Braucht Deutschland noch Lokalzeitungen, Herr Golombek?

Das Internet ist der größte Konkurrent der Zeitungen. Es liefert schnelle und kostenlose Nachrichten zu jeder Uhrzeit. Ist die Lokalzeitung also überflüssig? "Sie wird gebraucht - weiterhin und wohl mehr denn je", sagt unser Experte Dieter Golombek. E

Von 
Dieter Golombek
Lesedauer: 

Die Aufgabe und Chance einer Zeitung ist es, die komplizierte Welt für den Leser fassbar zu machen, sagt Dieter Golombek, der die Aus- und Weiterbildung von Journalisten seit Jahren fördert.

© Sturm

Die Titelfrage ist eindeutig und verlangt nach einer klaren Antwort. Ja, das Land braucht Lokalzeitungen. Bei der Begründung wird es schwieriger. Vor über 20 Jahren, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, hätte man das "Ja" vielleicht mit einem "und" ergänzt im Sinne von "Was soll die Frage?" Die Zeiten aber sind unwirtlicher geworden für Lokalzeitungen, für die Zeitungen insgesamt. Alle verlieren Auflage, die Wochenzeitung "Die Zeit" wohl ausgenommen. Die Anzeigeneinbrüche sind dramatisch. In den vergangenen 20 Jahren haben die Zeitungen mehr als ein Drittel ihrer Auflage eingebüßt und mehr als ein Fünftel ihrer Gesamtumsätze. Zeitungen werden also offensichtlich immer weniger gebraucht, weder von der werbetreibenden Wirtschaft noch von den Lesern selbst. Also ist die Eingangsfrage berechtigt, mehr als berechtigt.

Das Untergangsszenario ist schon oft geschrieben worden. Ein nennenswertes Zeitungssterben haben wir aber in Deutschland - anders als in anderen Ländern - bisher nicht erlebt. Die Optimisten sagen: Totgesagte leben länger. Die Pessimisten unken: Der Untergang wird schon noch kommen. Und die Realisten? Sie basteln an der Zukunft der Zeitung. Sie wissen, dass Opas Zeitung die Medienstürme der Gegenwart nicht überleben wird. Sie hauchen der Lokalzeitung eine neue Philosophie ein, sie definieren neu, wie der Auftrag des Zeitungmachens im Zeitalter des Internets auszusehen hat. Sie definieren ihre Marktlücke neu, konzentrieren sich auf das Wesentliche. Sie steuern das Zeitungsschiff in eine Zukunft, die crossmedialer sein wird als heute. Crossmedial heißt: Sie binden Print wie Online in einem Konzept zusammen, sie bedienen sich der Angebote, die die sozialen Netzwerke für sie bereithalten. Der Mannheimer Morgen, der Südhessen Morgen und seiner Partnerzeitungen Bergsträßer Anzeiger, Fränkische Nachrichten, Schwetzinger Zeitung, Hockenheimer Tageszeitung; sowie Odenwälder Zeitung und Weinheimer Nachrichten gehören zu denen, die Neues ausprobieren, die um ihre Leser kämpfen - auch mit einem Produkt wie dem "Wochenende", in dem dieser Beitrag steht.

Die Tageszeitungen sind wichtige Institutionen der Demokratie, sie sind Indikatoren für die Qualität einer Demokratie. Wie sie berichten, welche Themen sie aufgreifen, welche Hintergründe sie ausleuchten - die Qualität ihrer Übersetzungs- und Orientierungsleistung entscheidet wesentlich darüber, wie informiert die Bürger sind, wie hoch ihr Interesse am Gemeinwohl ist und wie ausgeprägt ihre Bereitschaft, sich zu engagieren.

Wir leben in einer sich rasant wandelnden Welt, so viel Tempo war nie. Wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Diese Einsicht bezieht sich auf die wirkliche Welt und auf die Welt der Medien. Die Lokalzeitung kann helfen, die Spreu vom Informationsweizen zu trennen. Was die Festplatte fasst, fasst der Mensch noch lange nicht. Aufgabe und Chance der Zeitung ist es, diese Welt für ihn fassbar zu machen. Was soll der Mensch mit einer Milliarde oder mehr Treffern zum Thema Globalisierung anfangen? Globalisierung findet hier und heute statt, Tag für Tag erinnern nicht nur die Flüchtlinge daran. Der Leser will Erklärung, braucht Orientierung, will diese Welt verstehen, hier in der Region und anderswo: eine Aufgabe, wie maßgeschneidert für die Zeitung, aber was für eine Aufgabe.

