Anerkennung für das Bücherlesen

Hat das gedruckte Buch im digitalen Zeitalter noch eine Chance, Herr Borchmeyer?

Sinnliche Leseerfahrung findet sich nur zwischen den Seiten eines gedruckten Buches - daran ändert auch das Internet nichts, sagt Literaturprofessor Dieter Borchmeyer. Mehr noch: Noch nie erhielt das Bücherlesen so viel Anerkennung wie heute. Ein Gastbe

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Dieter Borchmeyer
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Einen Blick ins Buch werfen viele am liebsten immer noch dann, wenn sie es anfassen können - trotz digitalen Wandels. Bei Amazon (Bild) kann Literatur einfach per Mausklick gekauft und auf das Tablet geladen werden.

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Das Buch und die Printmedien überhaupt - wer wollte es leugnen - sind angesichts der digitalen Konkurrenz in eine Legitimationskrise geraten. Die meisten Tageszeitungen verzeichnen einen rapiden Abonnenten- und Leserrückgang, und man prophezeit ihnen gar ihr baldiges Ende. Schon jetzt erscheint die britische Tageszeitung "The Independent" nur noch online. Ganz zu schweigen von wissenschaftlichen Zeitschriften, die vielfach ins Internet abgewandert sind. Und das Buch? Manche seiner Gattungen sind anachronistisch geworden. Wer von uns benutzt noch das gute alte Konversationslexikon, dessen Artikel so bald veralten und in dem man oft gerade das nicht findet, was man braucht.

Da wendet man sich doch lieber an Wikipedia oder recherchiert und "zappt" im Internet, um den aktuellen Stand des Wissens zur Verfügung zu haben.

Auch das E-Book macht zunehmend dem gedruckten Buch das Überleben schwer. Wir werden ja immer mobiler und aushäusiger, reisen mehr denn je, können und wollen nicht ewig eine Bibliothek mitschleppen, die unser Gepäck belastet.

Seit der Erfindung des Buchdrucks hat es das Buch noch nie so schwer gehabt. Anderseits sind noch nie so viele Lobgesänge auf das Bücherlesen angestimmt worden wie heute, da es so bedroht ist, sehen die Kulturpessimisten mit seinem Verschwinden doch geradezu den Untergang des Abendlandes auf uns zukommen.

So positiv hat man zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und der Entstehung des Buchmarkts - als die Printmedien noch ohne Konkurrenz waren - nicht immer über jene gedacht. Die Opposition gegen das Lesen ist geradezu ein Leitmotiv des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: zersetze es doch die Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit des mündlichen Vortrags, von welcher zumal die Poesie in ihren großen Zeiten lebte, als es noch keinen Buchdruck gab.

So wird Goethe noch in der "Hegire" des West-östlichen Divan die orale Kultur der Patriarchenzeit preisen: "Wie das Wort so wichtig dort war, / Weil es ein gesprochen Wort war." Bezeichnenderweise hat man lange den vom Teufel geholten Faust mit einem Mainzer Buchdrucker der ersten Stunde, Johann Fust, dem Kompagnon und Geldgeber Johann Gutenbergs, verwechselt, den Teufelsbündner mit dem Drucker - "Schwarzkünstler" beide! Noch in Klingers Roman "Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt" (1791) feiern die Teufel bei einer höllischen Konferenz Faust als den Erfinder der Buchdruckerkunst, die Wasser auf die Mühlen Satans treibe. Von einer solchen Dämonisierung des Lesens sind wir heute weit entfernt. Der Teufel steckt für viele eher in der Digitalisierung. Doch lassen wir die Kirche im Dorf und den Teufel da, wohin er gehört. Ein neues Medium und eine neue Kulturtechnik, auf die wir alle nicht mehr verzichten können, gegen ein noch vor wenigen Jahrzehnten dominantes Medium auszuspielen, ist ebenso töricht wie das Auto über den Pferdewagen zu stellen. Dieser hat sich freilich überlebt, nicht aber das Buch, das sich in der Welt der Digitalisierung sehr wohl behaupten kann, ja technisch von ihm weit mehr profitiert als Schaden nimmt. Es kommt ganz darauf an, mit welcher Motivation man zum Buch oder zum Computer greift. Wem es um Information, um zügige Recherche geht, wem Lesen Mittel zum Zweck ist - und wem wäre es das nicht in Alltag und Beruf -, für den ist die Digitalisierung zur unbedingten Notwendigkeit geworden.

Doch es gibt auch ein Lesen um des Lesens willen, Lesen als Erschließen eines geistigen Kosmos, sei es eines philosophischen, wissenschaftlichen oder - und das vor allem - eines literarischen Sinnzusammenhangs, und dieses Lesen ist auf das Gedruckte angewiesen und wird es in unserer Kultur auf unabsehbare Zeit bleiben. Zu diesem Lesen gehört der sinnliche Kontakt mit dem Text von Optik und Struktur des Bucheinbands über das Papier bis zum Schriftbild, ja zum Geruch des Buchs. Ein Buch ist für den, der liest, um zu lesen, ein Freund, ja eine Geliebte oder ein Geliebter, die man anfassen können muss, die man ins Bett, aufs Sofa, in die Hängematte mitnimmt, mit denen man geistigen wie körperlichen Kontakt hat. Gedichte, Romane, Geisteswerke schlechthin lassen sich nur am Computer nicht im Vollsinn lesen. Oder wirklich zu Gemüte führen, wenn man sie nur als E-Book zu "laden" unternimmt. Durch sie wird man glänzend informiert, nicht aber geformt, nicht in ihre gestalthafte Ganzheit hineingezogen.

Wer davon nichts wissen will, einen Text nur als "fast food" konsumieren möchte, zudem lieber akustische und noch mehr optische Reize erwartet, statt sich mit Lesearbeit zu quälen, der verhält sich wie das Kind in dem einstmals berühmten Gedicht von Wilhelm Hey (1789-1854), das schon den eilbedürftigen, auf Oberflächenreize erpichten, konsum- und computerfixierten "Leser" von heute vorwegzunehmen scheint: "Komm her einmal, du liebes Buch; / Sie sagen immer, du bist so klug. / Mein Vater und Mutter, die wollen gerne, / Daß ich was Gutes von dir lerne; / Drum will ich dich halten an mein Ohr; / Nun sag mir all deine Sachen vor. // Was ist denn das für ein Eigensinn, / Und siehst du nicht, daß ich eilig bin? ... / Geh, garstiges Buch, du ärgerst mich, Dort in die Ecke werf' ich dich."

Dieter Borchmeyer

  • Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer, Jahrgang 1941, war von 1988 bis 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
  • Seit 2007 ist er Honorarprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Graz und hält weiterhin im Rahmen einer Stiftungsdozentur für Kulturtheorie (Manfred-Lautenschläger-Stiftung) Vorlesungen an der Universität Heidelberg.
  • Sein Hauptarbeitsfeld ist die deutsche Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. Er lehrte an Universitäten in Frankreich, Österreich und besonders in den USA.
  • 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl Vossler-Preis).
  • Von 2004 bis 2013 war Borchmeyer außerdem Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens-Musikstiftung.
  • Im März 2017 erscheint sein Lebenswerk beim Rowohlt Verlag Berlin: "Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst".

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