Droht uns der exzessive Parteienstaat, Herr von Arnim?

Wenn sich Macht ausdehnt, stößt sie normalerweise an Grenzen. Die Parteien jedoch haben die Grenzen ihrer Macht abgeschwächt oder beseitigt. Für Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit ist das ein Problem, meint Hans Herbert von Arnim. Ein Gastbei

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Hans Herbert von Arnim
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Braut sich da was zusammen? Schon jetzt verfügt der Bundestag über 630 Abgeordnete, und nach der Wahl im Herbst könnten es noch mehr werden.

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Im Februar beschlossen Parlamentarier der Grünen, der SPD und der CDU im Stuttgarter Landtag, sich blitzartig eine üppige staatliche Altersversorgung zu bewilligen. Zusätzlich stockten sie - im Verein mit der FDP; nur die AfD war gegen beide Vorhaben - ihre steuerfreie Kostenpauschale um 40 Prozent und ihre Mitarbeiter-Ausstattung um fast 100 Prozent auf. Um die öffentliche Kontrolle gar nicht erst zur Besinnung kommen zu lassen, peitschten sie das Projekt in drei Tagen durch den Landtag. Das Ganze geschah inmitten der Beratungen des gesamten Landeshaushalts.

Jede Fraktion hatte in der ersten Lesung nur 5 Minuten Zeit, und am Tag darauf fand eine Beratung überhaupt nicht mehr statt, weil kein Abgeordneter das Wort ergriff. Der Inhalt der Gesetze hätte in einem Verfahren, in dem die Regeln guter Gesetzgebung beachtet worden wären, keine Chance gehabt.

Mit diesem Schnellschuss wollte man offenbar die öffentliche Kontrolle ausmanövrieren, zumindest meinte man, nach einem möglichen Aufschrei würde sich bald wieder alles beruhigen. Doch da hatte man sich diesmal verrechnet: Der öffentliche Protest schwoll rasch an. Das führte dazu, dass die Initiatoren des Gesetzes nach nur einer Woche erst einmal den Rückzug antraten. Die Altersversorgung wurde vorerst zurückgenommen.

Jetzt sollen Sachverständige sich der Thematik annehmen. Mit deren Bericht sei allerdings erst nach den Bundestagswahlen im Herbst zu rechnen, ließen die Fraktionsvorsitzenden verlauten, und die Landtagspräsidentin hat das Anfang Mai praktisch bestätigt. "Ein Schelm, wer Böses dabei denkt", hatte eine Zeitung kommentiert. Offensichtlich will man das Thema auf die lange Bank schieben, um nach dem Wahljahr 2017 dann freie Hand zu haben. Und tatsächlich: Ende Mai gab die Landtagspräsidentin bekannt, die Kommission, deren Vorsitzender im Übrigen 125 000 Euro Honorar bekommen soll, werde ihren Bericht Ende März 2018 vorlegen.

Bereits im März hatte sich das unwürdige Spiel im Nachbarland Rheinland-Pfalz wiederholt. Am 23. März behandelte der Mainzer Landtag ein neues Diätengesetz in erster und am 24. März in abschließender zweiter Lesung, in der niemand mehr das Wort ergriff. Das Gesetz erhöht die Entschädigung in vier Schritten um über 1000 Euro, insgesamt eine Steigerung um 17,5 Prozent. Und auch die daran gekoppelte - schon vor der Erhöhung besonders großzügige - staatliche Altersversorgung stieg entsprechend. Der erste Schritt trat am Gründonnerstag rückwirkend zum 1. Januar in Kraft, der vierte Erhöhungsschritt kommt im Jahre 2020 - just noch vor Inkrafttreten der staatlichen Schuldenbremse.

Dagegen lässt der Bundestag sich bei einem wirklich wichtigen Projekt viel Zeit und ist dabei, die dringende Änderung seines Wahlgesetzes in die künftige Legislaturperiode zu verschleppen. Wegen der aberwitzig ausgestalteten Regelung von Überhang- und Ausgleichsmandaten kommt es voraussichtlich zu einer enormen Vergrößerung des Hohen Hauses: In den schon jetzt mit 630 Abgeordneten viel zu großen Bundestag drohen im Herbst 70 oder mehr zusätzliche Abgeordnete einzuziehen.

Doch genau darauf spekulieren viele Abgeordnete. Mitglieder aller Bundestagsfraktionen haben nämlich ein starkes Eigeninteresse daran, dass der Bundestag möglichst groß wird. Umso höher sind nämlich auch ihre Wiederwahlchancen. Doch dieses eigentliche Motiv für das Verschleppen der Reform wird -hinter wortreichen Rechtfertigungsversuchen - geflissentlich verschwiegen.

