Mehmet ist erst ein paar Wochen in Deutschland und ganz neu an einer Schule in Mannheim. Der Neunjährige beherrscht schon ein paar Wörter Deutsch, und er hat eine Mitschülerin, die Arabisch spricht und mir hilft, meine Anweisungen weiterzugeben. Wir stehen mitten im Käfertaler Wald in Mannheim und die Schüler haben die Aufgabe, verschiedene Bodentiere in Becherlupengläsern zu sammeln, sie zu bestimmen und in Terrarien zu sortieren. Dabei ist wichtig, dass sie vorsichtig mit den Tieren umgehen. Mehmet ist voll konzentriert, mit Eifer wühlt er auf dem Boden im Laub und freut sich über jedes Tier, das er findet. Obwohl er vorher weder mit diesen Tieren in Kontakt gekommen ist, noch sich je in einem mitteleuropäischen Wald bewegt hat, tut er das ohne Scheu.
Mehmet steht als Beispiel für meine Erfahrung als Waldpädagoge mit Kindern jeglichen Alters, Herkunft, Geschlecht, Religion oder gesellschaftlicher Schicht. Sobald die erste Kontaktaufnahme mit der Natur "überstanden" ist, bewegen sich die Kinder frei und ungezwungen. Dabei zeigen sie ausnahmslos keinen Ekel, wenn sie Spinnen, Würmer oder Tausendfüßler fangen sollen. Kindern fällt der Zugang zur Natur also leicht, selbst wenn sie zu ihr sonst wenig Bezug in ihrer Lebenswelt haben. Die Natur ist also immer (noch) in uns, wir müssen sie bloß erwecken.
Denn Erwachsenen fällt der Zugang deutlich schwerer. Technische Beschleunigung, globale Vernetzung und digitale Kommunikation steigern das Tempo im Arbeitsleben. Mit einem Kaffee in der Hand hetzen viele Menschen schon frühmorgens zur Arbeit. Noch bevor sie dort ankommen, wird mit dem Smartphone gechattet, gesurft und telefoniert. Im Büro drängen die Termine. Die nächste geschäftliche Besprechung steht an, die Arbeit stapelt sich auf dem Schreibtisch und eine Flut von E-Mails wartet auf Beantwortung. Ständige Erreichbarkeit ist selbstverständlich. Schon steckt man im Hamsterrad der heutigen Hochgeschwindigkeitsgesellschaft und rennt der Zeit hinterher.
Man ist an allen Fronten gefordert, ist sozusagen der Manager in eigener Sache. Und der ständige Wettbewerb in der Marktwirtschaft führt dazu, dass man versucht, immer ein bisschen schneller und produktiver zu werden. Der Druck steckt schon im System. Arbeit und freie Zeit gehen ineinander über. Die digitale Welt lässt die Grenzen zunehmend verschwimmen. Das versetzt Menschen in einen dauerhaften Bereitschaftsmodus. Jeder will die Zeit nutzen, Kontakte knüpfen, bei Facebook oder anderen sozialen Netzwerken posten. Jeder will die vielen Wahlmöglichkeiten, die wir haben, auskosten. Keiner möchte sich einschränken und auf etwas verzichten. Das alles kostet Zeit, weil es immer Entscheidungen von einem fordert.
Zeit in der Natur kann helfen, zu entschleunigen und uns einen Ausstieg auf Zeit aus dem Hamsterrad bieten. Doch die Unberechenbarkeit der Natur, die Zeckengefahr oder der Fuchsbandwurm verursachen bei Einigen ein ungutes Gefühl. Deshalb funktionieren heutige Naturerfahrungen häufig nur in einem strukturierten und organisierten Rahmen. Was früher selbstverständlich war, muss jetzt oft von Institutionen "verordnet" werden. Der Mensch will das Walderlebnis so, wie er es von seinem Alltagsleben gewohnt ist: planbar, öffentlich, organisiert, sicher und erlebnisorientiert.
Der neue Bildungsplan in Baden-Württemberg etwa hat als Kernkompetenz die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) aufgenommen. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche früh und dauerhaft mit den Kriterien einer nachhaltigen, ökologisch orientierten Lebensweise in Verbindung zu bringen. Die künftigen Generationen sollen wieder ein Bewusstsein entwickeln für sich selbst, für andere und für ihre Umwelt. Institutionen und professionelle Dienstleister übernehmen also die Aufgabe, Menschen den Kontakt mit der Natur zu ermöglichen, sie ihnen greifbar zu machen. Solche Angebote haben in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen.
Allerdings ist der Lernweg zu einem schonenden Umgang mit der Natur wohl ein anderer als noch vor 20 oder 30 Jahren. Wo früher Kinder sich täglich frei und "wild" auf der Straße oder im Grünen bewegen konnten und damit die Grundlagen für einen Bezug zur Natur gelegt haben, ist dies heute so nicht mehr möglich und auch nicht mehr gewollt. Heute spielen die digitalen Medien, die Planbarkeit, aber auch das Gefühl der Sicherheit eine viel wichtigere Rolle im Leben von Heranwachsenden und Erwachsenen.
Der amerikanische Schriftsteller Richard Louv konstatierte deshalb schon 2008 ein "Natur-Defizit-Syndrom"- ein Ausdruck, der von der Fachwelt bald aufgegriffen wurde. Sein Bestseller "Das letzte Kind im Wald?" löste eine weltweite Debatte über Kinder und Naturerleben aus. Denn der positive Effekt von Bewegung auf den kindlichen Intellekt ist gut belegt. Und das Spielen in der Natur hat gegenüber Sportstunden Vorteile. Kein Leistungsdruck vermiest die Bewegungslust.
