Warum neigen wir Menschen dazu, nach außen etwas vorzuleben, was eigentlich nicht so ist – und was hält uns davon ab, die Wahrheit zu sagen? Diese Frage beschäftigt mich besonders seit der Geburt unserer Kinder. Gerade weil auch ich mich selbst dabei ertappe, dass ich manchmal nicht die Wahrheit sage – dabei meist ohne aktiv zu lügen, sondern durch schlichtes Weglassen von Fakten oder durch Erzählungen mit größerem Interpretationsspielraum. Und das, obwohl ich meinen Kindern mit auf den Wege gebe, wie wichtig es ist, bei der Wahrheit zu bleiben.
Umso erstaunlicher, dass wir Eltern trotzdem nicht ehrlich sind – und zwar insbesondere, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, oder darum, wie wir gesehen werden wollen, nämlich als Eltern, denen es gelingt, immer und zu jeder Zeit alles im Griff zu haben. Warum machen wir das? Haben wir, die täglich den Spagat schaffen, eine Familie zu ernähren, sich um die Kinder zu kümmern und einen guten Job zu machen – die also wertvolle Beiträge für die Gesellschaft leisten – das wirklich nötig? Scheinbar schon.
Weil wir Arbeitgebern und Chefs beweisen wollen, dass wir trotz unseres Elternsein und möglicherweise trotz Teilzeit einen super Job machen. Die Anerkennung für den doppelten Job (zu Hause und bei der Arbeit) fehlt häufig. Hinzu kommt das in Deutschland leider immer noch verbreitete Phänomen der „Rabenmutter“, die Kinder in die Welt setzt und zudem noch arbeitet. Nicht immer, um sich selbst zu verwirklichen, sondern schlicht um die Familie (mit) zu ernähren oder um nicht selbst später in Altersarmut leben zum müssen.
Die Motive und das Geschlecht spielen keine Rolle: beweisen, dass es geht, müssen scheinbar alle berufstätigen Eltern. Wer erzählt seinem Umfeld, dass eben nicht alles so einfach zu wuppen ist, wie es scheint? Wer erzählt, dass die Nacht mit schreiendem Kind viel zu kurz war, um mit klarem Kopf bei der Arbeit zu sein? Wenige, meist aus Angst, nicht als leistungsfähig akzeptiert zu werden. Oder weil es Eltern bei manchen Arbeitgebern ohnehin schwerer haben und schon per se in die Schublade „weniger flexibel“ und „weniger belastbar“ gesteckt werden? Oder weil Eltern sich für ihr Elternsein vor dem Chef rechtfertigen müssen und auf ihre neu erworbenen Kompetenzen als Eltern aufmerksam machen müssen? Alles in allem ein Kraftaufwand, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Doch diese Kraft fehlt woanders.
Meine Kollegin sagte kürzlich einen schönen Satz zu mir: „Wenn man neue Kompetenzen entwickelt, ist es doch nicht schlimm, dass von den alten welche wegfallen.“ Stimmt absolut; leider war ich mir dessen jahrelang nicht bewusst, denn auch ich war mit meiner Lüge „geht alles prima“ unterwegs. Ich brachte ganz einfach meine alten und meine neuen Kompetenzen ein. Wem habe ich etwas vorgemacht? Vor allem mir selbst. Danach meinem Team, Kollegen, Chef, Freunden, der Familie. Aus Angst, in Teilzeit weniger wert zu sein? Ein bisschen. Vielleicht hatte ich auch Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte. Hauptsächlich aber, weil ich selbst dachte, ich schaffe das alles locker und weil die „Rabenmutter“ natürlich nicht versagen darf. Heute weiß ich, hätten mir andere Kolleginnen und Kollegen nicht vorgegaukelt, wie einfach sie das alles schaffen, hätte ich es möglicherweise auch nicht von mir erwartet.
Dies könnte eine Erklärung sein, warum berufstätige Eltern lügen. Aber warum tun das auch diejenigen, die keine Doppelbelastung von Familie und Beruf haben? Bestes Beispiel: „Mein Kind schläft schon die ganze Nacht durch.“ Ich möchte nicht wissen, wie viele frischgebackene Eltern dieser Satz schon an den Rand der Verzweiflung beziehungsweise der Selbstzweifel gebracht hat, weil scheinbar ausgerechnet ihr Kind nicht durchschläft.
Es gibt sicherlich Babys, die mit wenigen Wochen zehn Stunden am Stück schlafen. Aus unserem allerengsten Freundeskreis hat das jedoch kein Baby getan. Liegt es an den Freunden? Oder eher daran, dass sich wirklich enge Freunde dann doch mal die Wahrheit sagen, wie es um sie und ihren Schlafmangel bestellt ist. Ich bin sicher, dass Letzteres der Fall ist.
Warum sagen Eltern an dieser und anderen Stellen nicht die Wahrheit? Weil sie (noch) kinderlose Freunde und Kollegen nicht vom Kinderkriegen abhalten wollen? Weil sie nicht als „Looser“ oder „Jammerer“ dastehen wollen? Oder weil sich Eltern von heute nach der Theorie von Michael Winterhoff über ihre Kinder definieren? Der Erfolg und das Können der Kinder färbt in ihren Augen gleichzeitig auf sie selbst ab. Damit geht auch einher, dass viele Eltern es nicht mehr zulassen, dass ihre Kinder von anderen Erwachsenen – und seien es sogar Erzieher oder Lehrer – gerügt werden.
