Ein Merkmal, das Menschen immer wieder in Schubladen einordnet, wie etwa die Hautfarbe oder Herkunft, sind auch die Sprachen, die von ihnen gesprochen werden. Dabei existiert in Deutschland eine Hierarchisierung der Sprachen. Es gibt die guten und die falschen Sprachen – genauso wie es Migranten und Expats gibt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu verstand unter „Habitus“ ein soziales Verhaltensmuster, das, durch Sozialisation erworben, den spezifischen Lebensstil von Individuen und sozialen Gruppen strukturiert. Mehr noch, der Habitus prägt und definiert diese sogar. Fremdsprachen gehören ganz klar zum Habitus bestimmter sozialer Gruppen. Das taten sie schon immer – seien es die Französischkenntnisse der russischen Adligen oder das Latein und Altgriechisch der deutschen Bildungsbürger.
Heute werden sehr gute Englischkenntnisse häufig mit Bildung, hohem sozialen Prestige und Weltläufigkeit in Verbindung gebracht. Dasselbe gilt auch für andere europäische Sprachen, genauer, für die indogermanischen und die romanischen Sprachfamilien, wobei es auch innerhalb dieser Familien deutliche Abstufungen gibt. Das höchste Ansehen genießen die Prestigesprachen Englisch und Französisch, das niedrigste vermutlich Arabisch und Türkisch. Der Mehrheitssprache Deutsch wird in Deutschland natürlich generell ein höherer Wert zugesprochen als den sogenannten heritage languages (dt. Herkunftssprachen), also Sprachen, die die Menschen mit Migrationsgeschichte mitbringen. Die Wertschätzung bestimmter Sprachen in Abgrenzung zu anderen wird zur gesellschaftlichen Norm. Zu Normen müssen sich allerdings alle irgendwie verhalten. Normen prägen uns, unsere Beziehungen zur Umwelt und auch unser Selbstverständnis.
Diskussionen um die Mehrsprachigkeit
Hierzulande flammen immer wieder politische Diskussionen um die Mehrsprachigkeit auf, und fast immer werden dabei multilinguale Kinder, die eine außereuropäische Sprache sprechen, an den Pranger gestellt. Manchmal geht es um den vermeintlichen Mangel an Integrationswillen und manchmal um das Vorurteil, die Kinder, die solche Sprachen beherrschten, würden nicht richtig Deutsch sprechen: 2018 brachte die „Bild“-Zeitung eine bezeichnende Schlagzeile: „Berliner Rektorin klagt: Nur 1 von 103 Kindern spricht zu Hause deutsch“. Die Frau, die eine Neuköllner Grundschule leitete, behauptete zudem: „Wir sind arabisiert.“ Sie selber sprach kein Arabisch, nicht mal einen arabischen Dialekt – und wäre dies nicht die Mindestanforderung an eine Arabisierung?
Meine Tochter ist übrigens solch ein Kind, das zu Hause kaum Deutsch spricht, wohnhaft im selben Berliner Bezirk. Der CDU-Politiker Carsten Linnemann, ein Mann, der als Stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag und Vorsitzender der Wirtschaftsunion über einigen Einfluss verfügt, sorgte im Sommer 2019 für heftige Diskussionen, als er gegenüber einer Zeitung sagte : „Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.“ Außerdem äußerte er die Befürchtung, es könnten sich neue „Parallelgesellschaften“ herausbilden.
Man kann getrost davon ausgehen, dass Linnemann dabei keine gated community (ein in sich geschlossener Komplex mit verschiedenen Zugangsbeschränkungen) von Englisch sprechenden Kindern im Sinn hatte und dass seine Kritik nicht den zahlreichen privaten bilingualen Schulen galt, die sich in fast allen Großstädten gerade vor Bewerbungen kaum retten können. Stattdessen beschwor er das gängige rechtspopulistische Narrativ der „Parallelgesellschaften“, leider ohne gleichzeitig von Förderung zu sprechen.
Abwertung der Herkunftssprache
In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 26. Juli 2020 veröffentlichte schließlich auch der Journalist Rüdiger Soldt einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Deutschpflicht“. Darin geht es um eine Schülerin, die gegen die Auflage ihrer Schule, auf dem Schulhof Deutsch zu sprechen, verstoßen hatte und daraufhin eine Strafarbeit bekam. Die Eltern sahen darin eine Diskriminierung ihrer Tochter, der Autor aber schlussfolgerte, dass „ein babylonisches Sprachengewirr (…) Missgunst und Misstrauen“ hervorbrächte. Ich lehne mich so weit aus dem Fenster zu behaupten, dass der Artikel nicht geschrieben worden wäre, hätte die Schülerin Französisch gesprochen. Türkisch dagegen wird diskreditiert, wenn auch vielleicht nicht bewusst. Dennoch findet hier eine Abwertung der Herkunftssprache statt – und das auch noch in einem privaten Moment, nämlich beim Spielen und Sprechen während einer Unterrichtspause.
