"MM"-Debatte zur Einheit

Existiert auch heute noch eine Mauer in den Köpfen, Herr Nichelmann?

Der im Jahr des Mauerfalls in Ost-Berlin geborene Buchautor ist viel durch Deutschland gereist und hat die unterschiedlichsten Erfahrungen gesammelt. Er plädiert dafür, einander zuzuhören und Probleme künftig gesamtdeutsch anzugehen. Ein Gastbeitrag.

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Johannes Nichelmann
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Die Sonne geht über der Gedenkstätte Berliner Mauer, dem früheren Todesstreifen an der Bernauer Straße, auf. Die Grenze in den Köpfen ist für viele Deutsche auch nach 30 Jahren noch nicht überwunden. © dpa/ ullstein Verlag/ Niklas Vogt

Die Antwort auf die Frage, ob auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, der Wende, der Friedlichen Revolution, der Transformation in Gesamtdeutschland alles in Butter ist, lässt sich mit einem schlichten Nein beantworten. Würden die Unterschiede zwischen Ost und West nicht mehr sichtbar sein, dann hätten wir hier jetzt kein Thema.

Aber ob sich in den Köpfen der Menschen nach wie vor die von der DDR-Führung so gerne als „Antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnete Mauer mit Stacheldraht, Todesstreifen, Grenzposten und Grenzübergängen befindet, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich hoffe nicht. Es ist vielleicht keine Mauer, die in den Köpfen, wie im Kalten Krieg, unser Land in zwei Welten teilt. Aber dass es noch immer Unterschiede, auch Kulturunterschiede, gibt, ist offen sichtbar. Was sich ändern muss, ist unsere Debattenkultur.

Zu jedem runden Jubiläum werden Stimmen laut, die sich sehnlichst wünschen, dass die Sache mit dem Osten und dem Westen nun endlich überwunden werden könne, und zwar ganz schnell. Da schwingt oft die Hoffnung mit, dass die DDR künftig nur noch als eine Fußnote in der Geschichte wahrgenommen werden würde und dass keine nennenswerten Unterschiede zwischen dem alten Osten und dem alten Westen künftig sichtbar sein sollten.

Allerdings wird das so schnell vermutlich nicht klappen. Schauen wir kurz auf die aktuellen Zahlen. Die Bertelsmann-Stiftung hat in einer Studie zu „30 Jahre Deutsche Einheit“ herausgefunden, dass 55 Prozent der Westdeutschen der Aussage zustimmen, dass es heutzutage keinen Unterschied mehr mache, ob jemand aus Ost- oder Westdeutschland stamme. Im Osten stimmten dem nur 32 Prozent zu. Für viele Menschen macht es eben doch einen Unterschied. Vor allem für Menschen, die ganz bewusste Erinnerungen an die Teilung haben.

Spannend ist auch, dass die Autorinnen und Autoren der Studie festgestellt haben, dass Menschen in Westdeutschland eher davon sprechen, dass die Wiedervereinigung herbeigeführt wurde, während die meisten Ostdeutschen meinen, dass die Bürgerinnen und Bürger das Ende der DDR einleiteten. Das eine ist also passiv formuliert, das andere aktiv.

Ost und West sprechen teils also auch eine unterschiedliche Sprache, wenn es um das Zusammenkommen und Zusammenleben beider Gesellschaften geht. Soziologen gehen davon aus, dass die Spuren einer so harten und dramatischen gesellschaftlichen Veränderung circa 50 Jahre nachhalten. Ein halbes Jahrhundert also. Wir hätten demnach also noch 20 Jahre vor uns. Wir müssen also weiterhin darüber reden. Aber wir müssen es anders tun, als wir es bisher getan haben. Um die nächsten 20 Jahre sinnvoller zu nutzen als die letzten 30, mache ich jetzt, ganz selbstbewusst, ein paar Vorschläge:

Es geht ums Zuhören. Das klingt jetzt wie eine Binsenweisheit und mir ist bewusst, dass das schon seit Jahren hier und da gefordert wird. Aber es nützt ja nichts, wenn das bislang kaum funktioniert. Ich bin seit circa einem Jahr auf Lesereise mit meinem Sachbuch. Dabei bin ich gleichermaßen in Ost- und in Westdeutschland unterwegs. Dabei kommt es – vor allem im Westen – einigermaßen regelmäßig zu folgendem Dialog:

Ost: Also ich muss mal was sagen, ich selbst komme aus dem Osten und habe da studieren dürfen, ohne dass ich in der Partei gewesen bin oder so. Also ich muss schon sagen, dass ich eine gute Jugend hatte. Wünsche mir das jetzt nicht zurück, aber ich habe jetzt nicht gelitten oder so.

West: Das kann ja gar nicht sein. Das war eine Diktatur.

Ost: Ja, stimmt das war sie. Aber es war eben nicht so Schwarz-Weiß. Deswegen…

West: Dann war ihr Vater bei der Stasi.

