Brauchen wir eine Europäische Armee, Frau Kellner?

Krisen und Kriege lassen die Rufe nach einer gemeinsamen Sicherheitspolitik der Mitgliedsstaaten lauter werden. Zu Recht, sagt Anna Maria Kellner: Die EU ist eine Friedensmacht, die sich verteidigen können muss. Ein Gastbeitrag.

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Anna Maria Kellner
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Eine Armee für Europa? In einer immer gefährlicheren Welt wird Sicherheitspolitik nunmehr als Verteidigungspolitik verstanden. Die Folge: Militärischen Fähigkeiten kommt wieder größere Bedeutung zu.

© DPA/FES

Zunächst brauchen wir mehr europäische Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir brauchen europäische Streitkräfte, die gemeinsam, koordiniert und effizient planen, beschaffen und üben. Streitkräfte, die in der Lage sind, gemeinsam in den Einsatz zu gehen, wenn zivile Mittel ausgeschöpft sind oder nur unter militärischer Begleitung überhaupt eingesetzt werden können. Wir brauchen eine gemeinsame, europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in der Lage ist, autonom zu handeln, wo es nötig ist und die den europäischen Pfeiler in der NATO angesichts der neuen Bedrohungen signifikant verstärkt.

Diesen Weg muss die Europäische Union gehen, wenn sie ihr Gründungsversprechen von Frieden und Freiheit dauerhaft einlösen will - und sie hat ihn im Sommer 2016 mit der Verabschiedung der Globalen Strategie und ihrer Folgedokumente auch beschritten.

Für diese Entwicklung ist die Idee einer Europäischen Verteidigungsunion prägend: Sie umschreibt das Ziel der verstärkten Zusammenarbeit und Koordinierung im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ohne dabei eine spätere Integration der europäischen Streitkräfte in eine gemeinsame Armee auszuschließen.

Die Wahl des Begriffs hat sich als politisch klug erwiesen: Wo die Idee einer "Europäische Armee" vielerorts noch reflexhafte Abwehr hervorruft, weil sie Sorgen vor einer Schwächung der NATO schürt, konnten unter der Marke "Europäische Verteidigungsunion" erstaunliche politische Fortschritte erzielt werden.

Die in diesem Sommer vereinbarten Meilensteine - die Schaffung eines zivil-militärischen Hauptquartiers zur Planung und Führung von EU-Missionen, die Reform der EU-Kampfgruppen, die Implementierung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit und die Auflage eines gemeinsamen Europäischen Verteidigungsfonds - können sich eines Tages als Fundament für eine genuin europäische Armee erweisen. In jedem Fall aber sind sie schon heute eine angemessene Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten konfrontiert sehen.

Selbstverständlich gilt auch weiterhin das Primat des Zivilen - die EU ist und bleibt eine Friedensmacht! Aber ohne einen robusten sicherheits- und verteidigungspolitischen Arm - als Teil ihres vernetzten Ansatzes - kann die Europäische Union weder die Sicherheit ihrer eigenen Staatsbürger garantieren noch effektiv den Frieden und die Entwicklung in ihrer Nachbarschaft fördern.

Dieses Streben nach mehr Gemeinsamkeit, mehr Leistungsfähigkeit und damit auch nach mehr Autonomie ist übrigens keineswegs eine Absage an die NATO - auch wenn das von Manchem gelegentlich behauptet wird. Es spiegelt vielmehr die Erkenntnis, dass die europäische politische Mehrheit in der NATO auch mit entsprechenden militärischen Fähigkeiten unterfüttert werden muss. Nur so können europäische Interessen auf Augenhöhe mit den großen Truppenstellern auf der anderen Seite des Atlantiks verhandelt werden.

Wenn die Europäer nicht zu einer faireren Lastenteilung in der NATO bereit sind, werden sie mittelfristig an politischem Einfluss im transatlantischen Bündnis verlieren und langfristig die Existenz der NATO gänzlich aufs Spiel setzen. Beides kann - heute mehr denn je - niemand wollen. Die "Kleinstaaterei" der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss überwunden werden, damit die Stimme der Europäer auch weiterhin Gehör findet und die EU als außen- und sicherheitspolitischer Akteur relevant und einflussreich bleibt.

Das wissen auch die EU-Mitgliedstaaten. Wie dramatisch sich das Sicherheitsempfinden und die Bedrohungsanalysen in den letzten Jahren verändert haben, lässt sich nicht zuletzt an der Entwicklung der Verteidigungsausgaben ablesen: Nicht weniger als 17 von 27 verbleibenden EU-Mitgliedstaaten haben seit 2014 - dem Jahr der Krim-Annexion - ihre Haushalte signifikant erhöht und die Aufstockung und Modernisierung ihrer Streitkräfte in die Wege geleitet. In den übrigen Staaten wird die Trendwende vorbereitet oder der Sinkflug der Ausgaben zumindest beendet.

