Empathie, die Fähigkeit, sich hinein fühlen zu können, sich hinein denken zu können: in Befindlichkeiten der eigenen Person, in die Lage Anderer und in Sachverhalte einfacher oder komplexer Art, scheint zum vordringlichen Thema unserer Zeit zu werden. Haben wir zu viel davon, ist die Gefahr groß, schnell zum naiven Weltverbesserer zu mutieren. Haben wir zu wenig davon, gehen wir das Risiko ein, dass sich die Menschheit selbst ausrottet.
Es gibt aber, wie immer im Leben, eine dritte Möglichkeit: empathische Balance! Ein ausgewogenes Empathievermögen könnte uns in die Lage versetzen, Aspekten des persönlichen und sozialen Wohlbefindens, des solidarischen und menschenwürdigen Zusammenlebens in alltäglichen wie weltpolitischen Zusammenhängen einen kompromissfähigen Stellenwert einzuräumen, ohne zugleich einer Harmonisierungs- und Mitgefühlsideologie zum Opfer zu fallen.
Mit anderen Worten: Wenn wir Probleme menschlich bewältigen wollen, könnte ein Lösungsansatz sein, sich und anderen eine regelmäßige Behandlung mit dem Wirkstoff "Empathische Balance" zuzumuten.
Sie haben Zweifel? Mit Recht! Sie finden das lächerlich? Da könnten Sie im Unrecht sein! Deshalb gönnen Sie sich doch an dieser Stelle den Versuch und malen Sie sich aus, wie ein "Homo empathicus" uns mit seiner ausgewogenen Grundhaltung helfen könnte, Alltagsprobleme oder gegenwärtige Krisen menschenwürdig zu meistern.
Der Zeitpunkt, sich kurzzeitig und stellvertretend in einen "Homo empathicus" hineinzuversetzen, könnte, so paradox es klingen mag, nicht besser sein. Denn wir sehen uns derzeit mit zwei extremen Strömungen konfrontiert, die einer konstruktiven Überwindung bedürfen.
So macht uns der Schriftsteller und Psychoanalytiker Arno Gruen darauf aufmerksam, dass wir, bedingt durch eine hochbeschleunigte Welt, als Menschen unfähig sind, lebendig, mitfühlend und empathisch die Wirklichkeit wahrzunehmen. Von Hass, Exzessen, Gewalt, Digitalwahn und Profitgier beherrscht, von wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Errungenschaften, religiösem Fanatismus und machtbesessener Politik beeinflusst, werden das sensible Empfinden und einfühlsame Verstehen für die Wirklichkeit, werden das Mitgefühl für sich selbst und für andere Menschen durch ein unnatürliches, nicht mehr menschliches Bewusstsein abgewertet und unterdrückt. So gesehen, haben wir zu wenig Empathie, was den Missbrauch des Menschen durch den Menschen begünstigt.
Demgegenüber verweisen die "Zeit"-Journalisten Niels Boeing und Sandra Winzer (unter Berufung auf den Evolutionsforscher Frans de Waal) auf das Phänomen, dass, ausgelöst durch die Flüchtlingswelle, eine Woge an großer Empathiebereitschaft in der Luft liegt - in Europa, aber vor allem in Deutschland. Die Autoren fragen sich, ob das empathische Engagement nur eine Modeerscheinung ist oder ob sich hier eine tiefergreifende Veränderung der Gesellschaft ankündigt.
Denn die Einfühlsamkeit, mit der die vielen Ehrenamtlichen in Vereinen, Verbänden, Kirchen und Hilfsorganisationen in Deutschland versuchen, den Ankommenden ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist erstaunlich. Erstaunlich deshalb, weil die Hilfsbereitschaft trotz der sexuellen Übergriffe von einzelnen Flüchtlingen und Asylbewerbern bei einer Vielzahl von Menschen weiterhin unverdrossen anhält.
