Mannheim. Zu meiner Zeit als Neo-Nazi-Agitator hätte ich von den heute in Deutschland herrschenden Zuständen nur träumen können. Wir erleben gerade nicht nur ein massives Erstarken der politischen Ränder, sondern auch eine erhebliche Unzufriedenheit der allgemeinen Bevölkerung mit der aktuellen Regierungspolitik und der generellen Kommunikation der Regierung mit den Bürgern. Das macht viele Menschen anfällig für radikale Ideen und öffnet Tür und Tor für Scharfmacher und deren undemokratische und illiberalen Vorstellungen.
Besonders die AfD versteht es, aus der gegenwärtigen Situation für sich politisch Kapital zu schlagen, indem sie die Sorgen, Ängste und Nöte der Bevölkerung aufgreift, diese in brutaler Einseitigkeit und mit gewissenloser Propaganda bis hin zur Hysterie steigert, um sich dann selbst als vermeintlich einzige politische Kraft anzubieten, welche die Probleme noch in den Griff bekommen kann und überhaupt will – mit Ideen im Werkzeugkoffer, die menschenverachtend und totalitär sind.
Hauptsache die nächste Wahl wird gewonnen
Seit vielen Jahren schon herrscht ein kommunikatives Missverhältnis zwischen Wählern und den Parteien. Politiker neigen oft dazu, sich mehr auf Umfragen als auf den persönlichen Kontakt mit den Wählern zu verlassen und sind in der Darstellung ihrer konkreten Inhalte und Prinzipien deshalb gerne nebulös, um dadurch bestmöglich auf den nächsten potenziellen Meinungsumschwung vorbereitet zu sein. Hauptsache, die kommende Wahl wird gewonnen.
Das führt auch dazu, dass die früher sehr deutlich auszumachenden Unterschiede zwischen den politischen Richtungen kaum noch zu Tage treten und die etablierten Parteien wie aus „einem Guss“ wahrgenommen werden. Dieses Gefühl wird zusätzlich genährt durch die selbstverschuldeten Defizite in den jetzt gängigen und absolut unverzichtbaren Kommunikationskanälen von Social Media.
Der Gastautor
- 15 Jahre lang war Axel Reitz eine Führungsfigur der rechtsextremen Szene in Deutschland. Vor elf Jahren stieg er aus.
- Heute klärt der Extremismus-Experte in Vorträgen und auf seinem YouTube-Kanal „Der Reitz-Effekt“ über verfassungsfeindliche Strukturen, Radikalisierungsprozesse und extremistische Propaganda auf.
- Als zertifizierter Antigewalt-Trainer und Consultant des gemeinnützigen Vereins „Extremislos“ hilft er anderen Menschen, die Szene zu verlassen – und Jugendlichen, gar nicht erst einzusteigen.
- Im Juni 2023 hat er sein erstes Buch „Ich war der Hitler von Köln“, erschienen im FinanzBuch Verlag, veröffentlicht, in dem er über seine Geschichte und wie Extremismus effektiv bekämpft werden kann schreibt.
Die Auftritte der Parteien und Politiker dort sind, sofern überhaupt vorhanden, oftmals unzureichend und nichtssagend. Besonders die kommunalen und regionalen Vertreter versagen hier nicht selten auf ganzer Linie, weil sie lieber auf die „bewährten Wege“ zurückgreifen wollen, die heute einfach nicht mehr zeitgemäß und gerade für jüngere Menschen einfach nicht mehr attraktiv sind.
Twitter statt Stammtisch oder zumindest Twitter und Stammtisch sollten eine Option sein. Stattdessen heißt es nicht selten: Wir machen weiter wie bisher, brauchen keine Veränderung und der Letzte macht das Licht aus! All das hat unweigerlich zur Folge, dass nur sehr schwer eine tragfähige Beziehungsebene zwischen Wählern und Politikern aufgebaut werden kann.
AfD inszeniert sich als "Gegenbewegung"
Für viele Bürger sind „die da oben“ deshalb oftmals wie Bewohner von einem anderen Stern, die „sowieso machen, was sie wollen“, und keine direkten Ansprechpartner auf Augenhöhe, geschweige denn vertrauenswürdige Problemlöser. Hinzu kommen schwerwiegende kommunikative Fehler vonseiten der Grünen. Einige ihrer Politiker treten immer wieder wie moralische Scharfrichter auf und nicht wie Sachwalter der Interessen aller Bürger.
Anstatt auf die Mehrheit der Bevölkerung zuzugehen, ziehen sich Vertreter der Partei in einen ideologischen Elfenbeinturm zurück und reagieren mit Unverständnis, Härte und manchmal sogar Häme auf die Kritik der Menschen an ihrer Politik. Das macht es der AfD und anderen Radikalen natürlich umso leichter, sich als „Gegenbewegung“ zu inszenieren, die sich gegen „Verbotskultur“ und „Bevormundung“ positioniert.
Wenn dann noch Themen, wie die Frage nach der Legitimität von Indianerkostümen und Sombreros im Karneval oder ob das Gendern in Behörden zur Pflicht werden soll, in Teilen der Partei mehr Raum einnimmt, als die für viele Menschen elementare Frage, wie das neue Heizungsgesetz sozialverträglich für die Bevölkerung durchgesetzt werden kann, ist das natürlich ein willkommenes Einfallstor nicht nur für legitime Kritiker, sondern auch für Populisten und Extremisten.
