Halten Sie Computerspiele für Kunst, Herr Feige?

Dass ein Videospiel sinnlich erfahrbar ist, reicht nicht, um es zur Kunst zu erklären. Auch nicht, dass es Emotionen weckt, denn das tut ein Ehekrach auch. Warum die Spiele dennoch Kunstwerke sein können, erläutert Daniel Martin Feige in seinem Gastbei

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Daniel Martin Feige
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Mario, der Kult gewordene Installateur. Wer stand ihm nicht bei im Kampf gegen Hammerwerfer und explodierende Schildkröten, wer begleitete ihn nicht bei der Suche nach Goldmünzen und magischen Pilzen?

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Inzwischen gelten Computerspiele als unproblematischer Teil der Alltagskultur. In den 1980-er Jahren waren sie noch als exotisches Hobby technikaffiner wie vermeintlich sozial unterentwickelter Jugendlicher verschrien. In den späten 1990-er Jahren sollten sie dann anhand des eigens für diesen Zweck erfundenen polemischen Stichworts der "Killerspiele" sogar für eine gesamtgesellschaftliche Verrohung haftbar gemacht werden, die man diagnostizierte. Von solch kontroversen Diskussionen ist heute nicht mehr viel zu spüren; im Gegenteil: Der Vorsitzende des deutschen Kulturrats hat 2008 Videospiele in den Rang von Kulturprodukten erhoben; 2012 sind Videospiele und alte Konsolen in die Sammlung des Museum of Modern Arts (MOMA) im Bereich Architektur und Design aufgenommen worden; der jüngste Teil der Doom-Serie ist kürzlich in vielen Feuilletons ebenso unaufgeregt wie in weiten Teilen positiv besprochen worden.

Der relativ unproblematische Umgang mit Videospielen ist dabei nicht allein Ausdruck der Macht des Faktischen gemäß dem Motto, dass man sich mit der Dominanz von Videospielen abzufinden habe: Er hat einen rationalen Kern darin, dass das Videospiel in den letzten Jahren immer deutlicher als ästhetisches Medium verstanden wird. Pac-Man und Super Mario sind heute nicht allein ein ebenso sichtbarer Bestandteil der Alltagskultur wie die Ikonen der Popmusik der 1970er Jahre.

Nicht allein prägen Videospiele aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit die Alltagskultur. Vielmehr heißt ein Videospiel zu spielen immer auch, einen ästhetischen Gegenstand zu erfahren. Was meint die Redeweise von einem ästhetischen Gegenstand? Es meint, dass die meisten Videospiele ein bestimmtes Aussehen haben, dass sie fast alle einen bestimmten Klang haben, dass ihre Steuerung spezifische haptische Qualitäten aufweist, dass ihr Design im Spielen als stimmig erfahren werden kann. Solche Aspekte sind unverzichtbare Aspekte von Videospielen.

Zwei Bemerkungen zu der Redeweise von "Ästhetik": Erstens ist das Ästhetische nichts, was bloß mit dem Aussehen von Videospielen zu tun hätte. So wie ein mathematischer Beweis ästhetische Eigenschaften wie etwa Eleganz und Stimmigkeit aufweisen kann, so kann das Gamedesign ästhetisch darin sein, dass es schlüssig, stimmig und elegant ist. Das Ästhetische ist weiter als der Bereich dessen, was sich uns visuell darbietet - und sogar weiter als der Bereich dessen, den wir im herkömmlichen Sinne als den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung beschreiben würden; so wenig man die Eleganz des Gamedesigns sehen kann, so wenig kann man zumeist die Originalität eines Videospiels im Sinne einer bestimmten ästhetisch relevanten Qualität sehen.

Zweitens ist es so, dass sich die ästhetischen Eigenarten von Videospielen uns im Regelfall nur dann offenbaren, wenn wir es selbst spielen beziehungsweise selbst gespielt haben. Schließlich macht es auch einen Unterschied, ob man eine musikalische Aufführung selbst gehört hat oder bloß von ihr berichtet bekam. Zu sagen, dass ein Videospiel ästhetisch zu verstehen immer auch heißt, es zu spielen, ist nicht so gemeint, dass man nicht viele der ästhetischen Eigenarten von Videospielen auch beim Zusehen des Spielens anderer entdecken kann. Man muss aber dann grundsätzlich mit der Praxis des Spielens vertraut sein und auch mit der Art von Spiel, die der jeweils andere spielt. Um aber einige Qualitäten wie etwa die Flüssigkeit der Steuerung beurteilen zu können, kommt man jedoch kaum darum herum, selbst einmal zum Controller zu greifen.

Kaum jemand würde heute noch bestreiten, dass Computerspiele im eben skizzierten Sinne zumindest immer auch ästhetische Gegenstände sind. In einer anderen Frage herrscht aber nach wie vor Uneinigkeit - in Kreisen von Forschenden wie Spielenden: In der Frage, ob Videospiele Kunst sind. Dass sie ästhetische Gegenstände sind, reicht dafür nicht aus und erst recht nicht, dass sie sich uns sinnlich irgendwie darbieten und manchmal beim Spielen auch Emotionen auslösen.