"Empathie ist in", Rücksichtslosigkeit und Intoleranz sind out, könnte man in Anlehnung an de Waal formulieren. Dieser Prämisse fühlen sich viele Menschen verpflichtet: Sie handeln aus Überzeugung, lassen sich nicht beirren.
Es fällt deshalb schwer, sich selbst und der Politik zuzugestehen, dass die Betroffenheit mit Einzelschicksalen weder dem Flüchtling noch dem aufnehmenden Land nützt. Als unmoralisch gilt, die Ankommenden als eine Zahl zu betrachten, die verwaltet, reguliert, kontrolliert, ja "diszipliniert" werden muss.
Dieses Beispiel zeigt: Es gibt durchaus Situationen, in denen es darauf ankommt, Empathie für eine bestimmte Zeit zurückzustellen, um als Bürger sozial handlungsfähig und als Gesellschaft rechtsstaatsfähig zu bleiben. So gesehen, haben wir zu viel Empathie, was situativ angemessene Abstimmungsprozesse zwischen Menschen, Menschengruppen und Staaten erschwert, blockiert oder verhindert.
Im Klartext: Weder ein Untermaß noch ein Übermaß an Empathie ist hilfreich, damit Gesellschaften Entscheidungen im Einklang von Humanität und Sachlichkeit treffen können. Vielmehr könnte ein Bewusstsein für empathische Balance uns helfen, trotz schwieriger Zeiten, den Weg des Umgangs mit der eigenen Person, mit Anderen, mit sachbezogenen Anreizstrukturen einfacher oder komplexer Art vorteilhafter zu gestalten.
Das Konzept der empathischen Balance ist auch für die Empathieforschung keine Selbstverständlichkeit gewesen. In vielen Empathietheorien wurde die Bedeutsamkeit des empathischen Menschen überstrapaziert: Der empathische Mensch sei der bessere Mensch, der nicht-empathische Mensch der schlechtere Mensch.
Inzwischen orientiert sich die Empathieforschung an einem pragmatischen Verständnis. Gegenüber jenem extremen Empathieverständnis wird es aus praktischen Gründen als gewinnbringend für jegliche Problembewältigung erachtet, wenn die verschiedenen Perspektiven zusammenwirkend interagieren und dadurch für ein ausbalanciertes Maß an empathischer Intervention sorgen. Unabhängig davon, ob es sich um individuelle oder soziale, private oder berufliche, lokale, regionale, nationale oder internationale Problemkontexte handelt.
Empathische Balance wird hierfür als notwendige Voraussetzung erachtet; sie basiert auf der Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung (erkennen wollen), zum gemeinsamen Dialog (verstehen wollen) und zum verantwortungsvollen Handeln (lösen wollen).
Perspektivisch interpretiert: Wenn uns etwas plagt oder umtreibt, hilft uns die empathische Balance im Sinne der "Selbst-Empathie", nicht nur unsere Schwachstellen, sondern auch unsere Stärken zu sehen und persönliche Fehler zu verzeihen, ohne in Selbstmitleid zu verfallen.
Wenn wir mit Ansichten von anderen konfrontiert werden, hilft uns die empathische Balance im Sinne der "Sozial-Empathie", sich nicht in jeden voraussetzungslos einzufühlen und jede beliebige Meinung als gleichberechtigt anzuerkennen. Stattdessen gibt sie uns auch den Mut, fremde Sichtweisen zu prüfen und kritisch zu hinterfragen.
Wenn wir Gegenstände, wie beispielsweise das Auto, für unsere Zwecke nutzen, dann hilft uns die empathische Balance im Sinne der "Objekt-Empathie", sowohl die positiven Anreizstrukturen (Spaß, Mobilität) als auch die negativen Anreizstrukturen (Stau, Umweltbelastung) wahrzunehmen und zu bedenken.