So habe ich seit meiner Kindheit auf dem Spielplatz keine Erwachsenen mehr erlebt, die fremde Kinder zurechtweisen. Dies war früher selbstverständlich und passte zu dem afrikanischen Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Machen Eltern sich also selbst etwas vor? Oder glauben sie, dass die Wahrheit keiner hören will? Letzteren Eindruck konnte ich jüngst im familiären Umfeld beobachten. Mein Mann und ich reden offen über Erziehungsthemen und darüber, was gut, aber auch weniger gut läuft, so auch bei unseren Freunden, die kürzlich Eltern geworden sind. Einfach um zu zeigen, dass es völlig normal ist, wenn nicht alles rund läuft. Nach einiger Zeit schirmte der Vater seine Frau jedoch förmlich ab, weil er befürchtete, diese würde verstärkt in Panik verfallen ob der Herausforderungen, die auf sie zukommen können. Das war sicher nicht unsere Intention und wir haben auch nicht übertrieben, sondern haben aus unserer Sicht sachlich Probleme beschrieben. In diesem Fall mag es an uns gelegen haben, doch kam bei mir die Frage auf: Ist die Wahrheit überhaupt gewünscht? Und wenn nicht, warum nicht?
In den letzten Jahren sind einige Bücher erschienen, die Eltern auf witzige Art erklären, dass es normal ist, wenn der Alltag mit Kindern nicht immer rund läuft und über lustige Alltagspannen berichten. Die Bücher sind einfach zu lesen und sollen Eltern helfen, gelassener zu sein und auch mal über sich selbst zu lachen. Grundsätzlich eine schöne Idee; mehr Gelassenheit könnte ich sicherlich an vielen Tagen auch gebrauchen. Leider führt dieser witzige Umgang nicht zu mehr Wahrheit beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Vor einigen Jahren war ich bei einem Vortrag für berufstätige Mütter. Sehr erfolgreiche, gestandene Frauen und Mütter berichteten als „role models“ (zu dt.: Vorbilder), wie sie Kind und Karriere unter einen Hut bringen. Im Saal war es geradezu ehrfürchtig still und wenn Geräusche zu hören waren, dann nur neidvolles Raunen; „wow, wie die das schaffen.“ Das Raunen hielt so lange, bis eine der Mütter erzählte, dass sie eine rundum Kinderbetreuung habe, die 3000 Euro im Monat koste und ihre Kinder oftmals weder morgens noch abends sehe und dass sie diese Tatsache manchmal traurig mache. Damals dachte ich spitz: „Aha, also doch nicht so perfekt.“ Heute denke ich: „Wow, das war ehrlich.“ Ein anderes Beispiel ist die Geschichte der ersten Frau im Vorstand eines Konzerns und gleichzeitig Mutter eines Sohnes. Sie wurde als „role model“ gepriesen. Sie hat niemals jemandem erzählt, wie sie den Spagat zwischen einem 70-Stunden-Job und der Familie schafft. Irgendwann las ich einen Artikel über ihren Mann, der seine erfolgreiche Anwaltskarriere für zehn Jahre unterbrochen hatte, um sich um den gemeinsamen Sohn zu kümmern. Warum hat sie nie erzählt, welche Unterstützung sie durch ihren Mann erfahren hat? Und umgekehrt: Warum fragt niemand männliche Vorstände, wer sich bei einem derartigen Job eigentlich um ihre Kinder kümmert? Und warum erzählen sie selbst nicht von der Unterstützung ihrer Ehefrauen?
Sicher sind die Erfahrungen der eigenen Eltern hilfreich, aber nicht ausreichend, weil sich unsere Gesellschaft und die Anforderungen an die Eltern von heute geändert haben. Wäre es nicht viel sinnvoller für unsere Gesellschaft, wenn wir uns nicht untereinander etwas vormachen würden und nicht zeigen wollen würden, wer angeblich höher, weiter und noch perfekter schneller rennen kann? Wäre es nicht sinnvoller, mit anderen Menschen wahre Geschichten zu teilen und ihnen Mut zu machen, dass Fehler erlaubt sind und keinen Untergang bedeuten. Zu erzählen, wie man aus Fehlern gelernt hat und wie man mit belastenden Situationen umgegangen ist. Zu reflektieren, was man rückblickend anders gemacht hätte.
Dies ist für unsere Gesellschaft, in der keine Fehlerkultur herrscht und in der von Kind an bestraft wird, wenn man einen Fehler macht, sicherlich eine große Herausforderung. Vielleicht bräuchten wir weniger Psychologen und Therapeuten, wenn Menschen wieder offener und ehrlicher miteinander kommunizieren.
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Nadja Alber
- Nadja Alber ist Diplom-Wirtschaftsjuristin, Design Thinkerin und Expertin für Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
- Als Leiterin des Bereichs „Family&Career“ hat sie den Ausbau sämtlicher familienfreundlicher Strukturen bei der SAP Walldorf geprägt.
- Seit Anfang 2017 ist sie Inhaberin von „elvisory“ in Karlsruhe, wo sie sowohl Unternehmen als auch Eltern berät.
- Sie ist Mutter eines Sohns und einer Tochter.
- Nadja Alber nimmt gern persönlich Anregungen zum Thema Vereinbarkeit entgegen, via E-Mail unter nadja.alber@elvisory.de
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