Dass sie ästhetische Gegenstände sind, reicht deshalb nicht aus, weil auch ein ästhetisch ansprechender Tisch normalerweise kein Kunstwerk ist, so wenig wie die ästhetisch erfahrene Natur ein Kunstwerk ist; wer alle alltäglichen Artefakte wie sämtliche natürlichen Gegenstände der Kunst zuschlagen würde, würde den Sinn des Kunstbegriffs selbst verabschieden: Ist alles Kunst, ist nichts mehr Kunst.

Dass sie sich unseren Sinnen irgendwie darbieten, reicht deshalb nicht aus, weil es keine notwendige Bedingung für Kunstwerke ist, dass sie sich unseren Sinnen darbieten, wie spätestens seit Duchamps Ready-mades deutlich geworden ist. Ready-mades sind keine vom Künstler geschaffenen, sondern von ihm ohne jedes ästhetische Vorurteil ausgesuchte Alltagsobjekte.

Zudem ist das sinnliche Vernehmen solcher Kunstwerke, für die ein solches unverzichtbar ist, immer ein verständiges Vernehmen: Wir fahren in der Wahrnehmung - sei es beim Betrachten eines Gemäldes oder beim Hören eines musikalischen Werks - den Konturen des Werks nach, so dass die sinnliche Selbstpräsentation von Kunstwerken eine ganz eigentümliche Art von Selbstpräsentation ist, verglichen mit anderen Arten von Gegenständen, die sich uns sinnlich zeigen.

Dass wir manchmal beim Spielen von Videospielen Emotionen haben - Wut, weil wir verloren haben, Trauer, weil der Protagonist eines Abenteuerspiels einen Schicksalsschlag erlitten hat, Freude, weil das Spielgefühl gut ist - hat ebenfalls mit Kunst noch nichts zu tun; auch beim Ehekrach und beim Streit unter Nachbarn kommen Emotionen auf, aber keiner kommt auf die Idee, den Ehekrach oder den Streit deshalb als Kunstwerk zu behandeln.

Die Community der Spielenden von Videospielen ist oftmals vorschnell darin, Videospielen den Kunststatus zuzuerkennen; nur weil sie mit ihnen entsprechende wertschätzende Erfahrungen machen, heißt das noch nicht, dass es sich bei Videospielen um Kunstwerke handelt. Ebenso wenig lässt sich der Kunstcharakter von Videospielen dadurch ausweisen, dass man auf Ähnlichkeiten zwischen dem Aussehen von Videospielen und dem Aussehen von Werken der bildenden Kunst verweist: Der jüngst verstorbene Philosoph Hilary Putnam hat zu Recht darauf hingewiesen, dass alles allem anderen in unendlich vielen Hinsichten ähnelt. Das Feststellen von Ähnlichkeiten sagt mehr über denjenigen aus, der sie feststellt, als über den Gegenstand.

Sind Videospiele also keine Kunst? Nicht, wenn man damit meint, dass Videospiele per se Kunst sind. Wenn wir vom Film als Kunstform oder von der Musik als Kunstform sprechen, so meinen wir damit nicht, dass alle Filme und alle Musik Kunst sei. Vielmehr sind das nur einige. So muss auch die Redeweise von Videospielen als Kunst verstanden werden: Wenn es so ist, dass Videospiele Kunst sein können, so sind es niemals alle, sondern nur einige.

Was aber könnte es heißen, dass einzelne Videospiele Kunstwerke sein können? Der vor einigen Jahren verstorbene Filmkritiker Roger Ebert hat in Spielerkreisen mit der Aussage für Unmut gesorgt, dass Videospiele niemals Kunst sein können, weil man sie, anders als Gemälde und Filme, gewinnen oder verlieren kann. Zumindest als negative Bedingung für ein Verständnis von Videospielen als Kunst trifft diese Bemerkung einen wichtigen Punkt: Videospiele treten potenziell in das Reich der Kunst ein, wenn sie sich selbst als Spiele thematisieren -und wir uns dadurch durch das Spielen der Spiele selbst thematisieren.

In der Erfahrung von Kunstwerken um ihrer selbst willen sagen diese uns etwas über uns vermittels ihrer Formen und Verfahrensweisen. Präsentieren uns Kunstwerke etwas, so präsentieren sie sich als Kunstwerke selbst - und indem wir diese Selbstpräsentation im Sinne ihrer Verfahren und Formen nachvollziehen, präsentieren sie immer auch etwas über uns. Entsprechend ist der Gedanke verständlich, dass einzelne Videospiele Kunst sein könnten, wohingegen der Gedanke nicht verständlich ist, dass das bei allen Videospielen tatsächlich der Fall wäre.

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