Brauchen wir eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder, Herr Huhn?

Immer mehr Menschen steigen um auf den Sattel. Mit zunehmendem Radverkehr brauchen wir aber keine Forderungen nach Sanktionen, die uns nur das Leben erschweren, meint Roland Huhn vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. Ein Gastbeitrag.

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Roland Huhn
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Bei Autos besteht Konsens, dass sie einer Kennzeichenpflicht unterliegen müssen. Doch wie ist das bei Fahrrädern, deren Zahl gerade in den Städten immer mehr steigt?

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Die Frage nach einer Kennzeichenpflicht für Fahrräder wird seit Jahrzehnten immer wieder gestellt. Dass solche Pflicht-Kennzeichen dennoch nicht eingeführt wurden, hat eine ganze Reihe von technischen, rechtlichen und rein praktischen Gründen. Es gibt über 70 Millionen Fahrräder in Deutschland. Ein Nummernschild für alle diese Fahrräder würde einen riesigen und unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand erfordern. Man müsste dafür neben jedes der rund 400 Straßenverkehrsämter in Deutschland noch ein zweites für die Fahrrad-Zulassung stellen. Bei jedem Verkauf eines Gebrauchtrads müsste der Halterwechsel gemeldet werden. Hinzu kämen die entsprechenden Fahrzeugpapiere.

Wer mehrere Fahrräder hat, würde vielleicht gern ein Wechselkennzeichen beantragen, das es für Kraftfahrzeuge schon seit 2012 gibt. Nur: Wie bringt man Wechsel- oder auch Dauerkennzeichen diebstahlsicher am Fahrrad an?

Die Warteschlangen auf der Zulassungsstelle sind schon jetzt unerträglich lang. Nicht wenige Fahrradbesitzer würden diesen Aufwand scheuen und kein Kennzeichen beantragen, vor allem die, die nur selten Rad fahren. Sie dürften dann ihr Rad gar nicht mehr benutzen, auch nicht für spontane Fahrten. Der Vorteil des Fahrrads ist aber gerade, dass es für jedermann leicht und ohne Hindernisse zu benutzen ist.

Bund, Länder und Gemeinden tun viel dafür, das Radfahren zu fördern. Eine Kennzeichenpflicht wäre ein zusätzliches Hindernis und brächte wenig Nutzen und viel Aufwand mit sich. Auch der ADFC spricht sich klar gegen Maßnahmen aus, die das Radfahren unnötig erschweren.

Wenn ein Radfahrer als Beteiligter eines Verkehrsunfalls oder als Täter einer Verkehrsordnungswidrigkeit ermittelt werden soll, hilft ein Fahrzeugkennzeichen nur begrenzt. Mit dem abgelesenen Kennzeichen steht fest, dass das Fahrzeug am Tatort war, aber nicht, wer es gefahren hat. Dieser Nachweis muss für eine Bestrafung zweifelsfrei geführt werden. Daran scheitern häufig auch "Kennzeichenanzeigen" gegen Autofahrer, die Verfahren werden eingestellt. Wenn die Polizei den Fahrer dingfest machen will, helfen nur Kontrollen mit Personal vor Ort - und dann ist das Kennzeichen am Fahrrad irrelevant.

Für die Unfallfolgen beim Kraftfahrzeug haftet nicht nur der vielleicht unbekannte Fahrer, sondern auch der durch das Kennzeichen feststehende Halter. Für Nicht-Kraftfahrzeuge wie das Fahrrad ist keine Halterhaftung vorgesehen. Für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen würde die Halterfeststellung durch das Nummernschild noch nicht ausreichen, zusätzlich müssten die Personalien des Fahrers ermittelt werden.

Ein Kennzeichen auf einem Fahrrad wäre ziemlich klein - nicht größer als ein Mofa-Versicherungskennzeichen. Damit wäre es als Vorsorge gegen unerlaubtes Entfernen vom Unfallort weitgehend unbrauchbar - weil auf die Schnelle häufig nicht ablesbar.

Das gelegentlich als Beispiel angeführte Schweizer Fahrrad-Nummernschild war zuletzt nur noch ein Aufkleber, diente allein dem Nachweis der Haftpflichtversicherung und erlaubte keinen Rückschluss auf den Eigentümer des Velos. Schweizer Radfahrer kauften die obligatorische "Vignette" auf dem Postamt oder im Supermarkt, ohne ihren Namen anzugeben.

Im Jahr 2012 haben die Eidgenossen die Kennzeichenpflicht und auch die Zwangs-Haftpflichtversicherung für Fahrräder dann abgeschafft.

