Sehr bewusst habe ich vor einigen Jahren meiner Biografie den Titel "In Deutschland angekommen" gegeben. Ich habe keine Angst, in Deutschland zu leben. Denn Angst ist der schlechteste Ratgeber.
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine gute Heimat für jüdische Menschen. Wir erleben hier ein lebendiges und facettenreiches Judentum - nicht zuletzt dank der vielen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Entscheidung, hierher zu kommen, war eine Auszeichnung für Deutschland als sicherer Hafen für jüdische Menschen, vielleicht der beste Ort weltweit, um für sich und die Kinder die Zukunft zu gestalten. Ohne Wenn und Aber!? Nicht ganz. Vor dem Hintergrund des jüdischen Erfahrungshorizonts und angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Europa und der Bundesrepublik machen sich auch oder gerade in der deutschen jüdischen Gemeinschaft Sorgen breit.
Wir spüren deutlich, was auch Statistiken bestätigen: Verbale Anfeindungen und tätliche Übergriffe auf jüdische Menschen nehmen zu. Während die politische Elite entschieden reagiert, nehmen wir in der Bevölkerung antisemitische Einstellungen und Stimmungen unüberhörbar als salonfähig wahr. Und zwar nicht nur unter hier lebenden Muslimen, deren Verbände das Phänomen nicht nachhaltig bekämpfen, oder gar billigen. Man lässt zu, dass sich immer mehr muslimische Jugendliche radikalisieren - nicht nur den Judenhass betreffend, sondern in offener Konfrontation zu einer liberal-aufgeklärten Geisteshaltung.
Aber Antisemitismus muss(te) freilich nicht importiert werden. Er war nie weg. Nun wuchert er an den schmutzigen Rändern rechts und links sowie in der bürgerlichen Mitte. Immer öfter und gänzlich ungeniert in Form einer obsessiv-einseitigen und mit zweierlei Maß messenden Kritik an Israel. Längst ist die Tabuisierung tiefsitzender antisemitischer Ressentiments einer gewissen Gewöhnung an judenfeindliche Tiraden und Handlungen gewichen. Antijüdische Schmierereien und Schändungen, Zuschriften und Anrufe sind Alltag in Deutschland.
Antisemitismus hat viele Gesichter und muss entsprechend auf allen Ebenen der Gesellschaft und in den verschiedenen Milieus als Problem erkannt, benannt und bekämpft werden. Antisemitismus ist wie der Umgang mit und die Sicherheit von Minderheiten ein feiner Seismograph für den zivilisatorischen und demokratischen Zustand einer Gesellschaft - und der gibt Anlass zu höchster Wachsamkeit.
Als in München das neue jüdische Zentrum errichtet wurde, träumten wir davon, bald die Sicherheitsvorkehrungen abschaffen zu können. Doch schon die Grundsteinlegung wurde zum Anschlagsziel einer rechtsextremen Terrorzelle. In letzter Sekunde gelang es der Polizei, das Sprengstoffattentat zu verhindern - im Übrigen allein dank des Einsatzes von Ermittlungsmethoden, die nun den Sicherheitsbehörden verwehrt werden sollen. Angesichts der steigenden Bedrohung durch Terroristen ist das nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der damalige Rädelsführer, der Neonazi Martin Wiese, und seine Anhänger heute wieder federführend in der wachsenden und aggressiver auftretenden rechtsextremen Szene agieren können.
Neu ist, dass die Hetzparolen vom rechten Rand in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sind. Die von Neonazis unterwanderte und teilweise gesteuerte Pegida-Bewegung gebärdet sich offen rassistisch, völkisch-nationalistisch und in Teilen antisemitisch. Geschickt docken die Rechtsextremisten an die Verunsicherung, die Sorgen und den Frust vieler Bürger an, die sich im politischen Diskurs ungehört oder gar ausgegrenzt fühlen. In der Folge erhalten Rechtsextremisten und Rechtspopulisten ungeahnten Zulauf. Das belegen die ungeheuerlichen Wahlerfolge der AfD, die de facto den politischen Arm der Pegida-Bewegung verkörpert. Diese radikalen Tendenzen bedrohen unser freiheitlich-demokratisches Denken und unser Gemeinwesen im Kern. Ein Risiko, das nur ein selbstbewusstes Bürgertum auf politischer und gesellschaftlicher Ebene erfolgreich eliminieren kann - und muss.
Neben der Gefahr von rechts hat sich die Bedrohung durch islamistische Terroristen zur größten Gefährdung auch und gerade der jüdischen Gemeinschaft entwickelt. Die Attentate vor einer jüdischen Schule in Toulouse (2012), im jüdischen Museum in Brüssel (2014), in einem koscheren Supermarkt in Paris (2015) und vor der Kopenhagener Synagoge (2015) konfrontieren uns mit der traurigen Wahrheit: 70 Jahre nach dem Holocaust werden in Europa wieder Menschen aus einem Grund ermordet - weil sie Juden sind.
Fest steht jedoch auch: Der internationale islamistische Terrorismus bedroht uns alle in unserem modernen, freiheitlichen Lebensstil. Gerade die jüngsten Anschläge in Paris und Brüssel belegen das. Meist junge Menschen, die arglos auf dem Weg zur Arbeit waren oder für ein paar unbeschwerte, fröhliche Stunden einen Club oder ein Konzert besuchten, wurden aus ihren vielversprechenden Leben gerissen. Dieses erbarmungslose Morden zeugt vom wahnhaften Hass und der schrankenlosen Barbarei der Terroristen.
