Ein Septembermorgen um 8 Uhr: Die Parkleiterin öffnet das Tor des essbaren Wildpflanzen Parks (kurz EWILPA) und begrüßt die ersten Sammler, die nach frischen Kräutern, Salat und Gemüse Ausschau halten. Die Leiterin informiert, dass nun auch die Saison der essbaren Ebereschen und Aroniabeeren begonnen hat und wo diese zu finden sind. Gegen 9 Uhr erwartet sie eine Schulklasse, darauf bereitet sie die Lehrküche vor. Sie wird den Kindern im Park die beiden Wildfrüchte aus der Familie der Rosengewächse erklären, Beeren mit ihnen sammeln und diese gemeinsam zu einem rohköstlichen Fruchtaufstrich verarbeiten. Dieser wird dann gleich auf frischen Dinkelbrötchen zu einem heißen Kräutertee genossen – Küchenpraxis, Gesundheitsvorsorge und Naturpädagogik in einem. Danach steht sie den Sammlern und Spaziergängern für Fragen zur Verfügung und bereitet einen nachmittäglichen Arbeitseinsatz von freiwilligen Helfern vor. So könnte der Tag in einem essbaren Wildpflanzen Park aussehen – vielleicht sogar in einem Mannheimer Stadtteil.
„Ich plädiere daher für die (Re-)Integration der Wildpflanzen in unsere Alltagskultur.“
Heute sind rund 50 Prozent der Fläche Deutschlands landwirtschaftliche Nutzfläche. Wer mit dem Auto oder Zug durchs Land fährt, kann leicht erkennen: Hier dominieren drei Nutzpflanzen – Weizen, Mais und Raps. Die Anbauflächen der Agrarindustrie werden immer größer, die Landschaft immer öder. Der Einsatz an Kapital und Chemie ist hoch, während Wildpflanzen, Insekten sowie Singvögel verschwinden und Böden und Trinkwasser leiden.
Im Rahmen einer heute üblichen Bilanz mag diese Art Landwirtschaft kurzfristig rentabel sein, doch wer auch nur etwas über den Tellerrand hinaus blickt, kann leicht erkennen, dass diese Rechnung nie aufgehen kann. Hier wird Substanz vernichtet, es handelt sich um Raubbau. Ich plädiere daher für die (Re-)Integration der essbaren Wildpflanzen in unsere Alltagskultur. Seit Anbeginn der Menschheit vor mehr als zwei Millionen Jahren bildeten essbare Wildpflanzen unsere Lebensgrundlage. Erst mit der Einführung der Landwirtschaft vor etwa 7800 Jahren – und vor allem im Zuge der industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts – ging das altbewährte Erfahrungswissen fast gänzlich verloren. Heute wird uns in zunehmender Weise ein Verlust an Lebensqualität bewusst.
Deshalb gründete ich vor drei Jahren die als gemeinnützig anerkannte Stiftung Essbare Wildpflanzen Parks. Die Vision: Möglichst siedlungsnah werden mit einheimischen essbaren Bäumen, Sträuchern, Stauden und Kräutern Landschaftsparks angelegt. Hier kann sich jeder mit wilden Lebensmitteln selbst versorgen. Darüber hinaus verstehen sich solche Parks auch als Bildungsstätte und sozialer Treffpunkt. Hier kann das sichere Erkennen der Wildpflanzen und deren Zubereitung von fachkundigen Beratern erlernt werden. Die essbaren Wildpflanzenparks stehen für alle offen und dienen damit – in Anlehnung an den mittelalterlichen Allmende-Gedanken – auch dem sozialen Ausgleich.
In einem solchen Park fühlen sich jedoch nicht nur Menschen wohl: Auch Insekten, Kleinsäuger, Amphibien, Reptilien und Vögel finden hier Unterschlupf und reichlich Nahrung. Die Böden können sich regenerieren und die Neubildung von sauberem Trinkwasser kann ungestört stattfinden.
„Der Genuss dieser Pflanzen verursacht keine langen Transportwege und weder Verpackung noch Müll.“
Das EWILPA-Prinzip lautet: mit der Kraft der Natur arbeiten. Essbare Wildpflanzen bieten uns das ganze Jahr über eine gesunde und schmackhafte Bereicherung des Speiseplans: Im Frühjahr finden wir von März bis Juni viele würzige Kräuter und schmackhafte Wildgemüse in Hülle und Fülle – dann ist grüne Hochsaison! Im Juni und Juli sind die Konzentrationen an Duftstoffen und ätherischen Ölen besonders hoch – es ist die Zeit der duftenden Blüten und Kräuter zur Herstellung von Tees, Sirupe und Limonaden. Im Sommer bieten besonders die ein- und zweijährigen Ackerbegleitkräuter wie Melde, Gänsedistel, Malve, Nachtkerze und Franzosenkraut reichlich Nahrung.