Die drei Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass Berufspolitiker, die zusammen die sogenannte politische Klasse bilden, sich bei ihren Entscheidungen statt am Gemeinwohl an ihren eigenen Statusinteressen orientieren. Es handelt sich um Schritte, mit denen die politische Klasse unsere Demokratie allmählich in einen exzessiven Parteienstaat verkehrt. (Einfache Parteimitglieder dagegen ärgern sich über Missbräuche und Fehlentwicklungen, die die Politik in eigener Sache bewirkt, oft am meisten; ihr Protest hatte auch dazu beigetragen, ihre Fraktionen im Landtag von Baden-Württemberg - zumindest hinsichtlich der Altersversorgung - vorläufig zur Umkehr zu bewegen.)

Die politische Klasse sitzt im Innersten des Staates an den Hebeln der Gesetzgebungs- und Regierungsmacht und kann dort ihre Interessen unmittelbar durchsetzen. Vor allem beherrscht sie die Mechanismen, die das Erringen, den Ausbau und den Genuss der Macht betreffen. Gewiss, politisches Gestalten setzt Macht voraus. Doch in der Praxis wird Macht oft zum Selbstzweck und degeneriert zum Mittel der "Selbstbedienung" an den unermesslichen Geld- und Personalressourcen des Staates.

Politikfinanzierung und Ämterpatronage sind aber nur die sichtbaren Zeichen für das Wuchern der Parteien. Das Problem ist viel grundlegender, denn, wie schon Charles de Montesquieu wusste, dehnt Macht sich immer weiter aus - bis sie an Grenzen stößt. Doch die Vorkehrungen des Grundgesetzes zur Sicherung rechtsstaatlicher Demokratie und zur Verhinderung von Machtmissbrauch haben die Parteien im Laufe der Jahrzehnte abgeschwächt oder ganz beseitigt.

Die Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung hebeln die Parteien aus, wie man exemplarisch daran sieht, dass Regierungsmitglieder auch Sitz und Stimme im Parlament haben und - zusätzlich zu ihren Regierungsbezügen - Diäten einstreichen.

Auch das Wahlrecht erfüllt seine Funktion, den Bürgern zu ermöglichen, Politiker und Parteien, mit denen sie unzufrieden sind, abzuwählen, kaum noch. Die Parteien gleichen sich programmatisch immer mehr an. Zudem kann der Bürger oft nicht voraussehen, was seine Stimme bewirkt; denn wer die Regierung bildet, stellt sich meist erst nach der Wahl durch Koalitionsbildung heraus. Und einzelne Abgeordnete kann der Bürger wegen der starren Wahllisten meist gar nicht wählen oder abwählen. Wer im Wahlkreis verliert, ist oft ohnehin auf der Liste abgesichert.

Die Kontrolle durch unabhängige Verfassungsgerichte und Rechnungshöfe wird dadurch geschwächt, dass die Parteien bei der Auswahl ihrer Kontrolleure oft Personen bevorzugen, die ihnen nicht wirklich weh tun. Mit dem Parteiengesetz von 1967 hatten die Parteien schon vor 50 Jahren ihre selbst definierten Aufgaben stark ausgedehnt -weit über ihre von Artikel 21 Grundgesetz vorgesehene Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes hinaus. Misst man die Wirklichkeit an der Verfassungsnorm, dann kommen, wie der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker formulierte, "dem einen die Tränen, und bei anderen schwellen die Zornesadern, und das bekommt auf die Dauer unserer Demokratie gerade deshalb nicht gut, weil wir die Parteien brauchen."

Die sogenannte politische Bildung haben die Parteien fest im Griff, und die öffentliche Kontrolle suchen sie mit Blitzgesetzen, durch undurchschaubare Regelungen oder durch Zuhilfenahme von kontaminiertem Sachverstand zu schwächen.

Das alles geschieht Stück für Stück und ganz allmählich, so dass die fatale Entwicklung kaum auffällt. Ohnehin haben die jahrzehntelange parteiliche Ausbeutung der staatlichen Ressourcen, das Dienstbarmachen der Regeln der Macht und die einseitig beschönigende "politische Bildung" eine gehirnwäscheartige Gewöhnung bewirkt, so dass wir an der fatalen Praxis oft gar nichts Unrechtes mehr finden. Bei jeder der massenhaften parteilichen Besetzungen öffentlicher Stellen greift sachfremdes parteilich-strategisches Denken wie ein zersetzendes Gift immer mehr um sich und droht, den öffentlichen Diskurs zu verderben.

Der mangelnde politische Einfluss der Bürger muss geradezu Verdrossenheit schüren, und die erodierende Verankerung der Parteien in der Bürgerschaft macht sie von den Lobbyisten umso abhängiger. Demonstrationen und die Gründung neuer Parteien können zwar gewisse Linderung bringen. Letztlich kann aber wohl nur direkte Demokratie "von unten" die Parteienherrschaft aufbrechen und Volkssouveränität herstellen.

Kein Wunder allerdings, dass die politische Klasse davon nicht begeistert ist und man damit, zumindest auf Bundesebene, nur schleppend vorankommt. Voraussetzung für wirksames Gegenhalten aber ist, dass die Öffentlichkeit sich der Lage überhaupt bewusst wird. Das wäre zumindest ein erster Schritt.

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