Er trifft nicht nur Europa, sondern richtet sich auch - zuletzt fast täglich - gegen die Menschen in Israel sowie die unzähligen Terroropfer in Afghanistan, Pakistan, Syrien, im Irak, in Kenia, Nigeria, Mali, Ägypten, der Türkei und vielerorts mehr. Die Zerstörungs- und Vernichtungswut der Islamisten zielt letztlich auf die Freiheit, die moderne, liberale Lebensweise und die Kultur des toleranten Miteinanders. Zweifellos steht die jüdische Gemeinschaft dabei besonders im Visier der Terroristen, und natürlich hat das Folgen für ihr Sicherheitsgefühl.
Schließlich hat auch die starke Zuwanderung von Flüchtlingen in der jüdischen Gemeinschaft Diskussion und Skepsis hervorgerufen. Zumal nun der Verfassungsschutz bestätigt hat, dass islamistische Terrororganisationen die Situation für ihre Zwecke missbrauchen.
Eingedenk der eigenen Verfolgungshistorie und der religiös gebotenen Mitmenschlichkeit haben die jüdischen Menschen den humanitären Kurs der Bundesregierung und das beeindruckende Engagement von Bevölkerung und Behörden von Anfang an unterstützt. Selbstverständlich haben sich viele aktiv an der Flüchtlingshilfe beteiligt.
Doch auch wir fordern die Integration in unsere Wertegemeinschaft. Es gilt, frühere Fehler zu vermeiden. Keine Toleranz gegenüber Intoleranz! Tatsache ist: Die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten durfte niemals ein Leben in individueller und institutioneller Freiheit erfahren, fremdelt mit Werten wie Toleranz, Gleichberechtigung, sexueller Selbstbestimmung, Säkularisierung, und hat etwa den Hass auf Juden als selbstverständlichen Bestandteil der Sozialisation, Erziehung und Politik erfahren. Die Überwindung dieser gravierenden kulturellen Kluft muss im Mittelpunkt der Integrationsmaßnahmen stehen.
Für unsere Gesellschaft wünsche ich mir, dass wir uns weder von der Zuwanderung, die ein Land wie Deutschland durchaus meistern kann und muss, noch durch die terroristische Bedrohung einschüchtern, lähmen oder gar spalten lassen. Vielmehr sollten wir uns der Verletzlichkeit unseres gemeinsamen zivilisatorischen Fundaments bewusst werden und in diesem Bewusstsein entschlossen und gemeinsam dafür einstehen.
Ich fordere schon lange einen aufgeklärten, historisch geläuterten deutschen Patriotismus, der um die europäischen Wurzeln weiß und die Einbettung Deutschlands in Europa als historischen Segen schätzt. Nur wer sich selbstbewusst und mit Leidenschaft zu unserer Demokratie bekennt, wird die Stärke und den Mut haben, sich auch kämpferisch für unsere Werte einzusetzen.
"Wir sind das Volk" - dieser Satz gehört uns, den Demokraten. Wir müssen selbstbewusst definieren, wer "wir" sind - und wer nicht. Grundlage dafür ist unser Grundgesetz. Nach dem Absturz in den Abgrund der Unmenschlichkeit haben die Mütter und Väter dieses Dokuments bewusst die jahrtausendealten Werte von Judentum und Christentum, von abendländischer Philosophie, Aufklärung und Moderne auf einzigartige Weise gebündelt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Diesem fundamentalen Gedanken, dieser Überzeugung, auf der unser Staat und unsere Gesellschaft basiert, folgt die umfassende Reihe weiterer Grund- und Menschenrechte, die nicht nur für deutsche Bürger, sondern für alle bei uns lebenden Menschen gelten: körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, sexuelle Selbstbestimmung - kurzum: leben und leben lassen. Das ist der Wesenskern unserer Demokratie, unseres Rechts- und Sozialstaates, unserer pluralistischen Zivilgesellschaft.
Zentral: der weltliche Rechtsstaat, die Trennung von Staat und Religion, die Ächtung von jeder Form von Antisemitismus sowie das klare Bekenntnis zum Existenzrecht Israels. Hinzu kommt: Wer in Deutschland leben, dieses Land seine Heimat nennen will, muss sich mit dem Holocaust und unseren Lehren aus diesem Menschheitsverbrechen befassen. Das sind die unveräußerlichen Grundlagen unserer Gesellschaft, die für Einheimische ebenso gelten wie für Neuankömmlinge. Wer das nicht akzeptiert, kann nicht dazu gehören.
Wir brauchen keine Angst zu haben in Deutschland. Aber jeder einzelne Demokrat unseres Landes hat allen Grund zu größter Wachsamkeit. Deutschland ist eine liebenswerte Heimat. Deutschland kann Enormes schaffen - wenn "wir" es wollen. Ich wünsche mir, dass Deutschland dieses starke, demokratische "wir" ausprägen kann. In dieser Hoffnung lebe ich in meinem Land, in dem ich wieder angekommen bin.
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Charlotte Knobloch
- Charlotte Knobloch wird 1932 in München geboren. Versteckt auf dem Land überlebt sie den Holocaust. Sie ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
- Sie war von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Von 2005 bis 2013 war sie Vize-Präsidentin des Jüdischen Weltkongresses.
- 2010 wurde Knobloch mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet - der höchsten zivile Auszeichnung der Bundesrepublik.
- Seit 2011 ist Knobloch Ehrensenatorin der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg. (ls)
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