Wenn es um die Bewältigung einer komplexen Thematik, wie der Flüchtlingskrise geht, dann hilft uns die empathische Balance, dumpfe Stammtischparolen oder wahltaktisch motivierte Politikversprechen hinsichtlich ihres verkürzten Lösungspotenzials zu entlarven. Uns eröffnet sich dadurch die Chance, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenhänge nicht nur aus der nationalen Innensicht, sondern auch aus der internationalen Außensicht zu reflektieren.
Der Wirkstoff "empathische Balance" zum Aufbau und zur Stärkung eines mitfühlenden Bewusstseins wirkt nicht sofort, sondern muss regelmäßig verabreicht werden. Anders ausgedrückt: Empathie ist kein Heilsversprechen von naiven Weltverbesserern, sondern eine dem Menschen angeborene Fähigkeit, die ständig aktiviert werden muss, um nicht zu verkümmern.
Jüngsten Ergebnissen der evolutionsbiologischen und neurobiologischen Empathieforschung zufolge, kann der Mensch für sich nicht allein überleben: Er ist auf Kooperation angewiesen. Spiegelneuronen sind der Beleg dafür, dass der Mensch als soziales Wesen der Mitmenschlichkeit bedarf. Sie ermöglichen es, dass wir durch Beobachtung menschliche Gefühlsbewegungen aufeinander abstimmen können. Optimistisch stimmt: Jeder von uns kann sein Potenzial weiter ausbauen.
Die Entwicklungsaufgabe einer empathischen Balance ist voraussetzungsvoll und mutet dem "Homo empathicus" einiges zu: Emotionale Nähe, ohne reflektierte Distanz aufzugeben; Sachlichkeit, ohne Betroffenheit zu unterdrücken; Verständnis, ohne gedankenlos mit allem einverstanden zu sein; Toleranz, ohne Verzicht auf Verpflichtungen und Grenzsetzungen; Solidarität, ohne Selbstaufopferung; Friedfertigkeit, ohne die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Härte zu verleugnen.
Empathische Balance gründet weder auf einem unreflektierten Mitleidsgefühl oder auf einem bauchgesteuerten Harmonisierungsverlangen. Empathische Balance heißt, Kopf, Herz und Hand zu kultivieren, so dass Rationalität und Emotionalität in alltäglichen wie weltpolitischen Problemlagen förderlich zusammenwirken.
Ein ausgewogenes Maß an "Empathie ist der Rohstoff, den die Welt noch dringender braucht als Öl", so de Waal. Empathische Balance gehört nach Auffassung des Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Burghard Gassner zur "Existenzsicherung für den einzelnen Menschen und für kulturelle Gruppen". Eine Vernachlässigung gefährdet den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Das empathische Bewusstsein eines "Homo empathicus" als Lösungsoption für ein menschenwürdiges Zusammenleben ist "eine" Chance des Menschen für die Menschen. Die verschiedenen Empathieperspektiven repräsentieren die Schranke zur Unmenschlichkeit, ihr synergetisches Potenzial bildet den Kern unseres Menschseins. Wenn wir uns im alltäglichen wie im weltpolitischen Leben kein empathisches Bewusstsein zumuten wollen, verhindern wir es selbst, uns als Menschen in Sprache und Umgang mitmenschlich zu begegnen.
Wie sehen Ihre Vorstellungen von einem "Homo empathicus" aus? Brauchen, wollen Sie ihn? Bearbeitet von Stefan Proetel
Roland Ullmann
Roland Ullmann ist 1954 in Heidelberg geboren und in Schwetzingen aufgewachsen.
Nach Lehrtätigkeit an Grund- und Hauptschulen ist er seit Anfang der 90er Jahre Dozent in der Abteilung Sportpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. 2013 promovierte er zu "Empathie in der Sportlehrerausbildung".
Ullmann initiierte mit dem Jugendzentrum GoIn ein Kooperationsprojekt zwischen der Stadt Schwetzingen und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Er ist dort in der Projektleitung mitverantwortlich für eine empathische Partnerschaft zwischen der Jugendsozialarbeit und der Sportpädagogik. ls
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