Von der Überwachungsmöglichkeit, die Fahrzeugkennzeichen theoretisch bieten, darf man sich ohnehin nicht zu viel versprechen. Rund 80 000 Fälle von Tankbetrug ereignen sich jedes Jahr in Deutschland, obwohl Tankstellen umfassend mit Videokameras ausgestattet sind und die Kennzeichen der Autos erfassen, mit denen die Täter ohne zu zahlen davonfahren. Hier bewirkt die Kennzeichenpflicht nicht einmal eine Abschreckung vor geplanten, vorsätzlichen Straftaten. Von den hunderttausenden spontanen Straftaten von Kraftfahrzeugfahrern ganz zu schweigen.

Von einem Verkehrsunfall sind Radfahrer in erster Linie selbst betroffen. Nach einer Kollision werden sie oft erst einmal auf der Fahrbahn liegen, ohne Möglichkeit, spontan das Weite zu suchen. 2015 waren an 78 341 Fahrradunfällen mit Personenschäden 83 333 verunglückte Verkehrsteilnehmer beteiligt. Das heißt: Nur bei einem von 15 Fahrradunfällen verunglückte ein weiterer Beteiligter. Als ungeschützte Verkehrsteilnehmer sind Radfahrer regelmäßig auch die schwerer verletzten Unfallbeteiligten und damit vor allem Opfer.

Für 2013 gibt es eine aufschlussreiche Auswertung des Statistischen Bundesamts. In dem Jahr wurden im Straßenverkehr 64 000 Menschen schwer verletzt, davon 13 200 als Radfahrer. Kein einziger Pkw- oder Lkw-Fahrer starb 2013 bei einem Unfall mit einem Radfahrer. 23 Pkw- oder Lkw-Fahrer wurden 2013 bei einem Unfall mit einem Radfahrer schwerverletzt. In dieser geringen Zahl sind 18 Unfälle enthalten, bei denen die Kraftfahrzeugführer Hauptverursacher waren. Es bleiben fünf schwerverletzte Pkw-Insassen durch Unfälle, die Radfahrer verursacht haben.

Im Ergebnis sind Radfahrer je nach Berechnungsgrundlage nur zu einem Drittel oder Viertel Hauptverursacher von Verkehrsunfällen. So schreibt Destatis in seiner Unfallbilanz 2014: "Unfälle, an denen Radfahrer beteiligt waren, waren überwiegend auf Regelverstöße anderer Verkehrsteilnehmer zurückzuführen."

Es stimmt nicht, dass Radfahrer überdurchschnittlich oft Unfallflucht begehen, im Gegenteil. Nach Unfällen mit Verletzten beträgt der Anteil der unfallflüchtigen Fußgänger 2,3 Prozent, der Radfahrer 3,2 Prozent und der Pkw-Fahrer 4,6 Prozent. Unfallflucht von Autofahrern nach Sachschäden (Parkrempler, Rückspiegel abgefahren) ist noch wesentlich häufiger.

Die Polizei schätzt diesen Anteil auf bis zu 20 Prozent und die Zahl auf 500 000 im Jahr - alle begangen mit Fahrzeugen, die vorn und hinten große, gut sichtbare Kennzeichen tragen. Die Unfallflucht-Quote ist bei Radfahrern kaum höher als bei Fußgängern, denen hoffentlich niemand ein Kennzeichen verordnen will.

In Deutschland haben mittlerweile 85 Prozent aller Haushalte eine Privathaftpflichtversicherung, die auch für Schäden Dritter durch einen Fahrradunfall aufkommt. Ein Versicherungszwang, um auch diese letzten 15 Prozent abzudecken, wäre unverhältnismäßig. Vom Vorbild der Schweiz, die vor fünf Jahren zusammen mit der Velo-Vignette die Pflichtversicherung abgeschafft hat, war schon die Rede.

Auf Deutschlands Straßen sind übrigens immer noch - trotz aller Bemühungen der Zulassungsstellen, die gesetzliche Versicherungspflicht lückenlos durchzusetzen -, nach Schätzungen mehrere hunderttausend unversicherte Kraftfahrzeuge unterwegs.

Denkbar wäre es, den Entschädigungsfonds für die Opfer von Unfällen mit unversicherten oder unfallflüchtigen Kfz-Führern auf Fahrradunfälle auszuweiten. Diese "Verkehrsopferhilfe" wird auf gesetzlicher Grundlage aus Beiträgen zur Kfz-Haftpflicht finanziert. Für die wenigen Fahrradunfälle mit besonders schweren Folgen käme ein staatlicher Ausgleichsfonds in Betracht - als Beitrag zur Radverkehrsförderung.

Roland Huhn

Roland Huhn, Jahrgang 1957, arbeitete zunächst als Rechtsanwalt.

Seit 2014 ist er Rechtsreferent im Bundesverband des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC).

Der Jurist hat über 50 Jahre Erfahrung als Alltagsradfahrer - unter anderem im Ruhrgebiet, in Münster, Bremen und Berlin. ble

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