Die Abschöpfung von Daten hebelt eindeutig unsere Grundwerte aus. Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen der geheimdienstlichen Überwachung durch nationale und internationale Behörden und dem Sammeln von persönlichen Daten und sogenannten Metadaten durch private Unternehmen. Die staatliche und grenzüberschreitende Überwachung dient, so würden es die jeweiligen Innenpolitiker sagen, dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor terroristischen und anderen Verbrechen; die privatwirtschaftliche Datenabschöpfung dient der Identifizierung des Kaufverhaltens. Beides kann, und das wiederum wünschen sich vor allem die Geheimdienste, natürlich miteinander verknüpft werden. Die Internet-Unternehmen lehnen dies wiederum ab, fürchten sie doch zu Recht, dass ein ungehinderter Durchgriff der CIA, des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten, oder des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) auf Verbraucherdaten die Verbraucher bei ihrem Konsum im Netz stören würde. Eine solche Störung wäre geschäftsschädigend. Eine großflächige Verknüpfung der Informationen, die die einen haben, mit denen, die die anderen besitzen, würde eine historisch einzigartige Transparenz sowohl des einzelnen Bürgers wie aller seiner auch noch so beiläufigen Sozialkontakte und -beziehungen bedeuten.
Aber auch ohne eine solche Verknüpfung, wie sie etwa im Fall eines Staatsstreichs oder gegebenenfalls auch nur eines Notstands vorgenommen werden könnte, verschwindet gerade eine zentrale Voraussetzung von Demokratie, einfach durch das, was tagtäglich online geschieht. Denn jeder Nutzer eines Smartphones, mit dem er in sozialen Netzwerken kommuniziert, Informationen sucht, Bestellungen aufgibt, Reisen plant, Emails verschickt, seine Schritte zählt und gelegentlich auch telefoniert, hinterlässt eine Tag für Tag umfangreicher werdende Datenspur. Die Verknüpfung all dieser Daten miteinander und mit denen seiner Sozialkontakte führt dazu, dass eine andere Person sehr schnell weit mehr über den Nutzer weiß als dieser über sich selbst. Darin liegt eine radikal ungleiche Verteilung von informationeller Macht. So ist es zum Beispiel historisch völlig neu, dass - wie bei Facebook - eine einzige Person, nämlich Mark Zuckerberg, informationelle Macht über 1,9 Milliarden Menschen hat. Kann eine solche einseitige Machtverteilung demokratisch ausbalanciert werden?
Schwer vorstellbar. Denn eine zentrale Voraussetzung der Demokratie besteht ja gerade darin, dass es eine klare Trennung privater und öffentlicher Sphären gibt. Und dass in diesen Sphären jeweils auch unterschiedliche Verhaltensregeln und Normen galten. Während die öffentliche Sphäre durch unterschiedslose Zugänglichkeit, Transparenz und politische Teilhabe gekennzeichnet ist, ist die private Sphäre nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglich und umgekehrt durch Intransparenz nach außen, "Nichtbeachtbarkeit" (Raymond Geuss) und Politikferne charakterisiert.
Als Sphäre, in der Menschen tun und lassen können, was sie wollen, ohne dass eine Öffentlichkeit davon auch nur Kenntnis gewinnen könnte, bildet Privatheit jenen Bereich, in dem sich Persönlichkeiten entwickeln und Standpunkte einnehmen lassen, die es einem erlauben, als freier Bürger zugleich politischer Souverän zu sein und Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen. Privatheit bildet also die Voraussetzung für die Existenz eines demokratischen Gemeinwesens.
Folgerichtig ist Privatheit denn auch das, was in totalitären Gesellschaften zuallererst bekämpft wird. Das Selbst ist in solchen Gesellschaften "das erste besetzte Gebiet", wie es der Philosoph Günther Anders formuliert hat, und Peer Steinbrück hat vor einigen Jahren zutreffend gesagt: "Totale Transparenz gibt es nur in Diktaturen." Aber in Diktaturen, wie wir sie aus der Geschichte kennen, mussten die Geheimpolizeien mit Hilfe von Spitzeln, Abhörgeräten, usw. in privaten Welten eindringen. Es gab aber immer tote Winkel, in die "der große Bruder" des klassischen Totalitarismus nicht blicken konnte. Der Verfolgte musste sich zeigen, um gesehen zu werden. Es waren besonders die engen Sozialbeziehungen, die bei der vollständigen Ausforschung des Privaten Hürden bildeten.
Umgekehrt kann es ohne die Intimität privater Beziehungen, ohne den unzugänglichen Raum der intimen Konspiration nur schwer Widerstand oder verbotene Hilfe geben. Transparenz und Konformität sind unausweichlich, wo es keine Privatheit gibt. Aber wie wir heute sehen, kann Privatheit auch dann verschwinden, wenn der Rahmen der bestehenden Staatlichkeit gar nicht angetastet wird: durch die freiwillige Ablieferung persönlicher Daten durch den allfälligen Konsum von Produkten, Dienstleistungen und Informationen im Netz. Konsum und Datenpreisgabe sind in der Online-Welt ein- und dasselbe.
