"Die Impulse, den Islam in seiner Entwicklung voran zu bringen, gingen fast ausnahmslos von der Diaspora aus", erklärte mir Ayatollah Seyed Mehdi Razvi einmal bei einem Gespräch über die aktuelle Krise des Islam; Deutschlands höchstrangiger Imam schiitischer Konfession ist 2013 verstorben. Implizit heißt dies, dass zum einen kritische Überlegungen zum Koran und zum Propheten Mohammed in islamischen Ländern für die Urheber sehr gefährlich sein können. Und zum anderen, dass reformerische Denkanstöße gerne aus Kontakt und in Reibung mit anderen Religionen und Kulturen erwachsen.
Könnte also der - nicht nur von Nichtmuslimen drängend geforderte - Ruck durch den Islam von Europa oder gar von Deutschland aus gehen? Und könnten nicht Martin Luthers Vorbild und seine Reformation dem Islam den Weg in eine eigenständig-religiöse, zugleich aber europa-kompatible Zukunft weisen?
Immer wieder wird auch unter sunnitischen wie schiitischen Muslimen der Ruf nach einem "muslimischen Luther", einem "protestantischen Islam" oder gar einem "aufgeklärten Islam" laut. Es werden sogar Namen von Protagonisten genannt. Um sie soll es im Folgenden gehen, nicht um christliche Positionen und auch nicht um Luthers Bewertung des Korans und der Türken.
Das Vorbild Martin Luther erschöpft sich meist in der anachronistischen Erwartung eines durchsetzungsfähigen, charismatischen Reformators, der verkrustete Traditionen aufzubrechen und starren Rechtsgelehrten Paroli zu bieten vermag. So könne man erhoffen, dass er den Islam aus dem einengenden Scharia-Panzer befreit und den Lebenswirklichkeiten einer überwiegend säkularen, pluralistischen offenen Gesellschaft mit Grundgesetz und inkorporierten Menschenrechten gerecht wird. Vorrangig dreht es sich dabei um positive wie negative Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau und den Umgang mit Homosexuellen.
Gelegentlich herrscht ein Begriffschaos, wenn es um "Aufklärung" oder "Reform-Islam" geht. Manche Medien übernehmen beispielsweise unhinterfragt die Selbstbezeichnung der sektiererischen Ahmadiyya Muslim Jamaat als Reform-Bewegung. Jedoch versteht sie - und keineswegs sie alleine - unter "Reform" eine rückwärtsgewandte Utopie, nämlich die Rückkehr zu den Ursprüngen des Islam. Die Ahmadis sind nicht militant, aber erzreaktionär mit strikter Geschlechtertrennung und weit entfernt von jeglicher innovativen Reformation.
Der orthodoxe Islam kennt weder eine allgemein-verbindliche autoritative Lehrinstanz, weder einen ordinierten Klerus noch Sakramente. Aber wie andere Religionen bedarf er transzendenter Bezüge. Der heilige Koran ist als authentisches Wort Gottes das einzige Bindemittel zwischen Gott und Mensch. Er ist deshalb als wirkmächtiger Leiter und Lenker seiner Gemeinde, der mythischen Umma, von allumfassender Bedeutung. Am Koran hat sich jeder und alles zu orientieren, jetzt und für alle Zeit.
Der Koran - die Schrift aus dem siebten Jahrhundert -, muss demnach auch die Basis für alle heutigen Reformen bilden, die den Islam gestärkt in jene neue Zeit führen sollen und die von Muslimen gern als "das Jahrtausend des Islam" verstanden wird.
Der Koran ist kein in sich geschlossenes Werk, enthält Widersprüche und auch für Gelehrte unerklärbare sowie hochproblematische Stellen, die es zu entkräften gilt, will man nicht mit ihnen etwa den Dschihad legitimieren. Entsprechende Bemühungen erfolgen oft auf Umwegen, über Schönfärbungen und teils unter Vermeidung konsequenter wissenschaftlich-kritischer Methodik.
Eine Auswahl von Erklärungsversuchen:
Die kritischen Verse werden schlicht ignoriert, und nur die positiven herangezogen.
Verse werden aus dem Zusammenhang gelöst und erhalten dadurch einen anderen Sinn. (Tötungsverbot Sure 5:32)
Es wird nur ein Teil eines Verses zitiert, obwohl immer der Koranvers in Gänze angegeben werden muss. (Sure 5:83)
Nach einer Übersetzung feministischer Variante sollen sich Ehemänner nach Stress mit ihren aufmüpfigen Frauen "eine Zeitlang zurückziehen", bis sich die Lage beruhigt hat. Durchgängig findet sich statt "zurückziehen" in islamischen Koranübersetzungen das Wort "schlagen"(Sure 4:34). Oder: das geforderte "Tuch auf dem Ausschnitt" wird nur in der Koranausgabe des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) zum "Kopftuch", das nunmehr als koranische Bekleidungsvorschrift ausgewiesen ist (Sure 24:31).
Es wird unterschieden zwischen Texten, die situativ an die Urgemeinde gerichtet waren, und solchen, die ewig-gültig sind wie das rituelle Gebet oder das Fasten im Ramadan.