Hinzu kommt der Abenteuereffekt: Spannende Herausforderungen, der Wunsch und die Freude, sie zu meistern, setzen im Gehirn besonders viel Dopamin frei, einen Botenstoff, der laut Hirnforschern als Antrieb für das Verankern von Lernerfahrungen wirkt. Das Erklimmen von Felsen und Bäumen dürfte die neuronale Vernetzung im Gehirn höchst effektiv ankurbeln.
Im vergangenen Jahr zeigte die Studie "Kinder in der digitalen Welt" des Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (Divsi), dass gut die Hälfte der Achtjährigen (55 Prozent) hierzulande online ist, 37 Prozent sogar mehrfach in der Woche oder täglich. Bei den Sechsjährigen ist bereits fast ein Drittel (28 Prozent) teils regelmäßig im Netz unterwegs, bei den Dreijährigen jedes zehnte Kind.
In unserer Welt der Digitalisierung und Technisierung braucht es ein Zusammenspiel mit dem Umgang mit der Natur. Ein "Entweder oder" ist nicht mehr möglich. Wenn das Naturerlebnis attraktiv bleiben oder werden soll, kann es sich der Technik nicht mehr entziehen. Durchschnittlich verbringen wir die Hälfte unseres wachen Lebens mit Medienkonsum. Auch ich integriere technische Geräte in meine waldpädagogische Arbeit. So erstellen Teilnehmer über eine bestimmte Baumart einen Steckbrief, dabei dürfen sie mit dem Smartphone über die Heilwirkung, Besonderheiten oder über die Bedeutung des Baumes bei unseren Urahnen recherchieren.
Um die Entfremdung des Menschen von der Natur aufzuhalten, erscheint mir eine staatliche oder externe Einflussnahme nötig, um den Ansprüchen unserer modernen Gesellschaft gerecht zu werden. Das kann auch durchaus positive Auswirkungen auf das menschliche Verhalten gegenüber der Umwelt haben. Naturführer, Waldpädagogen und Förster haben das Wissen und Können, lebenswichtige Zusammenhänge zu erläutern, Konsequenzen von ökologischen Fehlverhalten deutlich zu machen, Nachhaltigkeit zu vermitteln und zu leben und damit Einfluss auf die ökologischen Entscheidungen jedes einzelnen Menschen zu nehmen.
Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus dem 18. Jahrhundert. Der Wald lag damals im Argen: Der Schwarzwald wurde geplündert, die Weißtannen wurden den Rhein hinunter nach Holland geflößt, um sie zu verbauen. Auch das Erzgebirge war in schlimmem Zustand. Der Bergbau verschlang Holz. Köhler und Glasbläser taten es genauso. Der Bedarf wuchs und wuchs, durch den rapiden Anstieg der Bevölkerung und das Wachstum der Städte. Die Menschen brauchten Holz für den Hausbau, ihre Küchen, ihre Wohnstuben und ihr Werkzeug. Doch Europas Wälder gaben nicht genügend her.
In dieser Zeit schrieb Oberberghauptmann Hans-Karl von Carlowitz sein Buch "Silvicultura oeconomica". Er hatte erkannt, dass weitere Baumfällungen für den Bergbau in die Katastrophe führen würden: "Man solle das Holz nutzen, so dass eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs erfolget und die Nutzung continuirlich stattfinden könne. Deswegen sollen wir unsere oeconomie dahin einrichten, dass wir keinen Mangel daran leiden und wo es abgetrieben ist, dahin trachten wir an dessen Stelle junges, das wieder wachsen möge." Von Carlowitz sagte also, wenn wir Holz aus unseren Wäldern nutzen, müssen wir dafür sorgen, dass genauso viel Holz wieder nachwachsen kann.
Verallgemeinert gesagt: Wir dürfen aus unserer Umwelt immer nur so viel entnehmen, wie sich wieder regenerieren kann. Das gilt auch heute. Die globale Waldzerstörung ist verantwortlich für fast 20 Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen. Ohne internationalen Waldschutz und die Einführung und Förderung nachhaltiger Waldwirtschaft können die globalen Klimaschutzziele und der Energiewechsel nicht erreicht werden. Im Hinblick auf eine weltweite Vernichtung von Wäldern, Rohstoffraubbau und dem erhöhten CO2-Ausstoß ist es heute genauso dringend notwendig wie im 18. Jahrhundert, heutige und nachfolgende Generationen an das Thema Nachhaltigkeit gezielt heranzuführen.
Nur wenn die Bereitschaft, sich aktiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wieder stärker in der Gesellschaft verankert wird, kann die Natur und somit auch der Umgang mit ihr für den modernen Menschen erhalten bleiben.
Frank Hoffmann
- Frank Hoffmann wurde am 2. Juli 1967 in Mannheim geboren. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
- Hoffmann ist Diplom-Biologe und staatlich zertifizierter Waldpädagoge.
- Er ist Gründer von "Wildpfa.de - Walderlebnis & Naturwissenschaft im Rhein-Neckar-Kreis".
- Als Seminarleiter und Naturführer ist er bei zahlreichen Unternehmen in der Region tätig, u. a. bei Forst BW Karlsruhe, dem Waldhaus Mannheim, Waldpädagogik Karlsruhe und der Ökostadt Heidelberg. ls
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