Gastbeitrag

Haben wir alle Utopien verloren, Herr Kufeld?

Von 
Klaus Kufeld
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Mannheim. Noch nie in der Geschichte ging es uns so gut und lebten wir so lange im Frieden. Wie kann es also sein, dass die Depression zur schleichenden Volkskrankheit wird, ein Unbehagen in der Gesellschaft herrscht? Wir haben einen beispiellosen Utopieverlust zu beklagen. Doch woran liegt das? Scheitern wir vor dem Widerspruch zwischen Mangel und Überfluss oder haben wir nur das Hoffen verlernt?

Ausgerechnet mit der Verwirklichung einer der bedeutsamsten politischen Utopien, nämlich dem Fall der Berliner Mauer, stürzt die Konjunktur der Utopien radikal ab. Der Triumph der Freiheit läutet für Historiker Joachim Fest das nicht unwillkommene "Ende des utopischen Zeitalters" ein. Für andere, wie die liberale Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, ist der Sozialismus "entehrt" als "Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale" wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Wird also die Idee gleich mit zu Grabe getragen, tritt ein, wovor der Philosoph Jürgen Habermas warnt: "Wenn die utopischen Oasen austrocknen, dann breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus."

Über Nacht wird der Kapitalismus "alternativlos"; er hat seinen unangenehmen Konkurrenten los und die Märkte beginnen sich wie entfesselt auszutoben. Die Welt globalisiert, das Internet organisiert. Es entsteht unglaublicher Reichtum in der Sphäre, die die Welt den "Westen" nennt. Der Reichtum verteilt sich aber nicht von selbst. Stattdessen entstehen Blasen, die 2008/2009 platzen und auch Europa in eine finanzpolitische Depression drücken. Und der internationale Terrorismus zerstört Weltkultur, bedroht Fußballspiele und greift die Freiheit an. Langsam ist es unbehaglich geworden in der Welt des Mangels und des Überflusses.

Der Verfall der Utopien geht auch auf Kosten der Orientierung. Schon Psychoanalytiker Sigmund Freud bemängelt Macht, Erfolg und Reichtum seien "falsche Maßstäbe" und die Unterschätzung der "wahren Werte des Lebens". Der Mensch ist mehr denn je durch die Zeit gehetzt und zum Leistungssubjekt degradiert. Der französische Soziologie Alain Ehrenberg kommt zum Befund vom "erschöpften Selbst", das in ein "Unbehagen in der Gesellschaft" münde, als braute es sich aus den gestressten Biographien der Depressionen und Burnouts regelrecht zusammen. In der Tat rechnet die Weltgesundheitsorganisation die Depression bis zum Jahr 2020 zur weltweit zweithäufigsten Krankheit hoch. Was Mediziner und Psychologen als Anpassungsstörung, Antriebslosigkeit oder Mangel an Selbstwertgefühl bezeichnen, bedeutet letztlich die gestörte Beziehung zur Gemeinschaft.

George Steiners "Wir haben keine Anfänge mehr" bringt das Aufkommen der Depressionen mit dem Niedergang der Hoffnung in Verbindung. Auf der einen Seite erstaunt das, denn Europa, Weltordnung und globale Verständigung bleiben ja die utopischen Projekte der Menschheit; auf der anderen Seite bringt der steigende Wohlstand offensichtlich nicht den glücklichen Menschen hervor. Ist der Utopieverlust etwa ein Problem unserer Freiheit?

Das Unbeherrschbare ist nämlich der Auswuchs der Freiheit. Sollen wir es so deuten, dass das vom Philosophen Nietzsche als Souverän ausgerufene Individuum heute vor den Freiheiten kapituliert, die ihm Technik und Wohlstand eingebracht haben? Der Philosoph Byung-Chul Han meint hier, dass Nietzsche in Wahrheit das ausgebeutete Leistungssubjekt vorwegnimmt und ihm Muße auferlegt. Genau dies kann der depressive und durch die Zeit gepeitschte Mensch nicht mehr beherzen. Er lässt sich von der Freiheit blenden, vom Wohlstand dopen. Er ist weder Narzisst, noch Egoist, sondern Massenindividuum, totalgesättigt, bestvernetzt - und zugleich der einsamste.

Das spätmoderne Leistungssubjekt ist nach Han zwar frei von der Repression von Herrschaft, dafür wendet sich die Gewalt depressiv nach innen. Um dem zu entkommen, hat die Gesellschaft sich den "therapeutischen Diskurs" erfunden, wie die Soziologin Eva Illouz konstatiert. Der "auf eine verwirrende Vielfalt sozialer und kultureller Schauplätze versprengt ist": die Fernsehtalkshows, das Internet, die Consultingfirmen, die Sozialfürsorge, die Selbsthilfegruppen. Das erschöpfte Selbst wird dadurch aber nicht stärker.