Aus der historisch-kritischen Perspektive folgern Gelehrte, dass der weitaus größte Teil der Offenbarungen des Korans übergeordnet-richtungsweisend ist. So mag zum Beispiel Krieg unter bestimmten Voraussetzungen unerlässlich, Frieden jedoch aufgrund anderer Verse stets vorzuziehen sein. Diese Sicht lässt fast beliebige Erweiterungen zu.
Der Koran bleibt Gottes unveränderliches Wort, aber die teils strengen Überlieferungen der als normativ angesehenen Aussprüche und Taten des Propheten müssen erst auf ihre eventuelle Echtheit hin untersucht und gegebenenfalls ausgesondert werden.
An hiesigen Universitäten lehren oder lehrten muslimische Gelehrte mit diesen oder vergleichbaren Reform-Ansätzen: zum Beispiel Bassam Tibi mit seiner Vision von einem aufgeklärten Euro-Islam sowie die Islam-Theologen Mouhanad Khorchide, der mit der Theorie von der Barmherzigkeit Gottes die problematischen Koranstellen zudeckt, Ömer Özsoy mit der Trennung zwischen Offenbarung an die erste Gemeinde und Trendsettern für spätere Zeiten und Abdel-Hakim Ourghi ebenfalls aus historischer und humanistischer Sicht. Khorchide in Münster und Ourghi in Freiburg haben die volle Ablehnung der bestenfalls konservativ zu nennenden scharia-treuen Islam-Verbände zu spüren bekommen. Ausgerechnet von ihnen erwartet unsere hilflos agierende Regierung, dass sie kraft des ihnen gewährten Einflusses auf Theologen- und Lehrerausbildung den Islam modernisieren und gesellschaftskompatibel formen.
Der Islam hat auch nicht die Aufklärung kennengelernt, beklagen insbesondere westlich orientierte Modernisten. "Falsch", setzen muslimische Gelehrte dem entgegen. Sie argumentieren entweder damit, dass der Islam derartige Entwicklungen gar nicht nötig habe oder aber dass er sie bereits durchgemacht hat, zum Beispiel als die zeitweise wiederbelebte vernunftgelenkte Schule der Mu'tazila mit theologischer Streitkultur Ende neuntes bis Mitte elftes Jahrhundert in Basra und Bagdad tonangebend war.
Allerdings lehnen viele muslimische Theologen die Aufklärung grundsätzlich ab, weil diese die Säkularisierung eingeleitet und somit zum Niedergang von Religion beigetragen habe, wie man unschwer am Christentum nachvollziehen könne.
Um auf die Frage einzugehen, ob ein reformierter Islam mit der christlichen Wertewelt in Einklang zu bringen wäre, die ja einen reformierten Islam als Faktum voraussetzt, möchte ich zunächst zu bedenken geben, dass jede noch so gut gemeinte Einmischung von staatlicher oder kirchlicher Seite als Entwicklungshelfer in Sachen Religion nicht zielführend sein kann.
Auch impliziert diese Frage die Vorstellung, der Islam habe keine eigenen Werte zu bieten; dem ist selbstverständlich nicht so.
Wenn wir auf eine Reformation hoffen, die einen aufgeklärten Islam, vielleicht einen "Euro-Islam", hervorbringt, lassen wir außer Acht, dass die Religion nur einen Sektor in der Wahrnehmung von Pflichten und Aufgaben im Zusammenleben verkörpert und dass dieser allzu leicht überbewertet wird.
Die gesellschaftliche Gemeinsamkeit kann nur auf der Anerkennung des Grundgesetzes und seiner universellen Werte, die über jedweder religiöser Norm stehen müssen, zustande kommen. Deren Bedeutung muss schon den Kindern in der Schule vermittelt werden. Eine Reformation von durchschlagender Kraft ist weder in Deutschland noch in Europa in Sicht und meiner Ansicht nach auch (noch?) nicht zu erwarten, und es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass aus der vorsichtigen Öffnung in absehbarer Zeit eine islamische Neuorientierung erwächst.
Es wäre schön, wenn mich die selbstbewusste, kreative muslimische Jugend eines Tages widerlegte; sie wäre für Reformen oder gar eine Reformation von unten wohl die einzige Chance.
Ursula Spuler-Stegemann
- Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann kam am 7. Juni 1939 in Mannheim auf die Welt. Ihr Abitur machte sie am Karl-Friedrich-Gymnasium. Danach studierte sie Islamwissenschaft, Germanistik, Religionswissenschaft, Turkologie und Semitistik, unter anderem in Los Angeles und Istanbul. Sie promovierte in Bonn.
- Ihre Tätigkeit im Bundeskanzleramt beendete sie als Regierungsdirektorin, weil sie der Liebe wegen nach Marburg zog. Sie lehrte dort – seit 1995 als Professorin – an der Philipps-Universität Türkisch sowie Islam- und Religionswissenschaft.
- Zudem war sie in der Gremienarbeit tätig und als Gutachterin für Landesregierungen und Gerichte; dazu kommen ehrenamtliche Tätigkeiten.
- Ursula Spuler-Stegemann hat zahlreiche Schriften mit dem Schwerpunkt Islam und Islam in Deutschland veröffentlicht. Zuletzt erschien ihr Buch „Die 101 wichtigsten Fragen zum Islam“ beim C.H.Beck-Verlag München in der aktualisierten und erweiterten Auflage.
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