Diskussionen eskalieren schnell

Die Diskussionen eskalieren schnell und geraten zu einem äußerst emotionalen Schlagabtausch, bei dem niemand verlieren will. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aber auch bei meinen Lesungen im Osten gibt es wiederkehrende Muster. In Rostock zum Beispiel saß eine Frau mit verschränkten Armen in der ersten Reihe und sagte zu ihrer Begleitung, so laut, dass es wirklich jeder hören konnte: „Na, da will ich mir jetzt mal wieder anhören, wie mein Leben so gewesen sein soll!“ Woraufhin ich bemerkte, dass ich für mein Buch verschiedene Menschen getroffen habe, die aus ihrem persönlichen Leben berichten.

Im Anschluss zeigte sich die Frau enttäuscht, dass es wirklich nicht um ihre persönliche Geschichte ging, weil es ja doch an dem Abend irgendwie um Ostdeutsche gehen sollte. Das erlebe ich häufiger und vermute, dass durch die ständigen Verallgemeinerungen des Ostens viele Menschen im Osten selbst vergessen haben, dass es „den Ostdeutschen“ ja gar nicht gibt, gar nicht geben kann. Es gibt nicht „die eine Erzählung“. Die DDR war kein dramaturgisch runder Spielfilm.

Nächster Punkt: In den Redaktionen bundesweiter Medienhäuser brauchen wir mehr Journalistinnen und Journalisten, vor allem in Führungspositionen, die Perspektiven aus Ostdeutschland einbringen. Wenn wir – natürlich auch viel zu spät – generell über mehr Diversität diskutieren, dann muss es auch um die Repräsentation von Ostdeutschen gehen. Was nämlich im Zuge der Wiedervereinigung vergessen wurde, ist ein medialer Raum, in dem Ostdeutsche ihre Geschichten erzählen können, ohne, dass diese zwangsläufig durch irgendwen augenblicklich bewertet oder eingeordnet werden müssen.

Es gibt keine Zeitung, keinen Radio- oder Fernsehsender, die dies in den letzten 30 Jahren geleistet haben. Kein sogenanntes Qualitätsmedium, das Debatten innerhalb Ostdeutschlands zulässt, hat sich herausgebildet. Das Ergebnis ist, dass – übrigens auch innerhalb von Familien – die Erzählungen über das eigene Leben im Sozialismus und innerhalb der Transformation zu wenig stattgefunden haben.

Widersprüche aushalten und anerkennen

Mein Eindruck ist, dass bei Zuhörenden oft die Angst mitschwingt, jemand könne durch die Darstellung seiner individuellen Lebensgeschichte die Verbrechen der SED-Diktatur relativieren oder beschwichtigen wollen. Wir müssen endlich lernen, die Widersprüche anzuerkennen und auszuhalten. Ich kenne persönlich übrigens niemanden, der sich die Verhältnisse der DDR zurückwünscht.

Wie wichtig wäre es aber, auch für mich als Nachwendekind aus dem Osten, zu verstehen, warum viele Menschen mit großem Eifer und großen Hoffnungen an die SED geglaubt haben. Das kam ja nicht aus dem Nichts. In meiner Schulzeit war die DDR allenfalls eine Randnotiz. Jüngere deutsche Geschichte bedeutete vor allem jüngere westdeutsche Geschichte: RAF, das sogenannte Wirtschaftswunder, vielleicht noch die Luftbrücke der Alliierten in West-Berlin.

Wie spannend wäre es gewesen beispielsweise zu analysieren, zu lernen, zu erfahren, wie die DDR mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit umgegangen ist. Daraus lassen sich ja womöglich auch Schlüsse zu dem Komplex ziehen, warum es in Teilen Ostdeutschlands bis heute ein so massives Problem mit Rechtsextremen gibt. Aber ist Rechtsextremismus wirklich nur ein Problem der Ostdeutschen? Oder ist es einfach nur bequem und einfach die Diskussion darüber in „die Zone“ abzuschieben?

Die Ursachen für Rechtsextremismus sind im Osten vielleicht anders gelagert als im Westen. Aber das Gedankengut und seine Auswüchse gibt es doch überall in dieser Republik, oder? Die Morde der NSU, der Mord an Walter Lübcke, die jüngst aufgedeckten Skandale um Whatsapp-Gruppen von Polizistinnen und Polizisten aus Nordrhein-Westfalen – das alles zeigt doch auch, dass wir politische Debatten hierzulande als gesamtdeutsche Debatten begreifen müssen. Gesamtdeutsch würde auch bedeuten, dass die ostdeutschen Perspektiven auf Augenhöhe gehört werden. So, als wären wir im selben Land.

Ihre Meinung zählt! Schreiben Sie uns! Liebe Leserinnen und Leser dieser Zeitung, was halten Sie von diesem Beitrag? Schreiben Sie uns Ihre Meinung! „Mannheimer Morgen“, Debatte, Postfach 102164, 68021 Mannheim, E-Mail: leserbriefe@mamo.de

Mehr Infos zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit finden Sie unter morgenweb.de/einheit

Der Gastautor



  • Johannes Nichelmann, geboren 1989 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freier Journalist für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
  • In seinem Buch „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ erzählt Nichelmann von den „blinden Flecken“ in den Geschichten ostdeutscher Familien.

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