Der gute Verdienst, das beste Gesundheitssystem der Welt, das üppige Recht auf Urlaub, der weggeschaffte Müll, das reiche Kulturleben lassen uns - weltweit betrachtet - auf einer Insel der Glückseligkeit wähnen. So viele verwirklichte Utopien in Freiheit und Ordnung. So viele Privilegien? Aber genau dort sehe ich die Keime für die Depression: denn was wir Privileg nennen, ist die Errungenschaft unserer Eltern und Großeltern - und macht uns noch nicht glücklich. Schon Albert Camus wusste, dass die Freiheit in erster Linie nicht aus Privilegien besteht, sondern aus Pflichten. Privilegien zu genießen und Nutznießer zu sein, mündet schleichend in Trägheit.

So entsteht das Paradox der Wohlstandsdepression, das uns der Soziologe Jeremy Rifkin so erklärt: Erreicht der Mensch ein bestimmtes Einkommensniveau, beginnt sein Glück sich einzupendeln. Jeder weitere Zuwachs an Wohlstand führt zu abnehmenden Grenzerträgen hinsichtlich des Gesamtglücks, bis schließlich ein Punkt erreicht ist, ab dem der Betreffende wieder unglücklicher wird. Sind den Menschen inmitten des reichen, ungenügsamen Westens die Nebenwirkungen der von wirklichen Sorgen freien Wohlstandsgesellschaft nicht bekannt: Besitzstandswahrung statt Innovation, Neid statt Kooperation? Wenn sie nichts mehr wirklich anstreben wollen, was ist dann unsere Utopie?

Wirksam ist die Utopie nur als ein Kampfbegriff, denn nur der erkämpfte Fortschritt bedeutet Freiheit. Der Optimist kämpft für etwas - und sein Motiv ist nicht der Nutz, sondern das Unrecht. Deshalb spricht der Philosoph Ernst Bloch vom "Unrecht des Pessimismus" und der Pflicht, "scharf besorgt zu sein". "Scharf besorgt" sein können wir etwa wegen einer besonders hinterhältigen und pessimistischen Depression, wo dumpfe Angst herrscht. "Pegida drückt auf die Stimmung einer ganzen Stadt", sagte mir kürzlich der Schriftsteller Marcel Beyer, der in Dresden lebt. Eines ganzen Landes, möchte ich ergänzen, wie der Front National in Frankreich auch.

Diese Auswüchse stehen durchaus für die schweigende Mehrheit im Land, die nicht mehr wählen geht, dem Theater nichts abgewinnt, es sich in der Unkündbarkeit bequem macht. Wer gegen "das Fremde" antritt, um das "Abendland" schützen zu müssen, hält die Utopie für eine Belästigung. Es ist ein Skandal und zugleich Paradox, dass die Menschen dort in dem Wahn vor einer Bedrohung leben, wo überhaupt gar keine Bedrohung ist: eingenistet in Dresden, der Stadt mit der niedrigste Migrantenquote von allen Großstädten.

Dass wir unter Utopieverlust leiden, heißt nicht, dass wir heute hoffnungslose Zeiten durchleben - trotz 9/11, Islamischem Staat und Paris. Die an der Menschheit verursachten Lateralschäden wie Genozide, Atombombe oder zwei Weltkriege gehören nur nicht zur Erfahrungswelt der heutigen Generationen. Deren Druck ist die Bilderflut, das "gute Leben" hier und die Armut dort. Enthauptungen durch den IS können wir im Internet sehen, die Gaskammern waren in keinem einzigen Medium sichtbar.

Weil wir heute aber wissen, was wir sehen, können wir es als unsere Freiheit ansehen, gegen Unrecht anzukämpfen. Hier ist das Terrain der Utopie und deren orientierende Kraft. Und Hoffnung gibt es zuhauf: in der humanitären Seite der Willkommenskultur, in der Geste für eine Politik der Freundlichkeit. Die Aufnahme von Flüchtlingen zeigt uns der Welt als aufgeklärte Gesellschaft. Kommen die großen Bündnisse - wie heute gegen den IS - zwischen den Menschen nicht stets aus dem Unrecht, aus dem "scharfen Besorgtsein", mit dem Ziel einer Utopie? Ob Obama und Merkel wissen, dass sie dem "Prinzip Hoffnung" eine gute Ethik mitgegeben haben, eine Freiheit nämlich, die verpflichtet: Yes, we can, übersetzt: Ja, wir schaffen das. Zur Utopie schaffen wir es, wenn die Gebots- nicht in eine Verbotskultur umschlägt. Denn diese macht wieder nur depressiv, alle.

Klaus Kufeld

  • Klaus Kufeld ist 1951 im Rottal in Niederbayern geboren und dort aufgewachsen.
  • Er studierte in München und Regensburg Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft. 2009 promovierte er bei Julian Nida-Rümelin in München.
  • Kufeld gründete 1997 das Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen und ist seitdem als dessen Direktor und Geschäftsführer der Bloch-Stiftung tätig.
  • Er ist Dozent, Autor und Herausgeber von Schriften. Zuletzt erschien im vergangenen Jahr sein Buch "Das Singen der Schwäne. Über den Tod und das Glück" im Edition Splitter Verlag.
  • Kufeld hält am Donnerstag, 18. Februar, um 19 Uhr, im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen (Berliner Straße 23) einen Vortrag zum Thema "Gibt es Zukunft ohne Utopie?" im Rahmen der Ausstellung "Wie leben?" und aus Anlass von 500 Jahre "Utopia" von Thomas Morus. ls

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