Lokalzeitungen unterscheiden sich von den überregionalen Zeitungen wie FAZ, Frankfurter Rundschau, Welt oder Süddeutscher Zeitung. Lokalzeitungen haben keine deutschlandweite Verbreitung, sie sind verwurzelt in ihrer Region und verfügen über einen Lokalteil. Wenn sie größer sind, nennt man sie Regionalzeitungen. Sie vereinen dann unter ihrem Mantel mehrere Lokal- oder Regionalausgaben. Ihre Bastion schien unangreifbar, denn in ihrem Stammgebiet waren sie konkurrenzlos, lokaler Hörfunk oder Anzeigenblätter konnten ihnen wenig bis nichts anhaben. Aber auch in dieser einst so heilen Zeitungswelt brechen nun ganze Anzeigenmärkte weg. Junge Familien wuchsen früher wie selbstverständlich als Abonnenten nach, dem ist nicht mehr so.

Mit dem Netz ist ein unerbittlicher Konkurrent entstanden. Er bietet kostengünstigere und effektivere Bedingungen für bestimmte Anzeigenformen, sie sind den gedruckten Zeitungen so gut wie ganz abhanden gekommen. Aber die Leser brauchen doch ihre Nachrichten aus der Stadt, aus der Region? Ja, die bekommen sie auch - über den Internetauftritt ihrer Zeitung, kostenlos sogar. Viele Zeitungen haben es versäumt, Bezahlschranken zu errichten. Sie sind ins Internetabenteuer gestolpert. Die Verlage wissen immer noch nicht, wie sich das Ganze rechnen soll. Es ist schwierig, mit dem Netz Geld zu verdienen.

Und für die anderen, die nicht lokal ausgerichteten Teile der Regionalzeitung, Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport findet sich hinreichend hochwertiger Ersatz auf den Online-Auftritten der überregionalen Medien, bei FAZ, SZ, Spiegel, Bild, ARD oder ZDF. Auch da gibt es alles oder vieles umsonst. Und da ist noch das neue Medium Smartphone. Die Zeit, die der Nutzer auf seinem Gerät mit Nachrichten verbringt, steigt stetig. Er wartet nicht mehr auf den Zeitungsboten oder den Sendebeginn. Er will alle Nachrichten, und zwar sofort. Er wird bedient. Die Webseiten der großen Medien, die sozialen Medien, angeführt von Facebook und Twitter, sind ihm zu Diensten. Der Medienexperte Christian Meier spricht von "digitalem Sofortismus", der Medien wie Nutzer verändert hat. Nachrichten werden auf eine mit dem Smartphone vereinbare Größe reduziert. Wie wollen Zeitungen diese Kunden zurückholen?

Nachrichten aus und für die Region finden sich dort eher selten. Nachrichten aus den Städten und Gemeinden haben Google und die anderen Netzriesen noch nicht auf dem Schirm. Facebook und Twitter aber können damit dienen, sie haben überall ihre kleinen oder größeren Gemeinschaften. Sie können der lokalen Zeitung Druck machen, Themen ins Gespräch bringen, Aufregungen erzeugen bis hin zu den berüchtigten Shitstorms. Eine Zeitung, die diese neue Konkurrenz nicht zur Kenntnis nimmt, wird schnell unglaubwürdig. Die Redaktion kommt oft gar nicht daran vorbei, sich in diese Debatten selbst einzuschalten und das "digitale Gemurmel" (Paul-Josef Raue) zu moderieren. Und manchmal ist es mehr als friedliches Gemurmel, Pegida lässt grüßen.