Die AfD hingegen war von Anfang an eine stark virtuell ausgerichtete Partei, die sich massiv in der digitalen Welt betätigt hat. Damit wurde sie nicht nur sehr schnell sichtbar und greifbar für die Wähler, sondern konnte auf diesem Wege auch sehr schnell Echokammern produzieren, in denen sie die Vorherrschaft über die besprochenen Themen und deren Interpretationen ausüben konnte. So manche Fake-News-Kampagnen, die große Wirkung entfalteten, nahmen in diesen AfD-Bubbles ihren Anfang.
Neben diesem massiven Bespielen der neuen Medien verschafft sich die AfD als „Bewegungspartei“ aber auch im wirklichen Leben ständig Gehör – und das nicht nur zu Wahlkampfzeiten. Während viele Parteien und Politiker vor allem vor und nach Wahlen Präsens zeigen, sind die AfD-Aktivisten im Dauereinsatz mit Demos, Kundgebungen, Versammlungen und öffentlichen Aktionen. Und sie werden folglich als „fleißiger“, „volksnaher“ und „greifbarer“ wahrgenommen als ihre politischen Kontrahenten anderer Parteien.
Ampelregierung hat viele Wähler enttäuscht
Hinzu kommt die Selbstdarstellung als „Kümmerer“-Partei, die sich nicht davor scheut, auch mal mit der Faust auf den Tisch zu knallen. Dieser populistische Budenzauber ist vor allem deswegen so erfolgreich, weil wie schon ausgeführt viele Politiker der etablierten Parteien davor zurückschrecken deutliche Standpunkte zu äußern. Die AfD kann sich deshalb als verbalradikale „Alternative“ gekonnt in Szene setzen, denn die Aufmerksamkeit ist ihr durch das forsche, unduldsame und aggressive Auftreten gewiss.
Zudem hat auch die Ampelregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz die Hoffnungen vieler Wähler enttäuscht. Der ARD-Deutschlandtrend hat kürzlich ermittelt, dass sieben von zehn Deutschen mit der Bundesregierung wenig bis gar nicht zufrieden sind. Die SPD befindet sich in den Umfragen im freien Fall und misst derzeit sogar den niedrigsten Wert für eine Kanzlerpartei, den es in der gesamten Historie der Bundesrepublik je gegeben hat.
Die drängenden Probleme der Bevölkerung wie Reallohnverluste, Inflation und Wohnungsmangel, aber auch die Herausforderungen einer erneuten Migrationsbewegung, die viele Kommunen schon jetzt an ihre Grenzen bringt, sowie die gegen große Mehrheiten der Bevölkerung durchgesetzte Abschaltung der Atomkraftwerke und das geplante Heizungsverbot haben eine gefährliche Stimmung erzeugt. Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft und erleben eine für sie ungewohnte Situation der Ungewissheit und Zurücksetzung, auf die oft mit Wut und Frust reagiert wird.
Gründe für den AfD-Erfolg sind vielschichtig
Genau hier setzen Extremisten an, indem sie mit dumpfen Parolen nicht nur „einfache Lösungsmöglichkeiten“ vorgaukeln, sondern auch Feindbilder als Sündenböcke liefern, auf die sich der Zorn der Bevölkerung dann fokussieren kann. Das zentrale Feindbild ist dabei das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland an und für sich, seine offene Gesellschaft und seine Repräsentanten sowie Befürworter.
Hinter den Verheißungen einer schnellen und unkomplizierten Lösung der herrschenden Probleme und einer besseren Zukunft lauert der Wunsch nach der kompletten Zerstörung der aus ideologischen Gründen als Fehler an sich betrachteten Staats- und Gesellschaftsordnung Deutschlands nach 1945. Führende AfD-Politiker wie Björn Höcke machen daraus überhaupt keinen Hehl mehr.
Wir sehen also, dass die Gründe für den Erfolg der AfD vielschichtig sind und sich nicht alleine durch das Beschwören einer „antifaschistischen Einheitsfront“ effektiv bekämpfen lassen. Das ist zwar gut und schön für die Selbstversicherung, ein guter Mensch zu sein und auf der richtigen Seite des politischen Geschehens zu stehen, aber die Wahl des ersten AfD-Landrates in Sonneberg hat deutlich gezeigt, dass solche Appelle nicht nur fruchtlos bleiben, sondern letztlich das genaue Gegenteil bewirkt haben. Was also ist zu tun?
Warum die AfD gewählt wird
Die Frage stellen, heißt sie zu beantworten: Neben Aufklärung und einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Partei, für die argumentatives Geschick und eine gute Vorbereitung unabdingbar sind, der frühzeitigen Vermittlung von Medienkompetenz und Extremismus-Prävention an Schulen sowie der generellen offensiven Darstellung demokratischer Werte und Tugenden braucht es vor allem eines, um den Aufstieg der AfD zu stoppen: eine gute, am Allgemeinwohl orientierte Politik, die nah an der Bevölkerung bleibt und sich dabei auch nicht davor scheut Klartext zu sprechen.
Denn eines dürfen wir bei der Sorge über die Erfolge der AfD nicht vergessen: Die Partei wird von der Mehrheit ihrer Wähler nicht wegen ihrer Programme und ihres Personals gewählt, sondern trotz! Und schaffen wir vernünftige Alternativen zur AfD lässt sich dieses Wahlverhalten auch sehr schnell wieder ändern! #MehrMitteBitte“
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