt: Je mehr die AfD an Zuspruch gewann und sich als einzige Alternative zur Amtsinhaberin darstellen konnte, desto größer - wie am Beispiel der Obergrenzenfrage zu beobachten war - trat die Uneinigkeit im Unionslager zutage.

Schließlich konnte die Kanzlerin den internen Streit nur mit einer schrittweisen Abkehr vom bisherigen Anpassungskurs beilegen, wodurch die Unterschiede zwischen SPD und Union deutlicher wurden.

Vor diesem Hintergrund setzt der Aufschwung der SPD den Ausrichtungsstreit innerhalb der Union voraus, den Herausforderer Schulz mit seiner Kritik an der Agenda 2010 zur Mobilisierung der SPD-Mitglieder nutzte. Während frühere SPD-Kanzlerkandidaten den Stallgeruch von gemeinsamer Agenda 2010 und Hartz-Reformen nicht abschütteln konnten, hat sich Martin Schulz von der Union abgegrenzt und als linke Alternative zur Amtsinhaberin positioniert. Das mobilisiert nicht nur SPD-Mitglieder, sondern auch Wähler, die von der Übereinstimmung zwischen SPD und Union enttäuscht sind und nicht zuletzt deshalb die Wahl von links- oder rechtsextremen Parteien in Erwägung gezogen haben. Allerdings erhöht diese Abgrenzung den Wettbewerb zum Unionslager, das seither mehr Einigkeit zeigt. Spitzt sich dieser Wettbewerb unter den beiden großen Parteien auf eine Wahl zwischen Herausforderer Schulz und Kanzlerin Merkel zu, dann könnten sogar die kleineren Parteien unter die Räder kommen, die normalerweise in Zeiten von Großen Koalitionen an Zuspruch gewinnen.

Ob allerdings eine linke Positionierung zur Mobilisierung der Mehrheit der Wähler ausreicht, gerät spätestens seit der Saarlandwahl in Zweifel. Laut Meinungsumfragen stuft eine große Mehrheit die wirtschaftliche persönliche und allgemeine Lage als besonders gut ein. Vor diesem Hintergrund dürfte selbst der wechselfreudige Wähler nicht von einer Armutsdiskussion überzeugt sein, auch wenn die Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung nicht gleich ausfällt. Für die Bundestagswahl dürfte aber noch wichtiger sein, dass die linke Positionierung von Herausforderer Schulz der Amtsinhaberin in die Karten spielt: einerseits eint seine Abgrenzungsstrategie die Union, andererseits kann die Kanzlerin ihre erfolgreiche Anpassungsstrategie fortsetzen. Schließlich erlaubt ihr seine Kritik an der Agenda 2010, an die Gemeinsamkeiten von SPD und Union zu erinnern und eine Diskussion unter einer linken Alternativkoalition zu entfachen, bei der die Unterschiede zwischen den Parteien über die konkrete Ausgestaltung einer linken Politik deutlich werden.

Für Herausforderer Schulz und die SPD ist diese Situation nach den Anfangserfolgen nicht einfach. Einerseits kann der Herausforderer nicht darauf hoffen, dass der Streit in der Union erneut ausbricht und Kanzlerin Merkel ihre Anpassungsstrategie aufgeben muss. Andererseits wirkt sich seine Abgrenzungsstrategie zur Union auf die weiteren Phasen des Wettbewerbs aus, so dass ein grundsätzlicher Strategiewechsel ein hohes Risiko birgt. Schließlich ist weder der erneute Einzug der FDP in den Bundestag noch sicher, oder ob eine Ampelkoalition mehr Wählerunterstützung als eine rote Alternative mit grüner Beteiligung erhalten wird.

Vielleicht wären Martin Schulz und die SPD unter diesen Umständen gut beraten, den Schwerpunkt der Agenda-Kritik weniger auf Armut als auf Teilhabe zu legen. Letztere empfiehlt eine Bildungs- und Familienentwicklungspolitik, die einen besseren Zugang für Kinder von Alleinerziehenden und Hartz-Empfängern schafft. Bildung ist der ausschlagebbende Faktor für Teilhabe an einer Wohlfahrtsgesellschaft, während die Bekämpfung von Armut eine fundamentale Änderung der Strukturen verlangt und schnell zu einem ideologischen Dogma werden kann.

Thomas König

Professor Dr. Thomas König, 1961 in Münster geboren, lehrt an der Universität Mannheim. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Theorien des politischen Entscheidens sowie auf der politischen Ökonomie von Reformen.

König gibt die politikwissenschaftliche Fachzeitschrift "American Political Science Review" heraus. Für seine Arbeiten erhielt er mehrfach Preise und Auszeichnungen.

Zudem ist König im Kompetenzteam "Politik und Wirtschaft" des Frankfurter Zukunftsrats. ble

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