Im Spätsommer und Herbst lockt alles gleichzeitig: Wildfrüchte wie Hagebutten, Kornelkirschen und Ebereschen, Esskastanien, Nüsse und Wurzelgemüse. Auch die Kräuter erleben nach der sommerlichen Hitze und Trockenheit ihre zweite Saison. Dies ist die Gelegenheit, Vorräte für die Wintermonate anzulegen, in denen schließlich nur noch verhältnismäßig wenige, immergrüne Stauden frisches Grün anbieten.
Wildpflanzen wachsen ohne menschliches Zutun – sie werden uns von der Natur einfach geschenkt. Heute sind essbare Wildpflanzen die ehrlichsten Lebensmittel, da sie ohne Züchtung, ohne Gentechnik, ohne Dünger und ohne Agrarchemie gedeihen. Der Genuss selbst gesammelter essbarer Wildpflanzen verursacht darum auch keine langen Transportwege und weder Verpackung noch Müll. Essbare Wildpflanzen sind zudem garantiert frisch, immer regional und saisonal. Wildpflanzen müssen sich ohne die schützende Hand eines Gärtners oder Bauers, somit alleine auf sich gestellt an ihrem Standort gegen Wind und Wetter, die Konkurrenz anderer Pflanzen und eventuelle Fressfeinde aus dem Tierreich behaupten. Ergebnis dieses Prozesses ist eine im Vergleich zu unseren Kulturgemüsen unglaubliche Vitalität und Widerstandskraft.
Im Vergleich mit Kultursorten enthalten essbare Wildpflanzen ein Vielfaches an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen. Zudem halten sie wertvolle sekundäre Pflanzenstoffe wie ätherische Öle, Bitterstoffe und Antioxidantien für uns bereit. Wildes Gemüse, Kräuter, Blüten, Salate, Beeren, Früchte und Nüsse sind eine kulinarische Bereicherung und die artgerechte Grundlage für eine gesunde Ernährung.
Um die wertvolle Ressource essbare Wildpflanzen für die breite Bevölkerung zugänglich zu machen, brauchen wir eine Art Filialnetz dieser Parks. In diesen können genügend wilde Lebensmittel heranwachsen und die Bildungsarbeit in Form von Führungen, Vorträgen und Workshops von fachkundigen Menschen geleistet werden. Träger der Parks vor Ort können sowohl Städte und Gemeinden als auch Unternehmen, Stiftungen oder Vereine sein, die in Zusammenarbeit mit der Stiftung das jeweilige Parkprojekt planen und realisieren. Den ersten essbaren Wildpflanzen Park konnte ich am 16. Juni 2018 in dem oberpfälzischen Ort Kemnath-Waldeck eröffnen. Träger ist hier die Stadt Kemnath. Weitere Pilotprojekte im Allgäu sowie im baden-württembergischen Epfendorf bei Rottweil werden gerade fertiggestellt. Veranschlagt man für einen Park von zwei bis drei Hektar Größe Entstehungskosten von etwa 200 000 Euro, so ergibt sich für die angestrebten 4000 EWILPAs ein Investitionsvolumen von 800 Millionen Euro. Im Vergleich zu den Kosten des deutschen Afghanistan-Einsatzes (bisher 17 Milliarden Euro) oder der Billionen Euro schweren Bankenrettung seit 2008 ein verschwindend kleiner Betrag.
„Das Insektensterben wäre aufgehalten, die Luft sauberer, die Landschaft schöner – und die Menschen glücklicher.“
Sicher ist hingegen: Würde es uns gelingen, artgerechte Lebensmittel wieder vermehrt auf die Teller zu bringen, so würden die Ausgaben der Krankenkassen für die Behandlung von Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Osteoporose und Bluthochdruck stark sinken.
Außerdem wäre das Insektensterben aufgehalten, die Stadtluft sauberer, die Landschaft schöner – und die Menschen glücklicher.
Markus Strauss
Markus Strauß ist Autor, Berater und Dozent. Er ist Experte für essbare Wildpflanzen und Selbstversorgung.
Er studierte Geografie, Geologie sowie Biologie in Heidelberg und promovierte über den ökologischen Teeanbau im Himalaya. Auf einem Hof im Südharz führte er jahrelang ein autarkes und naturnahes Leben.
Mit seinem Buch „Artgerecht. 13 Thesen zur Zukunft des Homo Sapiens“ (Kosmos, 2018) will er Wege aus der Krise der modernen Gesellschaft weisen.
Bild: Bernd Schönfelder
Info: Mehr unter www.ewilpa.net und www.dr-strauss.net
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-brauchen-wir-eine-neue-esskultur-herr-strauss-_arid,1285604.html