Zudem wächst, sobald ich weiß, dass ich jederzeit unter Beobachtung stehe, das Bedürfnis nach Anpassung und Unauffälligkeit. Genau in diesem Sinn hat Eric Schmidt, der frühere CEO von Google, formuliert, dass man Handlungen, die man vor der Öffentlichkeit verbergen möchte, am besten erst gar nicht ausführen solle. Das bedeutet in der Konsequenz: Transparenz wird selbst zu einem Wert, und wer sich ihr verweigert, ist sofort verdächtig.
Dies alles verändert gegenwärtig die Grundlagen unserer sozialen Welt, ohne dass ein politischer Systemwechsel dafür nötig wäre. Die geheimdienstliche Überwachung arbeitet auf ihre Weise an der Erosion dieser Grundlagen und legitimiert ihre unbegrenzten Ausforschungsbedürfnisse mit Gefahrenabwehr. Dabei wird sie selbst zu einer Gefahr für den Rechtsstaat, der ja für die außerordentliche hohe Sicherheit des Alltagslebens in heutigen Gesellschaften sorgt. Insofern ist der Versuch, sich mehr Sicherheit durch die Abschaffung des Privaten verschaffen zu wollen, nicht frei von Absurdität - dies führt ja gerade zur Aushebelung des Rechtsstaats und damit zur völligen Schutzlosigkeit des Individuums.
Man muss sich das Entstehen von Totalitarismus als Übergang vorstellen, nicht als Zäsur. Die Erosion der Grenzen zwischen privater und staatlicher Verfügungsmacht über eine Totalität von Daten markiert selbst schon das veränderte Regime, unter dem Dinge möglich sind, die zuvor undenkbar waren. Freiheit und Selbstbestimmung gehören zum rechtsstaatlichen Subjekt ebenso wie Privatheit und Unverletzlichkeit der Person. Und Freiheit und Selbstbestimmung sind radikal gefährdet, wenn die Informationsindustrie das Verhalten der Menschen ebenso zu steuern begonnen hat wie ihr wirtschaftliches Schicksal.
Auch dem smarten Totalitarismus genügt es völlig, wenn die Menschen tun, was von ihnen gewollt wird. Seine Neuigkeit liegt darin, dass er ohne jeden Zwang, ohne jeden Terror auftritt und gerade deshalb kein Entkommen erlaubt. Seine Ideologie scheint lediglich in der überaus freundlichen Absicht zu bestehen, die Welt immer noch ein bisschen "besser" zu machen, wobei freilich nie definiert wird, worin denn dieses "Bessere" jenseits einer permanenten Ausweitung der Komfortzone bestehen soll.
Von den 200 000 Jahren Geschichte des homo sapiens sind es, die athenische Demokratie der Antike eingerechnet, insgesamt bloß 400 bis 500 Jahre, in denen Demokratien bestanden - und das auch nur in einem kleinen Teil der Welt. Das macht insgesamt 0,25 Prozent der Menschheitsgeschichte aus, in denen zumindest ein kleiner Teil der Menschheit in Demokratien leben konnte: Vielleicht kann man sich so die Kostbarkeit des zivilisatorischen Standards klar machen, den wir gegenwärtig genießen. Und dieser Standard bedeutet eben die individuelle Erwartbarkeit von Ausbildung, sozialer Sicherheit, Rechtssicherheit, körperlicher Unversehrtheit und Unverletzlichkeit von Person und Eigentum - solche Güter stehen in Verfassungen, weil sie gerade nicht selbstverständlich sind. Wenn man im Westen inzwischen auf mehrere Jahrzehnte demokratischer Entwicklung zurückblicken kann, dann mag das zu der Annahme verleiten, wir befänden uns in einem stabilen Zustand der zivilisatorischen Entwicklung. Langfristig angelegte Betrachtungen von Geschichtsverläufen zeigen jedoch, wie verfehlt diese Annahme ist: Gesellschaften und ihre Ordnungen sind grundsätzlich nicht stabil. Auch dass weder die weltgeschichtliche Zäsur von 1989, noch die Rückkehr in den Kalten Krieg von 2014, noch der "Brexit", noch die Wiedererstarkung der Nation als politische Wunschkategorie vorhergesehen wurden, sollte uns für Gefährdungen der Demokratie sensibler machen. Als stets prekäre Staatsform bleibt sie immer auf die Wachheit der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Und auf deren Bereitschaft, die Demokratie zu verteidigen. Bearbeitet von: Julia Lauer
Harald Welzer
Harald Welzer ist Kulturwissenschaftler, der durch eine Vielzahl von Publikationen bekannt wurde.
Er beschäftigt sich u.a. mit dem Nationalsozialismus und dem Klimawandel. Zuletzt veröffentlichte er als Co-Autor das Buch "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben".
Welzer ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der gemeinnützigen Berliner Stiftung "Futur Zwei".
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