Was all die genannten Beispiele gemeinsam haben, ist die Kränkung und Herabwürdigung ganzer Gruppen. Es ist eine Kränkung, die sich so leicht nicht vergessen lässt. Das Perfide ist tatsächlich, dass es sich um Kinder handelt, die in ihrer Andersartigkeit ausgegrenzt und gedemütigt werden. In Deutschland sind öffentliche Schulen auf eine homogene Schülerschaft angelegt. Andersartigkeit wird als eine Störung wahrgenommen. Zugleich lässt sich vor allem in urbanen Ballungszentren eine außerordentlich hohe Nachfrage nach bilingualen Schulen und Kindergärten beobachten. Nur eben nach bestimmten Sprachkombinationen.
Während in Berlin sogar schon einige trilinguale Kindergärten existieren, sind die Schulen noch ein wenig zögerlicher, allerdings gibt es sehr viele bilinguale Schulen. Viele von ihnen sind Privatschulen und können locker bei einem mittleren Einkommen bis zu 10 000 Euro pro Kind und Schuljahr kosten. Wohnt man zur Miete und hat dieses „mittlere“ Einkommen, ist es diese Summe dennoch unbezahlbar. Trotzdem können selbst diese Schulen bei Weitem nicht alle Bewerber aufnehmen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele dieser Schulen sich vor allem in den eher wohlhabenderen Gegenden angesiedelt sind. In Frankfurt am Main sind die Schulgebühren übrigens noch höher und in Mannheim gibt es die „Metropolitan International School“, die ebenfalls bilingualen Unterricht in Deutsch und Englisch anbietet und zudem auch Französisch, Spanisch und Arabisch als zusätzliche Sprachen. Die Schulgebühren halten auch hier die ärmeren Bewerber auf Abstand.
Bilinguale Schulen
Zusätzlich gibt es einige staatliche bilingualen Schulen, aber bei Weitem nicht genug, wenn man bedenkt, dass Mannheim eine der diversesten Städte Deutschlands ist und viele Eltern sicherlich ihren Kindern eine bilinguale Schulbildung ermöglichen möchten. Nur, weshalb wird in diese Kinder nicht investiert? Immerhin hat die Stadt Mannheim sich auf die Fahnen geschrieben, den Umgang mit der Mehrsprachigkeit zu einem besonderen Augenmerk zu machen.
Offenkundig gelten bestimmte Sprachen als extrem erstrebenswert und andere als Gefahr. Das hat natürlich nichts mit den Sprachen selbst zu tun, dafür aber sehr viel mit unserer Gesellschaft. Wo liegt aber der Unterschied? Nun, die einen Kinder sind arm, die anderen mindestens wohlhabend.
Es sind die vermögenden Familien, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken und die Schulgebühren voller Stolz entrichten. Das gilt nicht nur für die bilingualen Schulen, sondern auch für die Musik- und Ballettschulen.
Die soziale Herkunft ist in Deutschland noch immer der Faktor, der am meisten über den Bildungserfolg entscheidet. Problematisch sind im Übrigen nicht nur mangelnde Deutschkenntnisse, schwierig ist es auch für die Schüler, die zwar selbstverständlich Deutsch sprechen, zu Hause aber nicht beigebracht bekommen, wie man das bildungssprachliche Register beherrscht.
Diejenigen, die nicht die Erwartungen der Schule und der Universität erfüllen, scheiden meistens aus. Das kulturelle Kapital, zu welchem die Fremdsprachen selbstverständlich gehören, wird nicht verteilt, sondern dazu benutzt, die bestehenden Machtverhältnisse und Privilegien zu erhalten, und es scheint fast so, als ob es kein Interesse gebe, daran irgendetwas zu ändern. Dabei hat spätestens die Corona-Pandemie gezeigt, dass Geld im Staatshaus durchaus vorhanden ist und dass man sehr wohl den Willen und die Kraft aufbringen kann, Entscheidungen zu fällen. Bild: Valeria Mittelsmann
Der Gastautor
Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Heute lebt sie in Berlin und hat bislang vier Romane veröffentlicht.
Für ihr Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Der verlorene Sohn“ (2020).
Sie ist Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland und des Goethe-Instituts.
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