Vor allem die Rückkehr der Territorialverteidigung in die Streitkräfteplanung lässt die Tragweite der Umbrüche in unserem sicherheitspolitischen Umfeld erahnen. Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen militärische Konflikte auf europäischem Boden noch in die Geschichtsbücher zu gehören - und Fähigkeiten zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung zunehmend überflüssig. In der Folge haben die Mitgliedstaaten ihre Streitkräfte sukzessive an neue Herausforderungen angepasst, verkleinert, spezialisiert und flexibilisiert.

Angesichts der Rückkehr der Geopolitik auf europäischen Boden und eines erheblichen Bedrohungsgefühls gerade im Osten der EU werden nun vernachlässigte Fähigkeiten, veraltetes Material und geschrumpfte Streitkräfte mühsam wieder auf das Ziel der Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet. Dies stellt alle Mitgliedstaaten vor erhebliche Herausforderungen und schärft EU-weit das Bewusstsein dafür, dass kein Land mehr alleine in der Lage ist, seine sicherheits- und verteidigungspolitischen Interessen durchzusetzen. Dies gilt nicht nur für die kleineren Mitgliedstaaten, sondern auch für vergleichsweise große Länder wie Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen.

Diese Erkenntnis spiegelt sich nicht nur in der gewachsenen Zahl multilateraler Kooperations- und Integrationsprojekte (zum Beispiel in der deutsch-niederländischen Zusammenarbeit), sondern auch in der gestiegenen Bereitschaft, politisch in die gemeinsame Sicherheit und Verteidigung zu investieren.

Alle EU-Mitgliedstaaten wünschen sich nicht nur ausdrücklich mehr Kooperation im Rüstungsbereich. Sie bereiten auch bereits konkrete Pilotprojekte für die jahrelang von den Briten verhinderte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) vor, die besonders ambitionierten EU-Mitgliedstaaten eine engere Zusammenarbeit ab 2018 ermöglichen soll.

Die Brüsseler Institutionen haben in den vergangenen Monaten ihre Leistungs- und Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Es ist nun an den Mitgliedstaaten, die Beschlüsse mit Leben zu füllen und zu einer Erfolgsgeschichte zu machen - und da ist Zuversicht angebracht. Die Regierungen haben die Beschlüsse der letzten Monate aus der Überzeugung heraus mitgetragen, dass ein Mehr an Kooperation und Effizienz in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in ihrem ureigenen Interesse liegt.

Sie wissen sich dabei im Einklang mit ihren Bevölkerungen: 75 Prozent wünschen sich eine leistungsfähige gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und 55 Prozent sprechen sich sogar für die Schaffung einer Europäischen Armee aus (Quelle: Eurobarometer-Umfrage zum Thema Sicherheit und Verteidigung in der EU ).

Natürlich verstehen nicht alle das gleiche unter einer starken militärischen GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik), verfolgen nicht alle die gleichen Interessen. Aber die Frage ist doch: Suchen wir zunächst nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner und doktern dann im "Klein Klein" herum? Oder bringen wir erst konkrete und ambitionierte Projekte auf den Weg, erlauben, dass Gleichgesinnte stärker kooperieren und geben dem Projekt "robuste GSVP" eine Chance, sich zu beweisen?

Natürlich: Je stärker sich Projekte konkretisieren und je mehr die eingegangenen Kooperationen auch gegenseitige Abhängigkeiten erzeugen, umso mehr werden auch die Unterschiede der strategischen Ansätze, der außen- und sicherheitspolitischen Ziele und Prioritäten sowie der politischen Kulturen der Länder zutage treten. Die Diskussionen werden dann nicht einfach sein, aber sie werden einen Mehrwert bieten für die europäische Integration, für das außen- und sicherheitspolitische Gewicht einer EU und damit für unser aller Sicherheit und Freiheit.

Anna Maria Kellner

Anna Maria Kellner, 1981 in Hamburg geboren, ist Referentin für Europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Internationalen Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).

Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zu Russland und das transatlantische Verhältnis.

Sie war Leiterin des Landesbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Algerien und als Referentin für den Maghreb und die Mittelmeerunion für die Berliner Zentrale der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig.

Gemeinsam mit Dr. Hans-Peter Bartels und Dr. Uwe Optenhögel hat sie den Band "Strategische Autonomie und die Verteidigung Europas - Auf dem Weg zur Europäischen Armee?" im J. H. W. Dietz Nachf. Verlag in Bonn herausgegeben.

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