Mit den Webseiten der großen Medien ist den überregionalen Teilen der Lokalzeitung eine bisher nicht gekannte Konkurrenz erwachsen. Politik-, Wirtschafts- oder Kulturteile, angelegt wie zu Opas Zeiten, machen sich selbst überflüssig. Gebraucht wird eine Lokalzeitung aus einem Guss. Die Fragen, die die Region bewegen, die Perspektive der Leser muss die Redaktion ernster nehmen als je zuvor. Die neue Gemengelage hat Auswirkungen auf die Ausrichtung der Lokalzeitungen. Die meisten von ihnen müssen eine Entwicklung nachholen, die sie über Jahrzehnte hinweg verschlafen haben. Das Ziel ist die aus dem Lokalen heraus begriffene Zeitung.

Gebraucht wird eine Zeitung, die eine Zusammenschau bietet, wann immer es das Thema verlangt. Das kann eine bundespolitische Entscheidung sein, eine Weichenstellung in Brüssel, ein Ereignis in dieser globalisierten Welt, das auf die Region durchschlägt. Wichtig ist immer nur: Es muss ein Thema sein, das die Menschen umtreibt. Leser wollen Bescheid wissen, sie brauchen Orientierung, mit News sind sie überversorgt. Sie wollen und brauchen erklärenden Journalismus.

Tageszeitungen dürfen sich nicht länger in einem Aktualitätswettbewerb mit anderen Medien begreifen. Den haben sie schon längst verloren. Die Marktlücke für die Zeitung ist die Erklärung. Die Leser erwarten von ihrer Zeitung mit Recht, dass sie die Informationsflut kanalisiert, Prioritäten setzt. Sie muss den Brückenschlag schaffen zwischen den Interessen ihrer Leser und der Fülle möglicher Informationen, den Brückenschlag zwischen globalen Nachrichten und lokaler Aufbereitung. Kein Thema führt diesen Auftrag so deutlich vor Augen wie die aktuelle Flüchtlingskrise.

Leser wollen auch mit anderen Alltagssorgen bei ihrer Zeitung gut aufgehoben sein. Sie wollen Orientierungshilfen für ihren Verbraucheralltag. Die Themen sind vielfältig: Geld und Versicherung, Soziales und Steuern, Gesundheit und Ernährung, Verbraucherrecht und Alltagstipps, Testberichte und Alltagsökologie. Nachrichten mit einem Nutzwert sind wichtig. Die Zeitung als Ratgeber in einer komplizierten Wirtschaftswelt erwirbt sich große Verdienste. Wenn sie diesen Auftrag ernst nimmt, bindet sie die Leser an sich. Sie erreicht dies auch mit lokalen Serien und Tests, wie sie diese Zeitung schon oft erfolgreich durchgezogen hat. Die Zeitung hat zu liefern, was für ihre Leser wichtig ist und interessant. Wenn sie diesem Auftrag gerecht wird, bleibt sie unverzichtbar.

Ohne eine gute Lokalzeitung verändert sich das Gesicht einer Stadt. Politik und Verwaltung, die großen und kleinen Institutionen brauchen Kontrolle. Es muss ans Licht kommen, was ans Licht gehört. Die Redaktion muss mit Öffentlichkeit dienen, auch wenn es weh tut. Sie muss es mit Augenmaß tun und Aufgeregtheit vermeiden, die oft die sozialen Netzwerke dominiert. Sie kann für Klarheit und Wahrheit sorgen.

Paul-Josef Raue, langjähriger Chefredakteur von Regionalzeitungen und Vordenker des modernen Lokaljournalismus, hat vor knapp zehn Jahren das Modell der Bürger-Zeitung entwickelt. Der Grundgedanke: Leser sind Bürger und haben in der Demokratie das Recht und die Pflicht, selbstbewusst zu sein, sich einzumischen, mitzureden. Die Zeitung bietet dafür das Forum. Die Bürger brauchen und bekommen eine Zeitung, die nicht nur für sie, sondern mit ihnen gemacht wird. Die vielen Menschen, die sich im Internet bewegen, liefern heute noch viel mehr Stoff als vor zehn Jahren.

Es sind Fragen, Anregungen, Sorgen, die Vorlagen bieten für eine Weiterverarbeitung durch die Zeitung. Die Redaktion muss gewichten, analysieren, recherchieren, Hintergründe ausleuchten und moderieren. Das Selbstgespräch der lokalen Gesellschaft braucht einen Moderator. Niemand anders als die Zeitung kann diese Rolle ausfüllen. Also wird sie gebraucht - weiterhin und wohl mehr denn je.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen